Wir wollen unsere fremdsprachigen Nachbarn besser kennenlernen
Vom „Awake!“-Korrespondenten in der Bundesrepublik Deutschland
„Wie heißt das Land, welches die Sonne küßt,
das zu jeder Stunde blüht und herrlich ist?
Wie heißt das Land, wo der Parthenon leuchtet,
in dem zu jeder Stunde ein blauer Himmel prangt?“
Ein schönes, ziemlich dickes Album — aufgeschlagen auf der ersten Seite — liegt vor uns. Das Land, das in dem Album beschrieben wird, wird durch eine einfache Skizze dargestellt, die aussieht wie eine große Hand, die in das Meer hinausragt und sich einer Vielzahl von Inseln entgegenstreckt. Der Vers — in leuchtenden Buchstaben auf die Skizze gedruckt — bringt uns zum Nachdenken. Welches Land? Wir lesen ihn zu Ende:
„Es ist Hellas, genannt Griechenland!“
Taki — eigentlich heißt er Dimitrios — freut sich, daß er uns etwas über seine Heimat erzählen kann. Zu unserer Frage, warum die Griechen „Hellenen“ genannt werden und ihr Land „Hellas“, sagt er, daß es viele „Erklärungen“ gibt. Was wirklich stimmt, weiß man aber nicht. Zum Beispiel wird behauptet, die Bezeichnungen hätten etwas mit dem alten Orakel von Dodona in Epirus zu tun. Die Priester, die ihren Dienst dort in weißen Gewändern verrichteten, wurden „Selloi“ oder „Helloi“ genannt, und von dieser Bezeichnung sollen die Griechen ihren Namen erhalten haben.
Gemäß der Brockhaus Enzyklopädie waren die Hellenen „ursprünglich [ein] griech. Stamm in Südthessalien“, der „nach einem mythischen Stammvater Hellen“ genannt wurde. Es heißt weiter: „Von hier breitete sich der Name im 7. Jahrh. auf alle Griechen aus.“
Wir haben Taki aufgesucht, um unsere griechisch sprechenden Nachbarn — immerhin gibt es etwa 300 000 Griechen in der Bundesrepublik — besser kennenzulernen. Die Rührigkeit, der Fleiß und die Geschicklichkeit dieser Menschen sind uns schon bekannt, aber sicherlich gibt es viel mehr über sie zu erfahren. Unser Gastgeber schlägt die nächste Seite seines Albums auf. Das erste Kapitel ist der Geographie Griechenlands gewidmet.
Eine kurze Reise durchs Land
Ein schönes Bild von Athen, der Hauptstadt Griechenlands, erinnert uns an Urlaubsgrüße, die wir von deutschen Freunden einmal von dort erhalten haben. Zusammen mit seiner Hafenstadt Piräus ist Athen die Heimat von über 2 500 000 Griechen — mehr als ein Viertel der Bewohner des Landes. Der Name der Stadt ist von dem Namen der alten Göttin der Weisheit, „Athene“, abgeleitet. Der berühmte Tempel der „Athene“ auf dem Akropolishügel, der Parthenon, beherrscht die ganze Ebene Athens, und nachdem man den steilen und felsigen Weg bis zum Gipfel des Hügels bezwungen hat, genießt man von dort aus eine herrliche Aussicht auf die ganze Stadt. Der Tempel erinnert uns daran, wie sehr die griechische Geschichte von der Religion beeinflußt wurde.
Griechenland ist aber mehr als Athen. Blättern wir weiter. Südwestlich der Hauptstadt — wie ein Ahornblatt auf das gleißende Wasser des Meeres geworfen — liegt die Halbinsel Peloponnes. Von dem früheren Ruhm der auf dem Peloponnes gelegenen Stadt Sparta, die neben Athen eine bedeutende Rolle in der Geschichte Griechenlands gespielt hat, ist nicht mehr viel zu sehen. Die Menschen, die heute auf dieser Halbinsel wohnen, ernähren sich von der Landwirtschaft. Sie müssen hart arbeiten, um die zum Leben notwendigen Dinge erwerben zu können. Köstliche Früchte des Landes gedeihen hier in Fülle: goldgelbe Weintrauben, süße Feigen, Oliven und wohlschmeckende Apfelsinen. Und überall der angenehme Duft von Thymian, Oregano und Lorbeer!
Keine Reise durch Griechenland wäre vollständig, meint Taki, ohne den bedeutendsten Teil des Landes — mindestens was die Ausdehnung und den Reichtum betrifft — zu besuchen. Mazedonien, umgeben von bewaldeten Bergen, liegt im Norden Griechenlands. Dort wuchs der berühmte Alexander der Große auf. Die Hauptstadt, Thessaloniki, wurde von König Kassandros, einem der vier Nachfolger Alexanders, gegründet und nach dem Namen seiner Frau genannt. Als sich später die römische Weltmacht nach Osten hin ausdehnte, wurde Thessaloniki zu einem bedeutenden hellenistischen Zentrum. Die berühmte Heer- und Handelsstraße Via Egnatia führte von Italien über Thessaloniki bis nach Istanbul.
Zu Griechenland gehören aber auch noch eine große Zahl Inseln — Rhodos, Kreta, Korfu, Naxos und Andros, um nur fünf der über 400 „bedeutenderen Inseln“ zu nennen. Die Lebensverhältnisse ihrer Bewohner unterscheiden sich stark von denen der Bewohner des Festlandes. Und obwohl jede Insel ihre eigene Schönheit und ihre speziellen Merkmale hat, sind doch ihre Bewohner in der Mentalität ziemlich gleich. Unser griechischer Freund drückt sich fast poetisch aus, als er sagt: „Wenn ihr Leben harmonisch und ruhig verläuft, scheinen sie — gleich dem stillen, unbewegten Wasser des sommerlichen Meeres — froh und optimistisch zu sein, wenn aber Probleme und Schwierigkeiten auftreten, sind sie — gleich dem stürmischen, schäumenden Meer im Winter — eher melancholisch und pessimistisch.“
Nicht nur die geographische Lage des Landes, sondern auch die Vergangenheit des griechischen Volkes hat seine Mentalität stark geprägt. Das nächste Kapitel beschäftigt sich mit dem Glanz der Vergangenheit.
Das glanzvolle Griechenland der Vergangenheit
In dem Griechenland der Antike wurde unter anderem viel Wert auf Schönheit gelegt. Dies wird durch die griechische Kunst aus der damaligen Zeit veranschaulicht. Das Album ist voll von Aufnahmen, die dies bestätigen — ausdrucksstarke Skulpturen, realistisch und unübertroffen in ihrer Schönheit. Auch die Aufnahmen von Bauwerken lassen die Vielfältigkeit der griechischen Baukunst erkennen: von dem kraftvollen und strengen dorischen Baustil bis zu der gefühlsbetonten ionischen Bauweise.
Diese Liebe zur Schönheit schlug sich sogar in der körperlichen Erziehung nieder, auf die viel Wert gelegt wurde. Jünglinge wurden dazu erzogen, an sportlichen Wettkämpfen teilzunehmen, wobei sie nach ihrer Tapferkeit, Schönheit und Gelenkigkeit beurteilt wurden. Es gab vier Wettkämpfe für ganz Griechenland. Die Teilnahme erstreckte sich auf fünf Disziplinen: Laufen, Springen, Diskuswerfen, Ringen und Speerwerfen. Den Namen eines dieser Wettkämpfe kennen wir sogar heute noch: die Olympischen Spiele.
Zusammen mit der körperlichen Erziehung wurde nach dem Grundsatz „Gesunder Sinn — gesunder Körper“ auch für die „Schönheit des Gedankenguts und der Ideen“ gesorgt. Deshalb hat das alte Griechenland „große Denker“ und „große Schriftsteller“ hervorgebracht. Im Album stoßen wir auf viele bekannte Namen: die Historiker Herodot und Thukydides, die Philosophen Sokrates, Platon und Aristoteles, die Rhetoriker Isokrates und Demosthenes und viele, viele andere.
Seite für Seite gehen wir Takis Album durch und staunen über den Glanz und den geistigen Reichtum, die zur Zeit der großen Blüte im fünften und vierten Jahrhundert v. u. Z. herrschten. Während dieser Zeit, nämlich im 4. Jahrhundert, wurde Griechenland unter Alexander dem Großen zur unangefochtenen Weltmacht.
Merkmale des griechischen Volkes
Trotz des Ruhmes der Vergangenheit ist das Leben der heutigen Griechen oft schwer und hart. Deshalb sind sie sparsam und genügsam. Das schwierige Leben ließ sie erfinderisch, arbeitsam und ehrgeizig, aber auch gastfreundlich und mitleidig werden.
Im allgemeinen halten sie noch heute an den ihnen überlieferten Sitten und Bräuchen fest. Der Familiensinn ist bei ihnen sehr stark ausgeprägt. In der Familie wird gemeinsam geplant und gehandelt, Probleme werden gemeinsam gelöst und Freuden gemeinsam genossen. In der Regel wird mit unerschütterlicher Treue an dem Grundsatz der Familieneinheit festgehalten. Der Vater wird als Familienhaupt respektiert, was bedeutet, daß auch seine religiöse Einstellung von allen Familiengliedern meistens akzeptiert wird.
Aus alter Gewohnheit, aber auch wegen der relativ großen Arbeitslosigkeit in Griechenland, verbringen die Männer viele Stunden in den Kaffeehäusern, von denen es im ganzen Land eine wahre Fülle gibt. „Reden können wir auch hier in Deutschland“, meint Taki, „aber die gemütlichen Kaffeehäuser vermissen wir doch!“
Ja, Griechen unterhalten sich gern, manchmal stundenlang und manchmal sogar ziemlich heftig. Heute mag das Hauptthema die Politik sein, morgen der Sport. Dieses ausgeprägte Verlangen nach Unterhaltung ist ein bezeichnendes Charaktermerkmal der Griechen. In alter Zeit wurden die Gespräche im Freien — genauer gesagt auf dem Markt — geführt.
Gemäß dem Bibelbericht aus Apostelgeschichte 17:21 verbrachten die Athener „ihre Mußezeit mit nichts anderem als nur damit, etwas Neues zu erzählen oder anzuhören“. Die Stoiker und die Epikureer — Anhänger von zwei philosophischen Richtungen jener Epoche — zogen durch ihre Streitgespräche immer viele Menschen an. Als der Apostel Paulus auf seiner zweiten Missionsreise in Athen weilte, nahm er die Gelegenheit wahr, zu diesen Leuten über den christlichen Glauben zu sprechen.
Die Griechen hatten von alters her ein religiöses Empfinden. Sie beteten eine Reihe von zwölf Gottheiten an, die ihren Wohnsitz — wie man dachte — auf dem über 2 900 Meter hohen Olymp, dem höchsten Berg Griechenlands, hatten. Für die Anbetung wurden Altäre und Tempel errichtet sowie Götterstatuen von hohem künstlerischem Wert angefertigt, und den Göttern wurden Opfergaben aus Wein, Milch und Honig dargebracht.
Neugier und ganz besonders das Verlangen nach Erfolg und Sieg führten die Menschen zu den Orakeln von Delphi und Dodona. Besondere Wahrsager erklärten dort die Orakelsprüche, wobei sie gleichzeitig den Willen der Götter offenbarten.
Unter Berücksichtigung dieser Umstände wählte der Apostel Paulus für seine berühmte Ansprache auf dem Areopag eine sehr gute Einleitung. (Siehe Apostelgeschichte 17:22, 23.) Sein Bemühen, die Griechen mit dem wahren Gott bekannt zu machen, hatte positive Ergebnisse.
Ein Blick in die Zukunft
Es wird den Griechen von heute manchmal vorgeworfen, sie würden sich zu sehr mit der Glanzzeit der Vergangenheit identisch fühlen, obwohl diese Zeit doch schon mehr als zwei Jahrtausende zurückliege. Es sei dahingestellt, ob dieser Vorwurf berechtigt ist oder nicht. Tatsache ist jedenfalls, daß einige Griechen sehr stolz darauf sind, daß ein Teil der Heiligen Schrift in „ihrer“ Sprache geschrieben wurde, obwohl es den meisten von ihnen heute schwerfällt, das Altgriechisch zu entziffern und zu lesen.
Tatsache ist aber auch, daß es viele Griechen gibt — zu dieser Gruppe gehört unser Gastgeber —, die lieber in die Zukunft als zurück in die Vergangenheit schauen. Warum? Weil sie eine Botschaft gehört haben — einige schon in Griechenland und andere erst in Deutschland —, die ihr Leben grundlegend geändert hat und ihnen eine wunderbare Hoffnung für die Zukunft gibt. Es ist die gleiche Botschaft wie die, die Paulus damals in Athen verkündigte: die Botschaft vom Königreich Gottes.
Unter der gerechten Herrschaft dieses Königreiches wird die Erde zu einem Paradies wiederhergestellt werden. In diesem Paradies möchten viele unserer fremdsprachigen Nachbarn leben. Der schon längst verblichene Glanz von „Hellas“ wird einen Vergleich mit der geistigen und physischen Schönheit dieses neuen Systems nicht aushalten können. Erst unter Gottes Königreich wird man wirklich sagen können, und zwar in bezug auf die ganze Erde:
„Das Land, welches die Sonne küßt,
das zu jeder Stunde blüht und herrlich ist.“