Junge Leute fragen sich:
Was, wenn es mehr ist als ein seelisches Tief?
VIVIENNE und Marie lernten einander nie kennen, aber beide wußten, was es heißt, verzweifelt zu sein. Beide waren 14 Jahre alt, hatten jedoch ein ganz unterschiedliches Elternhaus. Vivienne, die sich wie eine Dame benahm, hatte liebevolle Eltern. Marie benahm sich manchmal wie eine Wilde, und das Gezänk ihrer Eltern, die sich schließlich scheiden ließen, stachelte sie noch mehr an. Beide Mädchen führten einen verzweifelten Kampf gegen eine Erkrankung, „die für den Betroffenen schlimmere Leiden verursacht als jede andere Krankheit“ — schwere Depression.
Über den Ausgang ihres Kampfes werden wir noch hören, doch zuerst sei der große Unterschied zwischen einem gelegentlichen Tief und schwerer Depression erläutert, dem Leiden, dem in der ganzen Welt Tausende junger Leute zum Opfer gefallen sind und das bei weiteren Millionen den Wunsch geweckt hat, tot zu sein.
Tödliche Depression
Jeder von uns ist manchmal depressiv, du gewiß auch. Gelegentlich mag man sogar an einer „leichten chronischen Depression“a, wie die Ärzte diesen Zustand bezeichnen, leiden. Schwere Depressionen sind aber etwas ganz anderes. „Dauernd hatte ich das Gefühl, innerlich ,tot‘ zu sein“, erzählte Marie. „Ich hatte einfach keine Empfindungen mehr und lebte ständig in Furcht.“ Vivienne beschrieb ihre „ausweglose“ Situation in einem Brief an eine Freundin ähnlich: „Komisch ist, daß ich, nachdem ich mich ausgeweint habe, immer noch depressiv bin; ich bin es ständig; im Grunde ist es ganz egal, was ich mache. Es ist merkwürdig, so lange in einem solchen Zustand leben zu müssen, ohne daß sich etwas ändert.“
Ja, die gedrückte Stimmung hält unvermindert an. Sie kann Monate dauern. Im nebenstehenden Kasten werden einige der Symptome aufgeführt — emotionale und physische. Es sollte niemand überraschen, daß diese Form der Depression am häufigsten für Selbstmord unter den Jugendlichen — in vielen Ländern jetzt als eine „heimliche Seuche“ bezeichnet — verantwortlich ist. In den Vereinigten Staaten ist der Selbstmord unter den Jugendlichen die dritthäufigste Todesursache nach Unfällen und Totschlag.
Ursachen, die tief in der Seele wurzeln
Francine Klagsbrun schrieb in ihrem Buch Too Young To Die — Youth and Suicide (Zu jung zum Sterben — Jugend und Selbstmord): „Die Ursache vieler seelisch bedingter Depressionen ist der Verlust liebgewonnener Objekte.“ Die Wurzel einer Depression kann also der Verlust von Vater oder Mutter (durch Tod oder Scheidung) sein, der Verlust von Stellung oder Beruf oder auch der körperlichen Gesundheit.
Äußerst bitter für einen jungen Menschen ist es, nicht mehr geliebt zu werden, das Gefühl zu haben, unerwünscht zu sein und vernachlässigt zu werden. „Als meine Mutter uns verließ, fühlte ich mich verraten und allein gelassen“, bekannte Marie. „Meine Welt erschien mir plötzlich wie ein großes Durcheinander.“ Ein Therapeut erkannte, daß Vivienne seelisch litt, und fragte sie: „Was wünschst du dir von deinen Angehörigen?“ Kurz und bündig antwortete sie: „Verständnis.“
Man kann sich gut vorstellen, wie die Gefühle bei jungen Menschen durcheinandergeraten und wie schmerzlich es für sie ist, wenn sie mit schrecklichen Familienproblemen konfrontiert werden wie Scheidung, Alkoholismus, Blutschande, Gewalttätigkeiten des Vaters gegenüber der Mutter, Mißbrauch von Kindern oder Gleichgültigkeit eines Elternteils, der nur mit seinen eigenen Problemen beschäftigt ist. Für das Kind ist das ein „Tag der Bedrängnis“. Wie wahr ist doch folgender Spruch aus der Bibel: „Hast du dich entmutigt gezeigt am Tage der Bedrängnis? Deine Kraft wird karg sein.“ (Sprüche 24:10)! Ja, die Kraft, die erforderlich ist, um aus der Depression herauszukommen, ist nur noch gering, insbesondere wenn der junge Mensch glaubt, an den unseligen Verhältnissen schuld zu sein.
„Wie kann man nichts umbringen?“
„Ich tauge zu nichts. Ich nütze niemandem etwas“, schrieb Vivienne. „Was hilft es, mich umzubringen? Wie kann man nichts umbringen?“ Warum empfand sie so? In ihr Tagebuch schrieb sie: „Ich habe immer das Gefühl, groß, plump und begriffsstutzig zu sein und neben mir jemand zu haben [eine Freundin], der klein, korrekt, scharfsinnig und absolut perfekt ist.“ Die Werbung und die Unterhaltungsindustrie fördern schädliche Vergleiche, indem sie körperliche Attraktivität, Sex und akademische Ziele glorifizieren.
Die eigenen Unvollkommenheiten setzen dem bereits geschwächten Selbstwertgefühl noch mehr zu. Du magst etwas tun, wovon du weißt, daß es verkehrt ist, und dann ebenso empfinden wie David, König von Israel, der klagte: „Da ist kein Friede in meinen Gebeinen wegen meiner Sünde. Denn meine eigenen Vergehungen sind über mein Haupt gegangen; wie eine schwere Last sind sie zu schwer für mich. ... Den ganzen Tag bin ich traurig umhergegangen“ (Psalm 38:3-6). Eine solch reumütige Einstellung ist natürlich löblich. Sie zeigt, daß der Betreffende sein Herz gegenüber den sittlichen Normen nicht verhärtet hat. Und wenn sich ein solcher Mensch ändert, vergibt Gott ihm großmütig.
Der eine oder andere versucht jedoch, seine Schuldgefühle oder Gefühle der Wertlosigkeit zu verbergen, indem er von zu Hause ausreißt, öfter mit einem anderen Partner schläft oder viel Alkohol genießt. Marie spritzte sich Heroin. Sie sagte: „Ich hatte jeweils großes Selbstvertrauen — bis die Wirkung der Droge abklang.“ Und danach überfiel sie eine tiefe ...
Hoffnungslosigkeit
Mit der schweren Depression ist eine nicht weichen wollende tiefe Hoffnungslosigkeit verbunden, die den Depressiven das Leben kosten kann. Vivienne wurde nicht mehr damit fertig. Völlig hoffnungslos, erhängte sich die 14jährige! Professor John E. Mack schrieb in dem Buch Vivienne — The Life and Suicide of an Adolescent Girl (Vivienne — Leben und Selbstmord einer Jugendlichen): „Viviennes Unfähigkeit, vorauszusehen, daß sie wieder aus ihrer Depression herauskommen würde, daß die Hoffnung bestand, von ihrem Schmerz schließlich erlöst zu werden, spielte bei ihrer Entscheidung, Hand an sich zu legen, eine wichtige Rolle.“
Personen, die an schweren Depressionen leiden, glauben, es werde nie mehr besser, es gebe kein Morgen. Nach Meinung der Experten treibt die Hoffnungslosigkeit den Depressiven in vielen Fällen zum Selbstmord. Doch Marie, deren Leben der reinste Alptraum geworden war, fand schließlich etwas, was ihr half, zu sich selbst zu finden.
Du wirst es überwinden!
„Ich dachte auch an Selbstmord“, gestand Marie. „Aber ich sagte mir, solange ich mich nicht umbringe, ist noch Hoffnung.“ Was sie als Kind aus der Bibel gelernt hatte, bewirkte, daß sie die Hoffnung nie ganz aufgab. Leider hielt sie sich später nicht mehr an die Lehren der Bibel. Doch sie wußte, daß Gott ihr half, wenn sie ihn aufrichtig anrief. In ihrem trostlosen Zustand sah sie also einen Silberstreifen am Horizont.
Unglücklicherweise können viele junge Leute in ihrer Verzweiflung keine Alternative sehen oder keine Möglichkeit eines guten Ausgangs. Was kann einem helfen, die Hoffnung nie aufzugeben?
Sprich dich bei jemandem aus
„Angstvolle Besorgtheit im Herzen eines Mannes wird es niederbeugen, aber das gute Wort erfreut es“ (Sprüche 12:25). Ein „gutes Wort“, gesprochen von einem verständnisvollen Menschen, kann so viel bedeuten. Was in deinem Herzen ist, kann niemand lesen; schütte es deshalb jemandem aus, zu dem du Vertrauen hast und der dir helfen kann, deine Denkweise zu berichtigen.
„Das habe ich bereits versucht“, magst du sagen, „doch ich bekam nur zu hören, daß ich positiver denken sollte.“ Natürlich ist nicht jeder ein guter Ratgeber. Die Bibel sagt: „Wenn keine geschickte Lenkung da ist, kommt das Volk zu Fall; aber Rettung gibt es bei der Menge der Ratgeber“ (Sprüche 11:14). Gib also nicht auf, nur weil du an einen unfähigen Ratgeber geraten bist. Suche dir einen guten. Aber wo ist ein solcher zu finden?
Marie schüttete Gott in einem ihrer trostlosesten Augenblicke ihr Herz aus. „Ich bat ihn flehentlich, mir doch jemand zu senden, der mir helfen könnte“, gestand Marie. „Als ich mich Jehova zuwandte, spürte ich, wie eine Ruhe über mich kam. Ich wußte, daß es für mich noch Hoffnung gab.“ Ihr flehentliches Gebet wurde erhört, denn noch am gleichen Tag wurde sie von einem Zeugen Jehovas besucht. Ein Bibelstudium wurde begonnen. Auch fing sie an, die Zusammenkünfte der Zeugen Jehovas zu besuchen. Dort lernte sie viele fähige Ratgeber kennen, die ihr nur zu gern halfen.
Deine Gebete mögen nicht gerade in dieser Weise erhört werden, aber Gott kann dir Kraft zum Ausharren verleihen. Die Bibel sagt: „Gott aber ist treu, und er wird nicht zulassen, daß ihr über euer Vermögen versucht werdet, ... er [wird] ... auch den Ausweg schaffen, damit ihr sie ertragen könnt.“ Du mußt dich jedoch bemühen (1. Korinther 10:13).
„Jahrelang hatte ich mich so gegeben, daß niemand ahnte, wie deprimiert ich war“, verriet Marie. „Doch dann vertraute ich mich einer der älteren Frauen in der Versammlung an. Sie verstand mich, denn sie hatte ebenfalls solche Erfahrungen hinter sich. Mir wurde dadurch klar, daß andere Leute ähnliche Phasen durchlebt und gut überstanden haben.“
Marie ging es nicht von Stund an besser. Doch durch das Studium der Bibel und die Gemeinschaft mit anderen Christen vertiefte sich ihr Verhältnis zu Gott immer mehr, und allmählich gelang es ihr, ihre Emotionen zu bewältigen.
Vivienne hatte offenbar keinen solchen Glauben. „Ich möchte an etwas glauben, aber wie viele andere, so weiß auch ich nicht, woran“, sagte sie bedauernd vor ihrem Tod. „Ich konnte noch nie beten. Man merkt es, wenn ein Gebet nicht ankommt.“
Hüte dich davor, den gleichen Fehler zu machen. Wenn du depressiv bist, bete zu Gott. Wende dich an fähige Ratgeber, und sage ihnen, wie es um dich steht. Gib ihnen Gelegenheit, dich durch ein „gutes Wort“ aufzumuntern. Jehovas Zeugen stehen dir gern bei. Laß dir helfen, eine Freundschaft mit Gott zu entwickeln, so daß sich auch an dir die beglückende Verheißung bewahrheitet: „Der Friede Gottes, der alles Denken übertrifft, wird euer Herz und eure Denkkraft durch Christus Jesus behüten“ (Philipper 4:7).
[Fußnote]
a Siehe „Warum bin ich so deprimiert?“ in Erwachet! vom 22. November 1982.
[Herausgestellter Text auf Seite 12]
Unter Jugendlichen ist die schwere Depression die häufigste Ursache für Selbstmord, der sich in einigen Ländern zu einer Seuche entwickelt hat.
[Herausgestellter Text auf Seite 15]
Ein persönliches Verhältnis zu Gott kann dir helfen, aus einer schweren Depression herauszukommen.
[Kasten auf Seite 13]
Ist es vielleicht eine schwere Depression?
Bei allen Menschen tritt ab und zu eines der folgenden Symptome (oder auch mehrere) auf, ohne daß es zu einem ernsten Problem kommt. Wenn aber mehrere der Symptome anhaltend vorhanden sind oder wenn eines der Symptome so schwer ist, daß du deine täglichen Aufgaben nicht mehr bewältigen kannst, dann bist du entweder körperlich krank und solltest dich von einem Arzt gründlich untersuchen lassen, oder du leidest an einer ernsten seelischen Störung — an einer schweren Depression.
● Verlust jeder Befriedigung. Tätigkeiten, die dir früher Freude gemacht haben, sagen dir nichts mehr. Du hast das Gefühl, von der Wirklichkeit losgelöst zu sein, als würdest du dich in einem Nebel befinden und alles nur noch mechanisch tun.
● Völlige Wertlosigkeit. Du hast das Gefühl, durch dein Leben nichts Wertvolles leisten zu können und es sei völlig unnütz. Du magst voller Schuldgefühle sein.
● Drastische Veränderung der Gemütslage. Warst du früher mitteilsam, so bist du jetzt vielleicht verschlossen; es kann auch umgekehrt sein. Du magst häufig weinen.
● Völlige Hoffnungslosigkeit. Du glaubst, alles sei schlecht, du könnest daran nichts ändern und die Verhältnisse würden sich nie bessern.
● Der Wunsch zu sterben. Die Qual mag so groß sein, daß du häufig denkst, es wäre besser, tot zu sein.
● Konzentrationsunfähigkeit. Du gehst etwas immer und immer wieder durch oder liest etwas immer wieder, ohne es zu begreifen.
● Veränderte Eßgewohnheiten oder Störungen im Darmbereich. Appetitlosigkeit oder Eßsucht; periodisch Verstopfung oder Durchfall.
● Veränderte Schlafgewohnheiten. Du schläfst schlecht oder zuviel. Du hast vielleicht häufig Alpträume.
● Körperliche Beschwerden. Kopfschmerzen, Krämpfe und Schmerzen im Unterleib und in der Brust. Du bist ohne guten Grund dauernd müde.
[Bild auf Seite 14]
Sich bei jemandem aussprechen ist das beste Mittel gegen schwere Depression.