Reinheit des Textes bedroht
„ICH habe auf Wunsch von Brüdern Briefe geschrieben. Allein des Teufels Apostel haben diese mit Unkraut angefüllt, manches weggenommen, anderes hinzugefügt. Das Wehe liegt für sie bereit. Da gewisse Leute sich unterfangen haben, sogar die Herrnschriften zu verfälschen, ist es ja kein Wunder, wenn sie auf die minder hochstehenden Schriftwerke Anschläge verübt haben.“ Dionysius von Korinth, der als ein christlicher Aufseher des 2. Jahrhunderts betrachtet wird, beklagte sich auf diese Weise darüber, wie man mit seinen Schriften verfahren war.
Seine Worte zeigen, daß damals „gewisse Leute sich unterfangen haben, sogar die Herrnschriften [Heilige Schrift] zu verfälschen“. Tertullian schrieb über einen Fälscher jener Zeit: „Marcion nämlich gebrauchte offen und ungeniert das Messer, nicht den Griffel; denn er vollzog nach den Anforderungen seines Lehrstoffes einen Mord an der Hl. Schrift.“
Es mag dich überraschen, daß Anstrengungen unternommen wurden, den Text der Bibel zu fälschen. Können wir sicher sein, daß solche Fälschungen nicht letzten Endes Erfolg hatten und die Bedeutung der biblischen Botschaft veränderten? Zudem mußte die Bibel durch Jahrhunderte von Hand abgeschrieben werden. Könnte die Reinheit des Textes nicht durch Abschreibfehler gelitten haben? Die Antwort auf diese Fragen wird uns erkennen helfen, wie leicht die lebendige Botschaft der Bibel hätte unwiederbringlich verdreht werden können. Aber dank einiger höchst außergewöhnlicher Umstände wurde sie bewahrt.
Äußerst genau abgeschrieben
Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung wurden die Hebräischen Schriften von gewissenhaften Schreibern peinlichst genau abgeschrieben. Man bezeichnete sie als Sopherim — ein Ausdruck, der augenscheinlich von dem hebräischen Verb für „zählen“ abgeleitet ist. Wieso? „Die frühen Gelehrten wurden Sof’rim genannt“, heißt es im Talmud, „weil sie alle Buchstaben der Thora zählten.“
Sie zählten die Buchstaben jedes neuen Manuskripts, und die Zahl mußte mit der des Originals übereinstimmen. Welche Sorgfalt! Denke nur an die Mühsal, jeden Buchstaben zu zählen! Angeblich ermittelten sie in den Hebräischen Schriften eine Gesamtzahl von 815 140 Buchstaben. Sie scheuten keine Mühe, um Entstellungen des Textes zu verhindern.
Um jedoch jeglichen Abschreibfehler auszuschalten, hätte Gott jedesmal, wenn ein Schreiber eine Feder zur Hand nahm, ein Wunder wirken müssen. Aber das war nicht der Fall. Es wurden Fehler gemacht. Waren sie schwerwiegend genug, um die Bedeutung der Bibel zu entstellen? Oder gibt es Beweise dafür, daß der hebräische Text trotz der vielen Abschriften während der Jahrtausende so gut wie unverändert geblieben ist? Bis vor einigen Jahren mußte man die Antwort schuldig bleiben, weil die ältesten hebräischen Manuskripte nur etwa bis ins Jahr 900 u. Z. zurückreichten.
„Ein wirklich unglaublicher Fund!“
Anfang 1947 stieß in Palästina ein 15jähriger Junge unweit des Toten Meeres in der Düsterkeit einer kleinen Höhle auf einen großen, 1⁄2 m hohen Tonkrug. Er zog ein in Leinen gehülltes unansehnliches Lederbündel heraus. Welch eine Enttäuschung! Eigentlich hatte er mit einem verborgenen Schatz gerechnet.
Was dieser junge Bursche in seinen Händen hielt, war jedoch „die größte Manuskriptentdeckung der Neuzeit, ... ein wirklich unglaublicher Fund!“ Es befanden sich Teile der Bibel darunter, die aus dem 2. Jahrhundert v. u. Z. datieren — 1 000 Jahre älter als die ältesten Abschriften, die bis dahin verfügbar waren. Was würde sich bei einem Vergleich ergeben? Millar Burrows, der jahrelang sorgfältig den Inhalt der Schriftrollen analysierte, folgerte:
„Viele Unterschiede zwischen der Jesaja-Rolle von St. Markus und dem masoretischen Text [Bibelmanuskripte aus dem 9. Jh.] lassen sich als Abschreibefehler erklären. Von diesen abgesehen stimmt sie im ganzen in bemerkenswerter Weise mit dem Text der mittelalterlichen Handschriften überein. Diese Übereinstimmung einer so viel älteren Handschrift gibt ein beruhigendes Zeugnis dafür, daß der überlieferte Text im großen und ganzen genau ist.
Es ist zum Verwundern, daß der Text durch ein Jahrtausend so wenig Veränderungen erfahren hat“ (Die Schriftrollen vom Toten Meer, S. 249).
Eine Schriftrolle enthielt fast vollständig das Buch Jesaja. Aufgrund dieses Fundes änderten die Übersetzer der Revised Standard Version von den 1 292 Versen des Buches Jesaja der englischen Bibel nur 13 Verse. Das bedeutete nicht, daß das die einzigen Abweichungen waren, doch bei den meisten anderen handelte es sich lediglich um Änderungen in Schreibweise und Grammatik. Zu beachten ist, daß zwischen den vergleichbaren hebräischen Schriftrollen ein Zeitraum von 1 000 Jahren liegt.
Und die Christlichen Griechischen Schriften?
Besonders in Verbindung mit den Christlichen Griechischen Schriften ist die genaue Überlieferung eine brennende Streitfrage. Denn wie bereits erwähnt, blieben Fälschungen nicht unversucht. Die Reinheit des Textes war jahrhundertelang von Zweifeln überschattet, da noch im 17. Jahrhundert die ältesten maßgebenden Abschriften des „Neuen Testaments“ in Griechisch nur bis ins 10. Jahrhundert zurückreichten — mehr als 900 Jahre nach der Niederschrift der Originale. Niemand konnte beweisen, daß die christliche Botschaft nicht durch Fälschungen oder durch die Feder sorgloser Schreiber entstellt worden war.
„Perle“ eines abgeschiedenen Klosters
1844 betrat Konstantin von Tischendorf auf seiner Suche nach alten Bibelhandschriften die Bibliothek des Klosters am Berge Sinai südlich von Palästina. Sein Blick fiel auf einen großen Korb mit Bücherseiten. Als er genauer hinsah, war er wie gelähmt.
Hier sah er die Seiten einer griechischen Bibelabschrift, deren Alter alles übertraf, was er bis dahin gesehen hatte. Ganz außer Fassung, erkundigte er sich über diese Seiten. Ihm blieb fast das Herz stehen. Sie dienten dazu, Feuer anzumachen. Zwei Haufen waren bereits verbrannt worden. Die Mönche gaben ihm 43 Seiten, verweigerten aber jede weitere Zusammenarbeit.
Er unternahm eine zweite Reise zu diesem Kloster — ohne Erfolg. Eine dritte Reise — wieder schien alles ergebnislos. Er traf schon Vorbereitungen zur Abreise, da er sich keine Hoffnungen mehr machte. Drei Tage vor der Abreise sprach er mit dem Verwalter des Klosters, der ihn in sein kleines Zimmer einlud. Der Verwalter ließ die Bemerkung fallen, daß er in einer alten Bibelabschrift gelesen hatte, und holte einen Stoß loser Blätter hervor, der in ein rotes Tuch eingewickelt war.
Als er dieses Bündel öffnete, sah Tischendorf die „Perle“ vor sich, nach der er schon 15 Jahre gesucht hatte. Dieses Bibelmanuskript, heute als Codex Sinaiticus bekannt, enthielt das ganze „Neue Testament“. Da man annahm, daß es um 350 u. Z. geschrieben wurde, war es über 600 Jahre älter als die bis dahin maßgebenden Manuskripte. Wurden Fälschungen offenbar?
Fälschungen aufgespürt und berichtigt
Tischendorfs Fund stimmte im wesentlichen mit den Texten überein, die die Grundlage unserer heutigen Bibelübersetzungen bilden. Dennoch wurden dadurch Fälschungen offenbar.
Ein Beispiel ist der bekannte Bericht aus Johannes 8:1-11, gemäß dem eine Ehebrecherin gesteinigt werden sollte und Jesus gesagt haben soll: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie.“ Im Codex Sinaiticus stand das nicht. Also ließ man in späteren Bibelausgaben diese Stelle weg oder führte sie in einer Fußnote an, um den Text zu läutern. Man fand noch andere Zusätze und ließ auch sie weg (Matth. 17:21; 18:11; Apg. 8:37).
In anderen Fällen waren Textstellen verfälscht worden, um eine falsche Lehre zu stützen, wie zum Beispiel in 1. Timotheus 3:16. In der Luther-Bibel (Ausgabe 1545) heißt es: „GOtt ist offenbaret im Fleisch“, in der Menge-Bibel (1951) dagegen: „Er, der geoffenbart ist im Fleisch.“ Welch ein Unterschied! Was ist richtig? Wenn ersteres, dann hätte es den Anschein, daß Jesus Gott ist, ganz im Gegensatz zu Schriftstellen, die besagen, er sei Gottes Sohn (Mark. 13:32).
In älteren Manuskripten hatte das Wort für „Gott“ ([griechische Buchstaben]) Ähnlichkeit mit dem für „der“ oder „welcher“ ([griechische Buchstaben]). In späteren Manuskripten stand gewöhnlich [griechische Buchstaben] oder etwas Gleichbedeutendes. Doch in dem von Tischendorf entdeckten Manuskript steht [griechische Buchstaben], also „der“ oder „welcher“, was sich auf Jesus, nicht auf Gott bezieht. Ein Schreiber hatte den Ausdruck auf „Gott“ abgeändert. Der Codex Alexandrinus aus dem 5. Jahrhundert läßt uns daran zweifeln, ob es sich um einen unabsichtlichen Fehler handelt. Auf den ersten Blick schien es ein [griechische Buchstaben] zu sein, doch bei näherer Untersuchung mit einem Mikroskop stellte sich heraus, daß es ursprünglich [griechische Buchstaben] gelautet haben muß und die beiden Striche nachträglich hinzugefügt wurden. Deshalb steht in neueren Bibelübersetzungen nicht „Gott“, sondern „er, der“ oder „er“.
Ein weiteres auffallendes Beispiel war in 1. Johannes 5:7 die Wendung „im Himmel: der Vater, das Wort, und der heilige Geist; und diese drei sind e i n s“; (Allioli, 1937). Diese Worte fehlten nicht nur im Codex Sinaiticus, sondern überhaupt in allen griechischen Manuskripten, die vor dem 16. Jahrhundert geschrieben worden waren. Es deutet alles darauf hin, daß ein Manuskript, das man neulich im Trinity College von Dublin (Irland) fand, um 1520 in der Absicht geschrieben wurde, diesen unechten Vers einzufügen. In den meisten neuzeitlichen Bibelübersetzungen ist diese offenkundige Fälschung ausgelassen.
Eine Unzahl von Zeugnissen
Es kamen noch ältere Manuskripte zutage, solche, die vor dem 4. Jahrhundert angefertigt worden waren. In Ägypten fand man Bibelabschriften auf Papyrus, von denen einige um Mumien gewickelt waren. Sie wurden sorgfältig wiederhergestellt und ins 3. Jahrhundert datiert. Ein kleines Fragment des Buches Johannes wurde sogar ins Jahr 125 u. Z. datiert. Was ergab sich, als man es mit dem Manuskript aus dem 4. Jahrhundert — also mit unseren heutigen Bibelübersetzungen — verglich? Es stimmt nicht buchstabengetreu damit überein, aber die Botschaft ist dieselbe. Jegliche Fälschung kann leicht aufgespürt werden. Die Botschaft kommt klar zum Tragen.
Über 5 000 griechische Manuskripte sind eine umfangreiche Hilfe, den Originaltext zu rekonstruieren. Frederic Kenyon, der fast ein Menschenalter mit dem Studium dieser alten Manuskripte verbracht hat, folgerte:
„Es ist tatsächlich ein schlagender Beweis für die grundlegende Beständigkeit der Überlieferung, wenn man sieht, daß bei all den Tausenden von Abschriften, die aus so vielen verschiedenen Teilen der Erde stammen und den unterschiedlichsten Bedingungen ausgesetzt waren, die Abweichungen im Text fast ausnahmslos Fragen des Details, nicht des wesentlichen Gehalts sind.
Am Ende ist es beruhigend festzustellen, daß das Gesamtergebnis all dieser Entdeckungen und Forschungen den Beweis für die Echtheit der Hl. Schrift und für unsere Überzeugung erhärtet, daß wir das im wesentlichen unversehrte, wahrhaftige Wort Gottes in Händen haben“ (The Story of the Bible, S. 136, 144).
Die Bibel hat in doppelter Hinsicht gesiegt. Das Buch als solches und die Reinheit des Textes haben überlebt. Ist es dem Zufall zu verdanken, daß ein Buch, das vor fast zwei Jahrtausenden geschrieben wurde und erbitterten Angriffen ausgesetzt war, heute noch in Tausenden alter Abschriften existiert, von denen einige nur 25 Jahre jünger als das Original sein mögen? Ist das nicht ein schlagender Beweis für die Macht desjenigen, über den gesagt wird: „Das Wort unseres Gottes bleibt für immer bestehen.“ (Jes. 40:8, Die Gute Nachricht)?
Doch in unserem Bericht über den Daseinskampf der Bibel gibt es noch ein abschließendes Kapitel. Wie ist es diesem Buch, das im Orient „zur Welt kam“, gelungen, weltweit in lebenden Sprachen zu erscheinen? Warum hat Gott dafür gesorgt, daß sein Wort überall erhältlich ist?
[Bild auf Seite 14]
Sehr alte Schriftrollen vom Toten Meer haben bestätigt, daß die Texte, die zum Übersetzen der Bibel verwendet worden sind, im wesentlichen genau sind.
[Bild auf Seite 16]
Männer wie Tischendorf, der im Katharinenkloster den Codex Sinaiticus fand, spürten die Textstellen auf, die von Abschreibern entstellt worden waren.