Der mächtige Grislybär — Mörder oder Opfer?
Steht der Grislybär zu Recht in dem Ruf, ein angriffswütiger Mörder zu sein? Folgendes Interview mit David Hamer, einem für die Universität Calgary (Alberta, Kanada) tätigen Forscher, der gegenwärtig im Nationalpark Waterton Lakes arbeitet, gibt über diese Frage Aufschluß.
Seit wann beschäftigen Sie sich so intensiv mit den Grislybären?
Seit 1971, nur in den Jahren 1974 und 1975 habe ich etwas anderes getan.
Wie gehen Sie dabei vor?
Hier im Waterton-Lakes-Nationalpark fingen die Parkwächter im Juni 1981 eine Grislybärin mit ihren Jungen ein; sie hängten ihr ein Halsband um, an dem ein Minisender befestigt war, und nannten sie Bertha. Im darauffolgenden Jahr gelang es den Parkwächtern, eine weitere Bärin, die aber keine Jungen hatte, einzufangen. Sie versahen sie ebenfalls mit einem Halsband und gaben ihr den Namen Ruby. Wir verfolgen die Wanderungen der beiden Tiere, indem wir ihre Funksignale auffangen.
Was ist der Zweck des Projekts?
Wir erforschen die Freßgewohnheiten der Grislybären, ihre Benutzung der Habitate und ihr Verhalten gegenüber den Menschen.
Wie verhält sich der Grislybär gegenüber den Menschen?
Unsere beiden Bären mit den Minisendern gehen den Menschen aus dem Weg oder ignorieren sie bis zu einem gewissen Grad. Ruby bleibt den Wegen und den Campingplätzen gewöhnlich fern. Bertha benutzt die Wege und durchstreift auch selten einmal die Campingplätze, läßt aber die Leute in Ruhe und macht sich an ihren Nahrungsvorräten oder an ihren Rucksäcken nicht zu schaffen. Das ist ihr hoch anzurechnen, denn Bären sind sonst furchtbar neugierige Tiere. Würde sie hingehen und die Rucksäcke untersuchen und riechen, daß etwas Eßbares darin ist, würde sie die Menschen sofort mit Nahrung in Verbindung bringen. Sobald ein Bär merkt, daß die Rucksäcke der Wanderer Futter bedeuten, bemächtigt er sich der Rucksäcke oder dringt auf der Suche nach den Nahrungsvorräten der Menschen in Campingplätze ein, und dann kann es zu Verletzungen kommen.
Der Bär sucht also Futter und hat gar nicht die Absicht anzugreifen?
Ja, wenigstens solche Bären, die wir als „Abfallbären“ bezeichnen. Wenn es gemäß den Parkvorschriften verboten ist, Wildtiere zu füttern, so geschieht das nicht, um den Besuchern den Spaß zu verderben, vielmehr dient es dem Schutz der Besucher und der Tiere. Werden Wildtiere gefüttert, so verlieren sie ihre Scheu vor den Menschen, und das kann Verletzungen zur Folge haben. Wenn Bären dahinterkommen, daß Menschen Futter bedeuten können, mögen sie die Leute und ihr Gepäck als potentielle Nahrungsquelle inspizieren. Zum Beispiel kommt es vor — allerdings sehr selten —, daß Bären in ein Zelt einbrechen oder zeltende Touristen aus ihrem Schlafsack zerren und als Nahrungsvorrat in den Wald schleppen.
Personen, die die Bären füttern, verurteilen sie somit zum Tode, denn die Parkwächter müssen solche Tiere dann möglicherweise töten, weil sie zu gefährlich sind.
Bei anderen Gelegenheiten mag ein Bär sich bedroht fühlen und entsprechend reagieren. Vielleicht ist ihm jemand zu nahe gekommen, weshalb er jetzt wütend ist. Oder es mag sich um eine Bärin mit Jungen handeln, und sie glaubt, ihre Jungen seien gefährdet.
Wie verhält man sich in der Wildnis, wenn man einem Grislybären begegnet und dieser einem gefährlich nahe kommt?
Ich möchte vorausschicken, daß die beste Vorsichtsmaßnahme darin besteht, dem Gesetz zu gehorchen, das das Füttern von Wildtieren, insbesondere von Bären, verbietet. Auch sollte man die Abfälle vorschriftsgemäß beseitigen. Vielleicht denkt jetzt der eine oder andere: „Ich werde sie vergraben.“ Doch später errichtet jemand sein Zelt an dieser Stelle; nun kommt ein Bär vorbei, riecht die vergrabenen Abfälle und beseitigt das Zelt mit einem Prankenhieb, um an die Abfälle heranzukommen. In dem Zelt mögen aber Touristen schlafen! Das ist tatsächlich in einem Naturpark in Britisch-Kolumbien passiert.
Doch nun zu Ihrer Frage — wie lautete sie doch gleich?
Wie sollte man sich verhalten, wenn man einem angriffslustigen Bären begegnet?
Ach so, ja ... ein angriffslustiger Bär. Wie sollte man sich einem solchen Tier gegenüber verhalten? Das hängt ganz von der Situation ab. Jeder Bär und jede Situation ist anders. Grob gesagt, gibt es zweierlei schwierige Situationen: Der Wanderer trifft einen angriffslustigen Bären, der aus irgendeinem Grund auf ihn wütend ist. Oder er begegnet einem Bären, der die Scheu vor den Menschen verloren hat und sie oder ihren Rucksack als eine Futterquelle betrachtet.
Sieht man einen Bären, so hat man die Möglichkeit, sich totzustellen. Darauf fällt der Bär zwar nicht immer herein, aber manchmal schon. Vielleicht ist er wütend, weil man ihm zu nahe gekommen ist. In einem solchen Fall wäre es ganz gut, sich totzustellen. Die Gefahr wird ausgeschaltet, indem man die Aufmerksamkeit des Tieres nicht mehr erregt, sich nicht mehr rührt.
Ich weiß von zwei Fischern, die einmal einem Grislybären zu nahe gekommen waren. Der eine stellte sich tot, der andere rannte davon. Diesem setzte der Bär nach mit einem Tempo von fast 50 Kilometern in der Stunde; er lief an dem Fischer, der sich totstellte, vorbei und verletzte den flüchtenden schwer.
Und wie muß man sich in der anderen von Ihnen erwähnten Situation verhalten?
Sich vor einem kecken, nach Futter suchenden Bären zu Boden zu werfen und sich totzustellen wäre, als würde man sagen: „Hier bin ich, friß mich!“ Natürlich wird der Bär untersuchen, ob sein Gegenüber etwas Eßbares ist. Bei einem Bären, der auf Nahrung aus ist, sollte man sich daher nicht totstellen. Wenn man einen Rucksack oder einen Beutel bei sich hat, wäre es besser, diesen auf den Boden zu legen und sich langsam zurückzuziehen.
Gelegentlich mag es sogar am besten sein, sich zu wehren — man wäre dem Bären natürlich nicht gewachsen, aber der Widerstand könnte die in ihm schlummernde Scheu vor dem Menschen wecken und ihn veranlassen, sich davonzutrollen.
Ich habe gelesen, daß es im Glacier-Nationalpark in Montana zu Zwischenfällen mit Grislybären gekommen ist — Touristen sind übel zugerichtet worden, die Bären haben ihnen einen Arm abgerissen, einige sind sogar getötet worden. Riskiert man in diesem Park am ehesten, von Grislybären angefallen zu werden?
Es ist dort tatsächlich zu Zwischenfällen gekommen, aber nur zu ganz wenigen. Solche Vorkommnisse sind jedoch sensationell und machen Schlagzeilen. Im Glacier-Nationalpark leben nicht nur ziemlich viele Grislybären, sondern dort sind auch immer viele Rucksackwanderer unterwegs. Dennoch ist die Zahl der Zwischenfälle sehr, sehr gering. Doch die Berichterstatter lassen sich verleiten, eine blutige Geschichte darüber zu schreiben, in der sie detailliert schildern, wie ein Grislybär über einen Menschen hergefallen ist und ihn zugerichtet hat.
Ist der Grislybär auf diese Weise in den Ruf gekommen, ein „Mörder“ zu sein?
Ja, durch sensationelle Presseberichte. Natürlich ist das ein blutiges Thema, aber das sind Verkehrsunfälle auch. Bei Verkehrsunfällen gibt es ebenfalls furchtbare Verstümmelungen, doch die Leute lesen nicht gern darüber, weil sie alle Auto fahren. Die Sensationsmeldungen über Angriffe von Grislybären dagegen verschlingen sie und glauben dann, daß hinter jedem Busch ein Bär auf sie lauere, bereit, über sie herzufallen.
Ein Wildhüter vom Glacier-Nationalpark analysierte vor kurzem die Todesfälle, die in dem Park seit seiner Errichtung zu verzeichnen waren. Ich glaube, es waren etwa 150. Drei Prozent davon gingen auf das Konto der Bären. Bei 49 Prozent handelte es sich um Tod durch Ertrinken und um Bergunfälle. Eine ziemlich große Zahl von Todesopfern forderten auch Autounfälle.
In den Vereinigten Staaten werden jedes Jahr 50 000 Personen bei Verkehrsunfällen getötet. Aber die Leute fahren trotzdem Auto, oder?
Ja, sie fahren dennoch, und viele wollen sich nicht einmal anschnallen.
Und das Rauchen?
Ja, das Rauchen. Verrät es nicht eine ganze Menge über die menschliche Natur? Zehntausende von Personen bringen sich selbst um, obschon sie es, wenn sie sich anders verhalten würden, verhindern könnten, und sie nehmen es noch für selbstverständlich. Wehe aber, wenn ein Grislybär einen Menschen tötet — das bringen die Zeitungen im ganzen Land in großen Schlagzeilen.
Eigentlich ist eher der Mensch der Mörder und der Grislybär das Opfer. Der Mensch ist schuld daran, daß der Grislybär jetzt zu den bedrohten Tierarten zählt. Er kann nicht überleben, wenn er keinen entsprechenden Lebensraum hat, aber der Mensch hat ihm nur wenige seiner einstigen Habitate übriggelassen.
Wie groß muß das Revier eines Grislybären sein?
Damit er genügend Nahrung findet, muß es ziemlich groß sein. Das eines Bärenmännchens kann über tausend Quadratkilometer umfassen, das eines Weibchens zwei- bis dreihundert Quadratkilometer. Der Grislybär ist ein eindrucksvolles Tier, allerdings sollte man ihn nur aus sicherer Entfernung bewundern, denn er ist unberechenbar. Grislybären verfügen über große Kräfte und sind furchteinflößend, doch ihre Jungen behandeln sie sehr liebevoll. Aber dadurch, daß die Touristen diese Tiere füttern, verlieren sie ihre natürliche Scheu vor den Menschen, und das wird dann beiden, Mensch und Tier, zum Verhängnis.
Was hat man über den Lebenszyklus der Bären erforscht: die Paarung, wie oft sie Junge haben, wie lange die Jungen bei der Mutter bleiben und andere interessante Dinge?
Die Grislybärin hat ihre Jungen — meist zwei, manchmal eins, manchmal auch drei — während der Winterruhe. Die Jungbären bleiben gewöhnlich den ersten und auch noch den zweiten Sommer bei der Mutter, aber im dritten Sommer schickt sie ihre Sprößlinge fort und paart sich wieder, so daß sie im vierten Sommer erneut Nachwuchs hat.
Während der Winterruhe nimmt sie keine Nahrung zu sich, trotzdem kann sie ihre Jungen etwa drei Monate lang säugen. Das ist an sich schon eine nicht unbedeutende physiologische Leistung, sie wird aber noch durch eine weitere Leistung bei weitem übertroffen: Die Bärin scheidet in der ganzen Zeit ihrer Winterruhe nichts aus, weder Urin noch Kot.
In der Mayo-Klinik hat man die chemische Beschaffenheit des Blutes und andere physiologische Eigenheiten des Winterruhe haltenden Schwarzbären studiert. Man fragte sich: Wenn der Bär etwa fünf Monate auskommt, ohne zu urinieren, und sich dabei im Blut keine giftigen Stickstoffverbindungen ansammeln, was müßte man tun, damit das bei Nierenpatienten ebenfalls möglich wäre?a
Über die Grislybärin gibt es aber noch etwas Bemerkenswertes zu berichten. Die Paarung findet im Mai, im Juni oder Anfang Juli statt, doch die Jungen werden erst im Januar oder Februar geboren. Die Tragzeit ist indessen bei weitem nicht so lang, denn das Junge einer etwa 180 Kilogramm schweren Grislybärin wiegt nur knapp ein Pfund, was für sie von großem Vorteil ist. Wie könnte eine hungernde Bärin ein Junges (oder gar zwei oder drei) säugen, das 15 Kilogramm schwer wäre? Deshalb ist ein neugeborenes Bärenjunges ganz klein und wiegt höchstens ein Pfund. Im vergangenen Frühling verließ Ruby übrigens die Höhle, in der sie Winterruhe gehalten hatte, mit nur einem Jungen.
Den physiologischen Mechanismus bei dem Weibchen, der bewirkt, daß seine Jungen so klein zur Welt kommen, obschon die Tragzeit anscheinend lang ist — sie kann von Juni bis Februar dauern —, nennt man verzögerte Nidation. Das befruchtete Ei bettet sich erst Ende November oder im Dezember in die Gebärmutterschleimhaut ein. Dann beginnt die eigentliche Tragzeit, die somit nur etwa zwei Monate umfaßt. Daher die winzigen Jungen.
Das ist wirklich erstaunlich! Noch etwas: Ich habe gehört, daß sich Grislybären zu etwa 95 Prozent von Pflanzen ernähren. Von was für Pflanzen?
Sie verlassen die Höhle im Frühjahr, wenn es noch nichts Grünes gibt, und graben nach Wurzeln und Knollen. Auch rupfen sie die Beeren vom Vorjahr ab — besonders die beerenartigen Steinfrüchte der Bärentraube. Der Zuckergehalt dieser Früchte verdoppelt sich im Winter, weil sie gefrieren und wieder auftauen; im Frühjahr enthalten sie das Doppelte an Zucker wie im Herbst. Und wenn das Gras sprießt, sieht man die Bären grasen wie ein Hirsch oder ein Wapiti — sie grasen und grasen und grasen.
Grasen?
Ja, sie fressen Gras, auch Riedgräser. Die Bären sind hauptsächlich auf das ganz junge Grün erpicht, das hervorsprießt, kaum ist der Schnee weggetaut. Sie halten sich nur an das ganz zarte Grün, denn sie haben keinen vierteiligen Magen, und ihnen fehlen die Bakterien und Protozoen der Wiederkäuer, so daß sie Zellulose (Hauptbestandteil der pflanzlichen Zellwände) verdauen könnten.
Im Waterton-Lakes-Nationalpark fressen die Bären auch Bärenklau (Herkuleskraut) und andere Doldenblütler, im Spätsommer jedoch buddeln sie wieder Wurzelknollen aus, und im Herbst sind Beeren ihre bevorzugte Nahrung.
Sind Ameisen oder Larven unter Steinen oder in faulenden Bäumen eine bedeutende Futterquelle?
Vermutlich spielen sie als Vitaminspender und als Quelle essentieller Aminosäuren und dergleichen eine wichtige Rolle, denn mengenmäßig fallen sie nicht ins Gewicht. Grislybären sagt man auch nach, daß sie Backenhörnchen und andere Erdhörnchen ausgraben.
Natürlich ist allgemein bekannt, daß die Bären sich gern an Beeren gütlich tun. Im Herbst fressen sie häufig Tag und Nacht Beeren. Der hohe Zuckergehalt der leckeren Früchte bewirkt, daß die Bären zunehmen, etwa ein Pfund oder mehr am Tag. Das ist ihre große Chance, Fett anzusetzen — manchmal eine bis 20 Zentimeter dicke Schicht —, von dem sie dann im Winter zehren können.
Wie schwer sind die größten Grislybären?
Der Bär ist im Durchschnitt doppelt so schwer wie die Bärin. Viele wiegen 250 bis 300 Kilogramm. Ende Oktober können die in den kanadischen Rocky Mountains heimischen Grislybären, wenn sie besonders groß und im besten Alter sind, ein Gewicht von 450 Kilogramm erreichen.
Wenn er seinem Ruf, ein Mörder zu sein, entspräche ...?
Dann könnte er ungeheuren Schaden anrichten. Es ist gut, daß dieses gewaltige, vegetarisch lebende Wildtier seinem Ruf, ein blutrünstiger Mörder zu sein, nicht entspricht. Leider ist eher der Mensch durch die Art und Weise, wie er die Tiere behandelt, als das zu brandmarken.
[Fußnote]
a Der Leiter der Abteilung für Dialysebehandlung der Mayo-Klinik bestätigte, daß man dieser Sache ein gewisses Interesse entgegengebracht hat; man sei aber zu keinen positiven Ergebnissen gekommen.
[Bild auf Seite 17]
Im Frühjahr und im Frühsommer, wenn das Gras zart ist, weiden die Grislybären wie das Vieh