Unser Sohn — behindert!
DIE Spannung wuchs! Unser erstes Kind sollte bald geboren werden. An diesem Tag war ich im Krankenhaus, allerdings nicht wie üblich mit dem Skalpell in der Hand, sondern mit einer Kamera, um das große Ereignis im Bild festzuhalten. Als das kleine Köpfchen allmählich erschien, schlug mir vor Aufregung das Herz bis zum Hals. Mein Sohn und Erbe! Doch dann — welch eine Enttäuschung! Er war offensichtlich behindert — eine Lippenspalte (Hasenscharte) und, wie man später feststellte, auch eine Gaumenspalte! Ich war wie vom Schlag gerührt; dann packte mich eine tiefe Verzweiflung, und ich begann zu zittern wie Espenlaub. Meine Frau erhielt sofort eine Beruhigungsspritze, damit ihr der gleiche Schock erspart blieb. Mir schossen die Tränen in die Augen, als ich den Kreißsaal verließ.
Nachher, auf der Säuglingsstation, weinte ich bitterlich aus lauter Enttäuschung. Warum gerade wir? Unser erstes Kind! Warum mußte uns das passieren? Wie würde Isaura, meine Frau, es aufnehmen? Als ich meine Fassung zurückgewann, begann ich vernünftiger zu denken.
Ich überlegte, daß wir, wie die Bibel ja lehrt, alle unvollkommen und für Leiden, Krankheiten und Gebrechen anfällig sind. Unser Kind wurde mit einer Behinderung geboren, weil wir, seine Eltern, unvollkommen sind. Die Behinderung mußte eine genetisch bedingte oder eine umweltbedingte Ursache haben. Wir, die Eltern, haben die Unvollkommenheit von unseren Vorfahren (ursprünglich von unseren Ureltern, Adam und Eva) ererbt. Ich war froh, nicht Gott die Schuld an dem, was ich als riesige Enttäuschung empfand, zugeschoben zu haben (Psalm 51:5; Römer 5:12).
Natürlich überlegte ich auch aufgrund meiner medizinischen Kenntnisse als Arzt, was zu dieser Mißbildung geführt haben konnte. Es gibt keinen Einzelfaktor, den man als die Ursache bezeichnen könnte. Streß, Medikamente wie Antibiotika oder empfängnisverhütende Mittel, Umweltverschmutzung und Vererbung gelten als mögliche Ursachen.
Wie die schwierige Aufgabe bewältigen?
Was immer die Ursache der Behinderung war, für uns stellte sich nun die Frage: Wie können wir die schwierige Aufgabe bewältigen? Mir fiel ein, daß ein früherer Studienkollege von mir auch mit einer Gaumen- und einer Lippenspalte geboren und später operiert worden war. Aber wie schwer war es als Kind für ihn gewesen, sich verständlich zu machen! Ganz besonders aber dachte ich an die psychologischen Probleme, die unser Sohn wegen liebloser Äußerungen anderer oder weil sie ihn vielleicht sogar nachäfften, haben würde. Konnten wir ihn darauf vorbereiten, daß er solchen Erfahrungen gewachsen war? Eine Frage, die mich im Augenblick noch mehr bedrückte, war: Wie sage ich es meiner Frau, damit es sie nicht allzu hart trifft? Ich hatte schon einmal einen Anlauf genommen, dann aber fluchtartig das Zimmer verlassen, weil mir die Tränen gekommen waren.
Am zweiten Tag fragte Isaura ungeduldig nach ihrem Kind. „Was ist mit unserem Kind nicht in Ordnung? Ich möchte es sehen“, sagte sie. Entgegen meinem sonstigen Verhalten als Arzt am Krankenbett sagte ich es ihr unter Tränen. „Ist das alles?“ antwortete sie zu meinem Erstaunen. „Hauptsache ist doch, daß der Junge lebt. Ich wäre sehr traurig, wenn er tot geboren wäre; er ist doch unser Kind, und er lebt! Ich will für ihn tun, was ich nur kann.“
Die Gelassenheit meiner Frau überraschte mich völlig, und als ich sah, mit welcher Zärtlichkeit sie das Kind in die Arme nahm, schämte ich mich noch mehr über mein anfängliches Verhalten. Später, als ich in sie drang, antwortete sie: „Natürlich wußte ich, daß mit dem Kind etwas nicht in Ordnung war. Ich hatte doch nur eine Lumbalanästhesie und konnte alles beobachten, was vor sich ging, weil die Lampe es widerspiegelte. Ich sah, daß das Kind einen Defekt hatte, aber ich wußte nicht, wie ernst er war. Meine größte Angst war, daß es tot geboren sein könnte. Wie glücklich machte mich deshalb sein erster Schrei!“ Ich hatte mir ganz umsonst Sorgen gemacht!
Wir begannen die Probleme allmählich zu begreifen, die das Aufziehen unseres Kindes mit sich bringen würde. Wie jeder Säugling, der mit einer Gaumenspalte geboren wird, so konnte auch unser Söhnchen nicht gestillt oder mit der Flasche gefüttert werden. Wir mußten Isaura die Milch abpumpen und sie dann dem Kind mit einem winzigen Löffel vorsichtig eingeben.
Die Behandlung beginnt
Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie etwas mit Gaumenspalten zu tun gehabt, außer daß ich einmal dabei war, als ein solches Kind geboren wurde. Deshalb begannen wir Bücher, besonders Bücher über die Behandlung dieser Mißbildung, zu wälzen. Bei meinen Nachforschungen stieß ich auf die Anschrift eines „plastischen Chirurgen“. Dieser verwies mich an das staatliche Krankenhaus für die Behandlung von Lippen- und Gaumenspalten in Bauru (Bundesstaat Sao Paulo, Brasilien), das liebevoll O Centrinho (kleine Klinik) genannt wird. Dort sagte man uns: „Wir werden Ihr Söhnchen gern behandeln, aber erst, wenn es drei Monate alt ist.“ Bis dahin sollten wir unser Bestes tun und den Kleinen so füttern, wie wir es bereits getan hatten. Ein wenig enttäuscht fuhren wir nach Hause, nicht ganz überzeugt, auf dem richtigen Weg zu sein.
Die drei Monate kamen uns sehr lang vor. Schließlich fuhren wir an dem bestimmten Tag schon früh nach Bauru. Was wir dort erfuhren, setzte uns in Erstaunen, vermittelte uns aber auch Hoffnung. Unser Söhnchen wurde an jenem Tag operiert, und in der Zwischenzeit wurden wir über die ganze Angelegenheit aufgeklärt. Man sagte uns, daß die erste Lippenoperation nur der Anfang sei und wir uns darauf vorbereiten müßten, daß sich diese Behandlung über mehrere Jahre hinziehen werde. Außer dem „plastischen Chirurgen“ würden während verschiedener Behandlungsphasen auch andere Spezialisten eingeschaltet: ein Kinderarzt, ein HNO-Arzt, ein Kieferorthopäde, ein Logopäde und schließlich noch ein Psychologe. „Wird er von allen diesen Leuten behandelt werden? Ist die Sache so ernst?“ fragten wir. „Ja, wahrscheinlich wird es nötig sein“, entgegnete man uns.
Der Kinderarzt würde unser Söhnchen für den Chirurgen vorbereiten, der die Lippenoperation und, etwa 18 Monate später, die Gaumenoperation durchführen würde. Man sagte uns auch, daß Kinder mit dieser Behinderung für Hals- und Ohreninfektionen anfällig seien; dafür sei dann der HNO-Arzt zuständig. Fast bei allen Kindern mit einer Gaumenspalte würden Gebißanomalien auftreten, deshalb sei eine Behandlung durch den Kieferorthopäden erforderlich, der sich nicht nur um die Milchzähne, sondern auch um das bleibende Gebiß kümmere. Personen mit einer Lippen- oder einer Gaumenspalte hätten außerdem Schwierigkeiten, deutlich zu sprechen. Um dieses Problem zu überwinden, sei eine Sprachtherapie erforderlich. Und der Psychologe betreue sowohl den Patienten als auch seine Eltern, indem er sie auf die Probleme vorbereite, die entstehen würden, wenn das Kind in der Schule und beim Spielen mit anderen Kindern in Berührung komme.
Die Vorträge und Interviews an jenem ersten Tag im Centrinho dauerten fast acht Stunden, doch danach begannen wir, die vor uns liegenden Probleme einigermaßen zu begreifen. Durch Dia-Vorträge erkannten wir die Notwendigkeit, Geduld zu üben, denn der Erfolg der Behandlung würde zu einem großen Teil von unserer Einstellung und unseren Bemühungen abhängen. Ich hörte auch, daß viele Eltern in unserer Lage ebenso reagieren, wie ich es anfänglich tat, ja ich reagierte noch sanft im Verhältnis zu anderen. Nicht selten lehnen Eltern das Kind ab mit den Worten: „Ich finde es furchtbar, ein solches Kind zu haben!“ Oder: „Daß das Kind so geboren wurde, ist eine Strafe für uns!“ Einige Eltern möchten das Kind am liebsten im Krankenhaus lassen und dann vergessen. Es gibt aber auch Eltern, die ein solches Kind wirklich lieben und alles in ihrer Macht Stehende tun möchten, um ihm zu helfen.
Die Schwierigkeit der Nahrungsaufnahme
Nach der Operation sah der Kleine schon viel hübscher aus, und mit der Zeit konnte man die Narben kaum noch sehen. Aber damit waren nicht alle Schwierigkeiten behoben. Da ihm das Munddach fehlte, war das Schlucken von Flüssigkeit ein echtes Problem. Saugen konnte er nicht, und wenn wir zuviel fütterten, lief ihm die Nahrung aus der Nase heraus. Auch galt es, stets wachsam zu sein, daß er nicht erstickte. Außerdem mußten wir ihn jede Woche zur Kontrolle in das Centrinho bringen. Im Laufe der Zeit lernten wir es aber, den Kleinen zu füttern und zu betreuen. Wir waren glücklich, als wir bemerkten, daß das, was uns von Anfang an gesagt worden war, stimmte: Seine Mißbildung wirkte sich in keiner Weise auf seine geistige Entwicklung aus. Wie freuten wir uns, zu sehen, daß er sich zu einem in jeder Hinsicht normalen, fröhlichen und aufgeweckten Kind entwickelte!
Wir waren dankbar für die Ratschläge, die wir im Centrinho erhielten, denn sie halfen uns, mit der Reaktion der Leute, die noch nie ein Kind mit einer Hasenscharte gesehen hatten, fertig zu werden. Ein Fall ist mir noch in lebhafter Erinnerung. Wir besuchten kurz nach Adners Geburt einen religiösen Kongreß. Eine Bekannte sagte: „Ach, du Armer! Er wird bestimmt bald sterben!“ Glücklicherweise konnten wir ihr erklären, was für eine Behinderung es war. Wir suchten den Defekt nicht zu verbergen, auch verwöhnten wir Adner nicht. Vielmehr bemühten wir uns, ihn wie ein gesundes Kind zu behandeln.
In den darauffolgenden Monaten mußten wir eine Entscheidung treffen. Wir dachten, es sei gut, wenn wir noch ein Kind hätten. Ein Einzelkind, das eine besondere Behandlung brauchte, konnte leicht verzogen werden. Sollten wir aber das Risiko eingehen, noch ein behindertes Kind zu haben? Wir beschlossen, es zu riskieren. Als dann die Zeit für Adners Gaumenoperation kam, war Isaura wieder schwanger.
Die Gaumenoperation war schwieriger und dauerte länger als die Lippenoperation. Uns belastete sie mehr, weil wir den Jungen erst sehen konnten, als er aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Doch wie glücklich waren wir, zu erfahren, daß auch diese Operation erfolgreich war! Nun, da die Lippe in Ordnung und die Gaumenspalte geschlossen war, konnte er endlich ohne Schwierigkeiten Nahrung aufnehmen. Eine weitere Hürde war genommen. Als nächstes mußte unser Sohn richtig sprechen lernen.
Deutlich sprechen lernen
Die Lippen- und die Gaumenoperation beeinträchtigten natürlich das Sprechen. Man kann das Problem des Kindes besser verstehen, wenn man sich überlegt, wie die Laute zustande kommen. Beobachte deinen Mund, wenn du Vokale aussprichst (a, e, i, o, u). Du wirst bemerken, daß du Mund und Lippen nur wenig bewegen mußt, um diese Laute zu bilden. Der Vokal ist ein Laut, bei dessen Artikulation die Atemluft verhältnismäßig ungehindert ausströmt. Nun versuche, Konsonanten zu bilden (b, c, d, f usw.). Merkst du, daß bei der Artikulation dieser Laute Lippen, Zunge oder Rachen stärker bewegt wird? Irgend etwas, was diese Bewegung behindert, erschwert die Bildung der Laute. Nun kannst du die Schwierigkeit verstehen, die ein Kind hat, das an der Lippe und am Gaumen operiert ist.
Vielleicht ist dir aufgefallen, daß Personen, die mit einer Gaumenspalte geboren wurden, beim Sprechen näseln. Das tun sie, weil die Atemluft zufolge des fehlenden Munddaches über die Stimmbänder auf eine Weise entweicht, daß die Sprache einen näselnden Klang erhält. Die Gaumenoperation hat den Zweck, die Spalte im Munddach zu schließen — eine sehr schwierige Operation. Bei unserem Jungen war sie erfolgreich, so daß seine Sprache kaum einen näselnden Klang hat, dennoch mußte er monatelang ins Centrinho zum Sprachunterricht, um deutlich sprechen zu lernen. Manchmal merkte er es offenbar selbst, wenn er etwas nicht verständlich aussprach, und korrigierte sich. Wir freuten uns sehr über seine Fortschritte. Im Alter von fünf Jahren konnte er deutlich sprechen, und von da an mußte er etwa ein Jahr lang nicht mehr regelmäßig ins Centrinho.
Die nächste Behandlungsphase wird die Beseitigung von Zahnfehlstellungen sein, wenn die bleibenden Zähne kommen. Bei Kindern, die mit einer Lippen- und einer Gaumenspalte geboren werden, sind sowohl die Milchzähne als auch die bleibenden Zähne meist in bezug auf Zahl, Form und Größe unregelmäßig, außerdem weisen sie Stellungsfehler auf. Einige brechen gar nicht durch. Mit Hilfe von Zahnspangen werden Zahnstellungsanomalien korrigiert, und in vielen Fällen werden fehlende Zähne durch Zahnprothesen ersetzt. Wir hoffen, daß diese Behandlung bei Adner problemlos verlaufen wird.
Hat sich die Mühe gelohnt?
Diese Frage haben uns einige gestellt. Es stimmt schon, daß wir uns in den fünf Jahren oft Sorgen gemacht haben. Eine starke Belastung — besonders für Isaura — waren die wöchentlichen Besuche im Centrinho. Auch gab es immer, nachdem unser Junge operiert worden war, schlaflose Nächte. Als wir jedoch beobachteten, wie schnell seine Lippe und sein Mund heilten, und wir feststellten, daß er allmählich besser sprach, konnten wir nur wiederholen, was der Psalmist einmal zum Ausdruck gebracht hatte: „Ich [bin] auf furchteinflößende Weise wunderbar gemacht“ (Psalm 139:14). Und wenn wir hören, wie er seinem kleinen Brüderchen (unser zweites Kind hat glücklicherweise keinen Geburtsfehler) aus Mein Buch mit biblischen Geschichten vorliest, gibt es nicht den geringsten Zweifel, daß wir richtig gehandelt haben.
Wir sind dem behandelnden Team im Centrinho für alles, was es für unser Söhnchen getan hat, dankbar, aber auch für das, was es noch für Kinder tun wird, die ebenfalls mit einer Gaumen- und einer Lippenspalte geboren werden. Vor allem sind wir jedoch dem erhabenen Schöpfer unseres wunderbaren Körpers dankbar, denn von ihm stammt die großartige Hoffnung, daß wir Menschen einmal in einer neuen Ordnung leben können, wo es keine Krankheiten und keine Gebrechen mehr geben wird. Von den vielen Bibeltexten, die uns mit Hoffnung erfüllen, finden wir folgenden ganz besonders ermunternd: „Zu jener Zeit werden die Augen der Blinden aufgetan werden, und die Ohren der Tauben selbst werden geöffnet werden. Zu jener Zeit wird der Lahme klettern wie ein Hirsch, und die Zunge des Stummen wird jubeln“ (Jesaja 35:3-6). (Eingesandt.)
„Mein Sohn, merke doch auf meine Worte. ... Denn sie sind Leben denen, die sie finden, und Gesundheit ihrem ganzen Fleische“ (Sprüche 4:20, 22).
[Herausgestellter Text auf Seite 13]
„Was ist mit unserem Kind nicht in Ordnung? Ich möchte es sehen.“