Ich bin ein eingeborener Australier
Ein Bericht, wie er dem „Awake!“-Korrespondenten in Australien erzählt wurde
ICH bin ein eingeborener Australier und heiße Warwirra. In meinem Land bezeichnen wir die Eingeborenen als „Dinkum Aussie“ im Gegensatz zu den Zuwanderern, die wir „Neuaustralier“ nennen. Ich bin ein „Dinkum Aussie“.
Ich sehe den übrigen Eingeborenen ziemlich ähnlich, denn obwohl wir viele Stämme sind, haben wir doch einen Ursprung. Wir unterscheiden uns durch einen lang-schmalen Kopf von den meisten übrigen Menschen, ferner haben wir eine fliehende Stirn und kräftige Augenbrauenwülste. Unser Haar ist lockig, die Nase kurz und breit und der Mund groß mit kräftigen weißen Zähnen. Wir sind von mittlerer Statur, doch haben wir lange, dünne Gliedmaßen. Die Hautfarbe ist dunkelbraun. Es heißt, wir hätten die größte Ähnlichkeit mit den auf Ceylon lebenden Wedda und den Gebirgsstämmen in Indien.
Ich wohne in einem einfachen Haus aus Ziegelsteinen, doch meine Vorfahren haben nicht in einem solchen Haus gewohnt. Aber nicht nur das, sondern noch vieles mehr hat sich geändert. Deshalb packt uns manchmal die Sehnsucht nach unserem früheren „Wanderleben“. Wenn wir den Drang dazu verspüren, verlassen wir unsere Häuser und gehen in den Wald, wo wir wie unsere Vorväter von dem leben, was das Land uns gibt.
Wir verspüren diesen Drang, weil in jedem von uns die Sehnsucht nach den Tagen unserer „Traumzeit“ oder die Erinnerungen an unsere frühere Kultur, d. h. an unsere Stammesgeschichte und unsere ursprüngliche Lebensform, schlummern. Die Sehnsucht nach jener Zeit scheint uns in die Wiege gelegt worden zu sein. Ehe Kapitän Cook in Botany Bay landete, lebten wir ganz anders als heute; wir führten ein hartes, aber freies Leben. Aufgrund gegenseitiger Abmachungen besaßen unser Stamm und die übrigen Stämme Eigentumsrechte auf bestimmte Gebiete, und diese Rechte wurden allgemein respektiert. Es gab Grenzen, obwohl das Land nicht durch Zäune und Tore verschandelt wurde. In jedem Stammesbezirk gab es „heilige“ Orte, die für uns das waren, was Paris für die Franzosen oder London für die Engländer ist.
Wir haben nicht nur glückliche Erinnerungen. Zum Teil sind es Erinnerungen an Grausamkeiten. Nachdem die Europäer im Land Fuß gefaßt hatten, setzten sie sich über unsere Eigentumsrechte hinweg und begannen, uns auszurotten. Allmählich wurden wir in unserem eigenen Land auf die Stufe von Leibeigenen hinabgedrückt. Noch 1942, während Australien gegen Hitler Krieg führte, weil dieser ganze Völker mordete, äußerte ein Parlamentarier in Westaustralien folgende Auffassung: „Für Westaustralien und auch für das übrige Australien wird es ein großer Tag sein, wenn die Eingeborenen und die Känguruhs verschwinden werden. ... Bei der Behandlung dieser Frage sollte man sich von jeglicher Sentimentalität befreien. Die Zeit für drastisches und positives Handeln ist gekommen.“
Aus der Zeit vor der Ankunft der Europäer haben wir glücklichere Erinnerungen. Wir liebten unser Land und pflegten es sorgsam; aber dafür hatten wir unsere eigenen Methoden. Wir hielten zum Beispiel kein Vieh oder keine Känguruhs. Wir hatten auch keine Traktoren oder Pflüge. Unsere Methoden waren für unsere Bedürfnisse geeigneter.
Reiche Kenntnisse zur Naturbewältigung
Wir zogen durch unseren Bezirk und sammelten, was wild gewachsen war; einige Stämme pflegten sich dabei über das Gebiet zu zerstreuen. Dabei dachten wir immer an das nächste Mal, wenn wir wieder an diesen Ort zurückkehren würden. Es war in unserem eigenen Interesse, zu erhalten, was uns das nächste Mal wieder von Nutzen sein würde. Wir zapften Bäume, die Wasser enthielten, an, verschlossen die Stellen aber nachher wieder sorgfältig; wir gruben Wasserlöcher und bedeckten sie anschließend wieder mit Sand, um zu verhindern, daß sie austrockneten; wir töteten nur so viele Tiere, wie wir zur Nahrung benötigten, und niemals töteten wir ein Muttertier mit den Jungen; wir fischten Stechrochen, aber immer erst, wenn die Laichzeit vorüber war.
Durch diese Methoden, die unserer Lebensform angepaßt waren, pflegten wir unser Land. Wohl brachten wir keine riesigen Ernten ein, wie das heute geschieht, aber das, was wir uns beschafften, war außerordentlich nahrhaft und stets frisch.
Der Erfolg unserer Methoden hing zu einem großen Teil von unserem Wissen und unseren Fertigkeiten ab. Wir gewannen den Kampf ums Dasein nur dank unserer reichen Kenntnisse zur Naturbewältigung. In dem Buch The Australian Aborigine (Der eingeborene Australier) von A. P. Elkin wird darüber gesagt: „Für den Einheimischen ist die Natur eine Ordnung, in der Pflanzen und Tiere sowie Naturerscheinungen in Beziehung zu Raum und Zeit stehen oder damit verbunden sind. Durch Beobachtung im Laufe der Jahrhunderte ist das Erscheinen ... eines Vogels, einer Blume oder eines Insekts das Zeichen dafür geworden, daß es bald regnen wird, daß die Fische wandern, daß es von einem bestimmten Tier bald sehr viele geben wird, daß es Zeit ist, die Jamswurzeln oder die Erdnüsse auszugraben, oder daß eine bestimmte Frucht reif ist. ... Die gelben Blüten der Akazie sind das Zeichen dafür, daß die Wildgänse auf ihren alljährlichen Wanderungen über die riesigen Weißbäume von Sumpf zu Sumpf fliegen, um sich von den Knollen der Seerosen zu ernähren. Die Männer bauen daher in den Zweigen bestimmter Bäume Gerüste, auf denen sie den Gänsen auflauern, dabei ahmen sie ihren Schrei nach, worauf die Tiere den Baum umfliegen und sich darauf niederlassen. Dabei werden sie aber von zielsicher geschleuderten Wurfhölzern zu Boden geworfen, wo sie von Männern, die unten stehen, rasch getötet werden.“
Leider beherrschen viele der Eingeborenen heute diese Fertigkeiten nicht mehr. Ein Beispiel ist die Kunst, Spuren zu finden. Allerdings benutzt die Polizei immer noch Eingeborene, um Personen zu suchen, die sich im Busch verirrt haben, aber die Eingeborenen, die sich gut darauf verstehen, werden seltener. Doch früher, in unserer „Traumzeit“, hing unser Leben von dieser Fertigkeit ab. Den Jungen wurde von klein auf beigebracht, wie man den Boden sorgfältig untersucht und was er alles verrät, so daß sie mit derselben Leichtigkeit lesen konnten, was er zu erzählen hatte, wie mein Junge heute seine Schulbücher liest. Als Erwachsene konnten wir dann von jedem Stück Boden sagen, was es zu erzählen hatte, selbst von hartem Felsen: was für ein Mensch oder was für ein Tier vorbeigekommen war und wann. Wir konnten eine Spur tagelang verfolgen. Aufgrund der Spur einer Person — wir mochten sie kennen oder nicht — konnten wir vieles über sie aussagen; wir wußten, ob es sich um eine große oder kleine, um eine dicke oder dünne Person handelte, um einen Mann oder eine Frau, um einen Kranken oder einen Gesunden, um einen Weißen oder einen Eingeborenen. Wenn wir die Spur verfolgten, konnten wir berichten, was die Person unterwegs getan hatte.
Das Spurenfinden erforderte ziemlich viel Geduld und Ausdauer. Manchmal verfolgten wir die Spur eines Tieres den ganzen Tag, und wenn es dunkel wurde, legten wir uns schlafen und setzten unsere Verfolgung am nächsten Tag fort, bis wir bei der Beute anlangten. Waren wir irgendwie unvorsichtig, so daß das Tier uns witterte und davonjagte, mußten wir wieder von vorn beginnen, bis wir uns so nahe an die Beute herangepirscht hatten, daß wir sie mit dem Speer erlegen konnten. Meinst du, du könntest das tun? Wie oft lesen wir in der Zeitung, daß Menschen im wasserlosen Busch umgekommen wären, besäßen wir nicht die Fertigkeit des Spurenfindens.
Wanderleben
Ich sagte „wasserloser“ Busch, aber wasserlos ist er nur für die neuen Aussies. Wir Einheimischen wissen, daß dort Wasser vorhanden ist, und wir wissen auch, wie man es findet. Das ist eine weitere Fertigkeit, die früher, in unserer „Traumzeit“, alle von uns besaßen. Möchtest du mich auf einem Streifzug begleiten, damit ich dir das demonstrieren kann? Siehst du dort den grünen Schimmer zwischen dem braunen Gras? Dort kann ich mit Hilfe meines Grabstockes Wasser sammeln. Wenn ich diesen Baum anzapfe, wird Wasser heraussickern. Unter jenem von der Sonne getrockneten Schlamm sind Frösche, die Flüssigkeit in sich aufgespeichert haben. Wenn man die Wurzeln dieses Zwerggummibaumes ausdrückt, kommt Wasser heraus. Wenn ich in jenem trockenen Bachbett tief genug grabe, stoße ich auf Wasser. Du siehst also, in diesem trockenen Land gibt es überall Wasser, wenn man sich Rat weiß.
Hier gibt es beides, zu essen und zu trinken, man muß nur wissen, wo. Ein zeitgenössischer Anthropologe stellte eine Liste der Nahrungsmittel auf, die einem Einheimischen in einem kleinen Gebiet zur Verfügung stehen: 18 Säugetier- und Beuteltierarten, 19 Vogelarten, 11 Reptilienarten, 6 verschiedene Wasserwurzeln, 17 Samenarten, 3 Gemüsearten, 10 Obstarten und außerdem viele Wasserpflanzen, Pilze und Eier. Wahrscheinlich würde dir unsere Kost nicht zusagen. Es heißt doch im allgemeinen, die Geschmäcke seien verschieden. Welche Wonne ist es, nachdem man den ganzen Tag gewandert ist und gejagt hat, sich zu einer Mahlzeit niederzusetzen, die aus zartem Känguruhfleisch und fettem Eidechsenfleisch besteht, das langsam auf dem Sand oder in einem Lehmofen geröstet worden ist, ferner aus frisch gepflückten Beeren, grünen Blättern und verschiedenen Samen. Köstlich! Noch wichtiger aber ist, daß diese Kost reichlich all die unentbehrlichen Nährstoffe enthält, die wir für unser Wanderleben benötigen.
Bei diesem Leben brauchen wir keine Häuser. Da Australien ein angenehmes Klima hat, sind Häuser entbehrlich. Sie wären sogar hinderlich, denn sie würden uns an einen Ort fesseln, und dann wären die Wasser- und Nahrungsvorräte bald erschöpft. Wir führen aber auch keine Zelte mit. Unser Wanderleben macht es erforderlich, daß wir möglichst wenig Gepäck bei uns haben. Wir Männer tragen daher lediglich Speere und Bumerange, die Frauen tragen das Allernotwendigste: Wasserbeutel, Reibhölzer zum Feueranzünden und Werkzeuge.
Auf der Wanderung hält der Stamm eine ganz bestimmte Ordnung ein. Wir Männer gehen voraus und bilden einen weiten Halbkreis; während des Gehens suchen unsere Augen den Boden nach frischen Spuren ab. Weit hinter uns kommen die Frauen, Kinder und alten Männer. Alle verhalten sich mäuschenstill. Selbst die kleinen Kinder geben acht, daß sie nicht auf einen dürren Ast oder auf ein dürres Blatt treten, und sie reden nicht einmal im Flüsterton. Du mußt bedenken, daß ein einziger Laut das Wild verscheuchen würde und wir ohne Abendbrot zu Bett gehen müßten. Wir verständigen uns mit Hilfe einer gut entwickelten Zeichensprache. Grundlegende Wörter werden bei allen Stämmen durch dasselbe Zeichen ausgedrückt. Könntest du dich mit Personen verständigen, deren Sprache du nicht sprichst?
Wir wandern nicht immer am Tag. Wenn es am Tag sehr heiß ist oder wenn wir es auf das nächtlichlebende Känguruh abgesehen haben, wandern wir nachts. Sobald wir an einem Platz anlangen, wo wir lagern möchten, errichten wir rasch ein „Haus“ aus Zweigen, in dem wir nachts vor dem kalten Wind und am Tag vor der heißen Sonne geschützt sind. Darauf zünden wir ein Lagerfeuer an, und das bedeutet dann, daß wir häuslich eingerichtet sind.
Damit kommen wir zu dem Thema der Feuererzeugung. Auf unseren Wanderungen achten wir sorgfältig darauf, daß unsere Reibhölzer nicht feucht werden. Schau dir diesen Holzstab an, er ist zugespitzt wie ein Bleistift, und dieses Brett mit den vielen schwarzen Löchern. Jetzt gib acht: Ich stecke die Spitze des „Bleistifts“ in eines dieser Löcher und drehe ihn sehr schnell zwischen den Handflächen, dabei presse ich ihn fest gegen das Holz. Siehst du, wie schnell das Bohrmehl zu glimmen beginnt? Sobald Funken darauf fallen und man sie leicht anbläst, hat man Feuer. Das geht fast so schnell wie mit einem Streichholz! Wirst du heute abend unser Gast sein? Wir werden zum Abendbrot Ente haben, ferner fette Larven, Emueier, eßbare Wurzeln und als Nachtisch Beeren, die die Kinder sammeln werden.
Der Bumerang
Möchtest du wissen, wie wir die Enten erlegen? Ich will es dir erklären. Aber zuerst muß ich dir unsere Jagdwaffen und Jagdmethoden beschreiben. Ich will mit dem Bumerang beginnen. Hast du schon einmal daran gedacht, welch ein Präzisionsgerät der Bumerang ist? Kein Waffenschmied kann sorgfältiger auf maschinellem Weg Gewehrläufe herstellen als wir einen Bumerang: die relative Länge der beiden Arme, der Winkel der Biegung, die schwache Schraubenwindung und die gewölbte Oberfläche — ein einziger Fehler, und der Bumerang würde nicht funktionieren. In dem Werk Australian Encyclopedia wird gesagt: „Mathematiker haben dargetan, daß eine geringe Änderung der Form des zurückkehrenden Bumerangs — im Größenverhältnis, in der Schraubenwindung und der Wölbung — eine entsprechende Änderung seiner Flugbahn bewirken würde, was durch Gleichungen bewiesen werden kann.“
Du magst dich fragen, wieso es uns möglich ist, ohne Reißbrett oder Präzisionsinstrumente eine solche Präzisionswaffe zu verfertigen. Wir kennen ihre Form auswendig, denn wir sind von Kindesbeinen an damit vertraut. Als einzige Werkzeuge dienen uns ein Meißel, aus einem Tierzahn verfertigt, ein tula oder Grabstichel, den wir mit Hilfe einer nach außen gewölbten Schneide von Quarz abgespalten haben, und Feuerstein sowie andere Steine zum Glätten. Doch wie sorgfältig ausgewogen und wie prachtvoll poliert ist das fertige Gerät! Könntest du einen Bumerang verfertigen? Oder könntest du einen werfen?
Hast du gewußt, daß es zweierlei Bumerange oder Wurfhölzer gibt und daß wir für die Jagd nicht den Bumerang verwenden, der zum Werfenden zurückkehrt, sondern die andere Art? Dieses Wurfholz ist ebenfalls sehr sorgfältig verfertigt und hat eine ähnliche Form, aber die beiden Arme sind nicht windschief, was zur Folge hat, daß dieses Wurfholz kein Geräusch verursacht. Wäre das der Fall, dann würde das grasende „Känguruh“ das Herannahen dieses Wurfgeschosses hören. Das Wurfholz dreht sich so schnell, daß es auf eine Entfernung von fast 200 Metern tödlich wirkt. Der zurückkehrende Bumerang wird nur als Sportgerät benutzt und zur Jagd eines einzigen Tieres — der schlauen Enten, die wir zum Abendbrot haben werden.
Diese klugen Vögel stellen Wachen auf, damit sie in Ruhe fressen können. Wir müssen daher eine List anwenden. Eine Gruppe von Jägern verteilt sich und kriecht vorsichtig an das Ufer eines Gewässers, von wo aus einer von ihnen eine Wiederkehrkeule über das Wasser schleudert. Das Geräusch des sich drehenden Wurfholzes gleicht dem Geräusch, das die Flügel eines Habichts erzeugen, der auf Beute aus ist. Die Wache gibt Alarm, und die Enten fliegen auf; nun können wir sie leicht mit unseren Wurfhölzern abschießen. So kommen wir zu dem Entenbraten, den wir heute abend haben werden.
Unsere Fähigkeit, Bumerange zu verfertigen, hat die Aufmerksamkeit anderer Völker erregt; aber das ist nur eine unserer Fertigkeiten. In unserer Erinnerung haben wir einen großen Vorrat an Kenntnissen zur Bewältigung der Natur: Wir werden mit den Gewohnheiten der Tiere vertraut; wir lernen ihren Ruf kennen und nachahmen; wir lernen im voraus erkennen, aus welcher Richtung der Wind kommen wird, ferner lernen wir zierliche Harpunen für den Fischfang verfertigen und werfen, aus Tierhäuten oder Holz wasserdichte Behälter herstellen, Quarz abspalten und gezähnte Speerspitzen daraus anfertigen, Reusen und Flöße bauen sowie Boote, indem wir Baumstämme aushöhlen. Wir verhindern, daß die Tiere uns wittern, indem wir uns mit Lehm beschmieren, ferner tarnen wir uns mit Zweigen, und wenn eine Beute in unsere Richtung schaut, können wir augenblicklich erstarren.
Nicht das Ergebnis einer Entwicklung
Bist du erstaunt darüber, daß ich deine Aufmerksamkeit immer wieder auf unsere Fähigkeiten lenke? Verstehe mich bitte nicht falsch; ich möchte nicht prahlen. Ich tue es wegen einer Theorie, die man aufgestellt hat und die in Verbindung mit der Gott verneinenden Abstammungslehre steht, der Theorie nämlich, daß die Ureinwohner Australiens eine Art Überbleibsel der „fehlenden Bindeglieder“ wären. Du hast Bilder gesehen, auf denen Höhlenbewohner dargestellt sind, so, wie der Künstler sie sich vorgestellt hat, halb Mensch, halb Tier, mit Fähigkeiten, die sich nur wenig vom tierischen Instinkt unterscheiden. Solche Wesen haben außerhalb der pseudowissenschaftlichen Bücher nie existiert. Aber weil wir Australier keine Häuser bauen, sondern in Höhlen hausen, und keine Maschinen benutzen, wird von Verfechtern dieser Theorie behauptet, wir wären mit solchen Geschöpfen eng verwandt. Bestürzt? Natürlich sind wir das!
Dazu möchte ich folgendes sagen: Ausschlaggebend für den Unterschied zwischen den anscheinend rückständigsten und den fortschrittlichsten Völkern sind ihre kulturellen Entwicklungsmöglichkeiten. Andere Völker haben mit Hilfe der Druckpressen ein gewaltiges Wissen in Bibliotheken gespeichert, wir haben das nur in unserer Erinnerung. Wer behauptet, solche Völker seien zufolge ihrer fortgeschrittenen Technik höher entwickelt, gibt sich einer Täuschung hin. Wir können es mit ihrem reichen Schatz gesammelter Kenntnisse nicht aufnehmen, aber können sie es mit unserem Schatz von Kenntnissen aufnehmen? Das veranschaulicht, was ich meine: Die einzelnen Völker haben ihre Fähigkeiten je nach ihren Bedürfnissen auf dieses oder jenes Gebiet konzentriert.
Vor einigen Jahren wurde in einem Zeitungsartikel über ein kleines afrikanisches Mädchen berichtet, das von einem Stamm, der noch Menschenfresserei betreibt, ausgesetzt worden war. Dieses Mädchen wurde von Amerikanern gefunden, und dann in Amerika erzogen. Es besuchte ein College und vermochte mit den übrigen Studenten nicht nur Schritt zu halten, sondern überflügelte sie sogar. Entscheidend ist also nicht der Geburtsort, sondern sind die Bildungsmöglichkeiten.
Es heißt, die Kompliziertheit der Sprache sei ein Gradmesser für die Intelligenz eines Volkes. Wir wollen daher einen Blick auf unsere Sprachen werfen. Es gibt jetzt fünfhundert verschiedene australische Sprachen, die jedoch alle von einer Sprache herstammen. Ich habe bereits erwähnt, daß wir uns immer noch mit Hilfe der Zeichensprache verständigen, aber auch unsere gesprochene Sprache ist ziemlich kompliziert. Die Grammatik, die Wortfolge und der Wortschatz sind unterschiedlich. Während das Deutsche vier Hauptwortfälle hat, haben einige unserer Sprachen neun. Einige haben drei grammatische Geschlechter im Gegensatz zu zweien in der französischen Sprache. Im Deutschen gibt es sechs Konjugationsformen, bei uns dagegen elf.
Unsere Gesellschaftsordnung
Vermögen nicht unsere Ordnungen und unsere Kultur Achtung einzuflößen? Obwohl jeder Stammesbezirk festgelegte Grenzen hatte, bedeutet das nicht, daß die Verbindungen zwischen den einzelnen Stämmen dadurch behindert worden wären. In Zeiten der Dürre war es notwendig, das Wasser und die Nahrungsmittel zu teilen. Die Verbindung zwischen den einzelnen Stämmen wurde durch Gesandte aufrechterhalten, die eine Art Stammestotempfahl trugen, durch den sie sich als Gesandte auswiesen. Wer den Pfahl trug, durfte ungehindert fremdes Gebiet betreten, um über den Austausch von Bräuten zu verhandeln, um für seinen Stamm um die Erlaubnis zu bitten, Nahrung oder Wasser zu holen, usw. Auf diese Weise wurden friedliche Beziehungen gewährleistet.
Die soziale Organisation innerhalb jedes Stammes war ebenfalls vorzüglich entwickelt. Bei einigen Stämmen herrschte die vaterrechtliche Gesellschaftsform, bei anderen bestimmte ein Ältestenrat alles. Mehrere Stämme gingen unbekleidet, dennoch herrschten strenge Sitten. Jeder Mann hatte das Recht, eine ehebrecherische Frau samt ihrem Geliebten mit dem Speer zu töten. Mit der Ausbildung der Kinder wurde schon früh begonnen; die Mädchen lernten das Spurenfinden sowie Insekten und Eidechsen zu sammeln und zuzubereiten; die Jungen lernten das Spurenfinden, das Jagen sowie Geräte zu verfertigen und zu gebrauchen; ferner wurden ihnen die Gesetze des Stammes und die Gesetze, die das Verhältnis zwischen den Stämmen regelten, eingeprägt.
Du bist nicht aufmerksam! Lenkt dich der Lärm ab? Es ist Wanju, er übt auf seinem „didgeridoo“ für den Korrobori, der heute abend aufgeführt werden wird. Komm, wir wollen zusehen.
Bei diesen Korroboris wird ein großer Teil unserer „Traumzeit“, der Traditionen unseres Stammes, unserem Gedächtnis eingeprägt, denn darin werden Gesetze, Sitten und Jagdmethoden versinnbildet. Der Tanz, der jetzt beginnt, zeigt zum Beispiel, wie wir jagen. Wie geschickt diese Männer das Känguruh nachahmen. Die anderen stellen die Jäger dar, die das Tier anschleichen. Während des Tanzes werden Tierstimmen imitiert. Beobachte einmal die Kinder, wie aufmerksam sie den Tanz verfolgen und sich dabei alles gut einprägen. Jetzt wird ein geschichtliches Ereignis dargestellt: als der Stamm vor einer großen Überschwemmung gerettet wurde, der die ganze übrige Menschheit zum Opfer fiel. Auch Ereignisse aus der Neuzeit werden in den Korrobori eingeflochten. Jetzt stellen sie zum Beispiel dar, wie ein Film gedreht wird, eine Begebenheit, die sie einmal beobachtet haben. In jedem Tanz wird ein Drama, eine Tragödie oder eine Komödie dargestellt; aber sie wurzeln immer in der Stammesgeschichte.
Wie wir hierhergekommen sind
Als jemand mir eine Bibel schenkte und ich darin den Bericht über die große Überschwemmung las, die vorhin in dem Tanz dargestellt worden ist, war meine Überraschung groß. Ich begann darüber nachzusinnen, wie wir Ureinwohner Australiens von Sinear hierhergekommen sind. Aus allem, was ich darüber gelesen habe, ist ersichtlich, daß das niemand genau weiß. Es gibt so viele Meinungen darüber wie Leute! Bestimmte Tatsachen lassen sich indessen herausschälen und sind eine gewisse Hilfe. Dazu gehört die Tatsache, daß wir nicht negroider, sondern indogermanischer Abstammung und aus dem Norden eingewandert sind.
Unsere Vorväter sind wahrscheinlich von Insel zu Insel gefahren und schließlich an der Küste Australiens gelandet; darauf haben sie sich über den ganzen Kontinent ausgebreitet und sich jedem Gebiet angepaßt, in dem sie gelebt haben; allmählich entstanden Stämme, es entwickelten sich örtliche Sitten, auch sprachliche Eigenarten bildeten sich heraus, und die Stammesgebiete wurden abgegrenzt. Die Kenntnisse und Fertigkeiten, die sie besaßen, paßten sie der neuen Umgebung an und eigneten sich mit der Zeit entsprechend ihren Bedürfnissen weitere an. Sie wurden Spezialisten darin, den Kampf ums Dasein in einem trockenen Land zu bestehen. Da sie mit den übrigen Ländern keine Verbindung hatten, blieben sie auch von dem Strom des Allgemeinwissens, der von einem Land zum andern floß, abgeschnitten, und so entstand die Kultur, die die ersten europäischen Siedler antrafen, als sie 1770 u. Z. landeten.
Zwei völlig verschiedene Kulturen trafen jetzt aufeinander. Da die Neuankömmlinge nichts von unseren Gebietsgrenzen und unserer Wirtschaftsweise wußten, schlossen sie, das Land gehöre niemandem, und begannen, ihre Entdeckung auszubeuten. Anfänglich waren wir tolerant, aber dann kam es doch zum Krieg. Sie kämpften mit dem Gewehr, wir mit dem Speer. Die Neuankömmlinge eroberten immer mehr von unserem Land, und wir, die Ureinwohner, wurden in Reservationen zusammengedrängt. Wir mußten zusehen, wie unsere Wälder der Axt, dem Feuer und dem Bulldozer zum Opfer fielen; wir wurden Zeuge davon, wie verschiedene Tierarten ganz oder beinahe ausgerottet wurden. Der Grabstock und der Traktor rangen miteinander, und der Traktor gewann.
Gewann er wirklich? Viele Quadratkilometer des Landes sind jetzt eine Staubwüste; fruchtbare Erde wird ins Meer geschwemmt; die Flüsse sind verschmutzt. Insektizide untergraben das Gleichgewicht zwischen Insekten, Vögeln und Landtieren; und jetzt bedrohen sie sogar den Menschen. So, wie die Ureinwohner in Reservaten leben, so kommen viele ungewöhnliche Tiere nur noch in kleinen Gebieten vor, und ihre Zahl nimmt ständig ab.
Lediglich in den riesigen Trockengebieten Inneraustraliens leben noch Ureinwohner so wie in alter Zeit. Zu diesen gehört der Pintubi-Stamm, den ein Journalist aus Melbourne vor einiger Zeit (1957) in der Wüste Gibson, etwa 1 000 Kilometer westlich von Alice Springs, entdeckt hat. In seinem Bericht über diese Eingeborenen hieß es u. a.: Sie hatten bis dahin noch nie einen Weißen gesehen, auch kein Geld, keine Fische und kein Mehl; sie jagten mit gezähmten Dingos, aßen Nagetiere und Eidechsen, gingen unbekleidet, hatten sich noch nie gebadet und sprachen nur im Flüsterton.
Ob ich den Wunsch verspüre, wieder so ein Leben zu führen wie sie? Nein! Früher sehnte ich mich zurück in unsere „Traumzeit“, in die Geborgenheit der Vorzeit, aber heute tue ich das nicht mehr. Weißt du, ich habe in den letzten Jahren vieles kennengelernt, was die Bibel über die Zukunft der Menschheit sagt, daß die ganze Erde ein Eden werden soll. In unseren „Träumen“, den Überlieferungen unseres Stammes, kommt so etwas nicht vor. Anstatt mich nach unserem früheren Leben zurückzusehnen, sehne ich mich jetzt nach dem, was die Zukunft uns bringen wird, und hoffe, einen Anteil daran zu haben, das Land in Australien zu bebauen; ich hoffe, sehen zu dürfen, wie in den Wüsten Wasserbäche hervorbrechen, hierzusein, wenn meine Vorväter von den Toten auferstehen, ihnen die frohe Botschaft von Jehovas Königreich übermitteln und ihnen so etwas zu ihren „Träumen“ hinzufügen zu dürfen und sie zu ermuntern, wie ich mitzuhelfen, unseren schönen Kontinent in ein Paradies umzugestalten.
[Bild auf Seite 23]
Feuermachen mit Hilfe eines Reibholzes