Junge Leute fragen sich:
Kann ich es besser machen als meine Eltern?
„SEI es auch noch so bescheiden, nirgends ist es so schön wie daheim.“ So heißt es in einem Lied aus früherer Zeit. Heute erfreuen sich zwar viele Jugendliche eines glücklichen und interessanten Familienlebens, auf andere hingegen trifft gerade das Gegenteil zu. Wer Schwierigkeiten zu Hause hat — Streit, Scheidung, ein alkoholsüchtiger Vater oder eine geisteskranke Mutter —, wird kaum in das oben erwähnte Lied einstimmen.
Sich aus dem Sumpf ziehen
Es ist kein schönes Gefühl, sich vorzukommen, als würde man sich in ausgefahrenen Gleisen bewegen, als wäre man aufgrund der Verhältnisse in der Familie oder in der Umgebung verloren. Eine junge Frau erzählte: „Im Alter von 14 Jahren war ich davon überzeugt, daß ich niemals eine glückliche Ehe führen könnte.“ Warum? Ihre Eltern stritten sich wegen jeder Kleinigkeit. Sie schrien sich an, fluchten und schleuderten Gegenstände umher, und das stundenlang, ununterbrochen. „Meine jüngere Schwester und ich befürchteten sogar, eine Geisteskrankheit geerbt zu haben. Wir stellten einen Stammbaum auf und forschten nach, ob irgendwelche Verwandten geisteskrank waren. Wir hatten Angst davor, zu heiraten und wie unsere Eltern zu werden.“
Wie erging es den Schwestern aber tatsächlich? Beide sind erwachsen und glücklich verheiratet. Sie sind sich nun darüber im klaren, daß sie auf die Situation zu Hause übertrieben reagierten, und erkennen, daß ihre Eltern auch ihre guten Seiten hatten.
Wie entscheidend sind die Kinderjahre für das spätere Leben? Die Eltern beeinflussen zwar weitgehend die Entwicklung eines Kindes, aber sie besiegeln nicht sein Geschick. Tatsächlich waren Experten überrascht, als sie beobachteten, wie Jugendliche trotz harter Schicksalsschläge — bittere Armut, geschiedene oder geisteskranke Eltern — ihr Leben meistern. Ein Psychiater sagte: „Trotz erbärmlicher Lebensbedingungen und entsetzlicher Erlebnisse gehen diese Kinder mit einer Sicherheit und Anpassungsfähigkeit an das Leben heran, die den Eindruck erwecken, als hätten sie sich diese Qualitäten selbst erworben.“
Forscher haben nun von psychisch widerstandsfähigen Kindern Notiz genommen und untersuchen dieses Phänomen.a Das Geheimnis dieser sogenannten „Superkinder“ besteht höchstwahrscheinlich zum großen Teil in der Beachtung des biblischen Grundsatzes: „Beglückender ist Geben als Empfangen“ (Apostelgeschichte 20:35). Es scheint, daß zugängliche Kinder mit einem gewinnenden Wesen — auch Kleinkinder — das Beste in ihren Eltern wecken. Solche Kinder werden von ihren Eltern besser behandelt als andere in derselben Familie, die unzugänglich, egozentrisch oder schwierig sind.
Eine Studie ergab, daß die „psychisch widerstandsfähigen Babys“ herzig, liebenswert, sehr lebhaft und leicht zu behandeln sind. Dr. Emmy Werner bemerkt: „Zugängliche, lebhafte Kinder können die Liebe und Aufmerksamkeit anfänglich teilnahmsloser oder depressiver Mütter gewinnen.“
Wer als Baby nicht so herzig und liebenswert war, kann heute ein zufriedenes und gewinnendes Wesen sowie die biblische „Frucht des Geistes“ entwickeln, nämlich „Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Glauben, Milde, Selbstbeherrschung“ (Galater 5:22, 23). Wie man durch Geld, das auf der Bank liegt, Gewinn erzielen kann, so helfen diese „gewinnenden“ Eigenschaften, mehr aus dem Zuhause „herauszuholen“, als man vielleicht erwartet.
Aus dem Zuhause größeren Nutzen ziehen
Selbst das bescheidenste Zuhause — deine vertraute Umgebung — erfüllt ein grundlegendes Bedürfnis, während du heranwächst. Zu Hause hast du sprechen gelernt, als du noch klein warst. Und selbst jetzt, wo du allmählich erwachsen wirst, kannst du weiterhin vieles über Menschen lernen und darüber, wie sie ihre Probleme bewältigen. Ein Experte auf diesem Gebiet schrieb: „Das Zuhause ist der Ort, wohin man die täglichen zwischenmenschlichen Erlebnisse mitnimmt, um sie zu überprüfen, zu beurteilen, einzuschätzen, zu verstehen, von allen Seiten zu betrachten, auseinanderzunehmen, aufzubauschen oder nicht weiter zu beachten, je nachdem.“
Was du zu Hause lernst, hängt jedoch davon ab, wie gut du diese „gewinnenden“ Eigenschaften zum Ausdruck bringst, nämlich Liebe, Freude, Frieden, Langmut und Selbstbeherrschung. Dr. E. James Anthony beobachtete, daß psychisch widerstandsfähige Kinder, selbst wenn sie psychotische Eltern haben, in einer zerrütteten Familie eine Oase der Normalität bilden können. „Sie verstehen es, aus wenig viel zu machen“, sagte er. „Sie würden in der Wüste eine Blume finden“ (Parents, November 1983).
Lernen, es besser zu machen
Man kann sich die Fähigkeit, „in der Wüste eine Blume“ zu finden, erwerben. „Ich war alles andere als ein ,Superkind‘“, gab Warren zu. „Ich mußte lernen, meine Angehörigen gern zu haben. Das muß man sich vorstellen!“ Warren kommt aus einer sehr armen Familie, die einer Rassenminderheit angehört und in einer wohlhabenden Gegend wohnte. Sein Vater war Alkoholiker und, wenn er nicht arbeitslos war, ein schlechtbezahlter Arbeiter. Kein Wunder, daß Warrens ältester Bruder straffällig wurde, im Gefängnis landete und nun an Depressionen leidet. Oder daß man seinem jüngeren Bruder eine psychiatrische Behandlung empfahl.
Wie konnte Warren sich aus dem Sumpf ziehen? Verschiedenes half ihm. Zunächst ging er gern zur Schule. Als die Lehrer seine guten Noten sahen, ermutigten sie ihn. Im Alter von zehn Jahren fing er an, mehr aus sich herauszugehen, nicht mehr so introvertiert zu sein. Er wollte lernen, ein Musikinstrument zu spielen. Er und seine Mutter interessierten sich für die Botschaft der Bibel. Im Königreichssaal der Zeugen Jehovas hatten sie bald einen anregenden Freundeskreis, bestehend aus Personen aller Altersgruppen, von denen sie als gleichwertig betrachtet wurden. Warren schaffte es, sich aus dem Sumpf zu ziehen. Und mit Warrens Hilfe hat sich auch sein jüngerer Bruder, der noch zu Hause lebt, ohne psychiatrische Behandlung prächtig entwickelt. Warren sagte: „Es ist großartig, anderen helfen zu können, und außerdem sieht die Zukunft gut aus.“
Selbstvertrauen erlangen
Warum sollte man sich also mit Zweifeln an sich selbst plagen? Befreie dich von Zweifeln, indem du dir mehr zutraust. Erweitere dein Interesse sowohl an Dingen als auch an Menschen. Gehe einem Hobby nach. Erwirb dir gute Freunde, indem du hilfreich bist. In Sprüche 17:17 heißt es: „In Notzeiten muß dir dein Bruder helfen, ein Freund steht dir immer bei“ (Die Bibel in heutigem Deutsch). Mit jedem Schritt nach vorn, wenn er auch noch so klein ist, wirst du dich verbessern und dein Selbstbewußtsein stärken.
Zwar haben deine Eltern und andere Erwachsene Schwächen, aber sie können dir auch vieles geben. Lerne, auf Erwachsene zuzugehen, anstatt dich von ihnen zurückzuziehen. Wenn du an Lehrern, Verwandten und an den Eltern deiner Freunde Interesse zeigst, werden deine Bemühungen reich belohnt werden. Und im Königreichssaal der Zeugen Jehovas gibt es viele hilfreiche, reife Christen, die an Jugendlichen interessiert sind.
[Fußnote]
a Man hat zum Beispiel eine Studie, die sich über 20 Jahre erstreckte, unter 300 Hawaiianern des Jahrgangs 1955 durchgeführt, die in den erbärmlichsten Verhältnissen aufwuchsen. Etwa 10 Prozent sind außergewöhnlich tüchtige Erwachsene geworden. Wie berichtet wird, können sie „gut arbeiten, gut spielen, gut lieben und gut hoffen“.
[Kasten auf Seite 15]
Eleanor, Albert und Thomas versetzen die Experten in Erstaunen
„Eleanor war ein recht hausbackenes Mädchen, das von seiner Mutter abgelehnt wurde“, pflegt Dr. Victor Goertzel, Forscher und Psychiater, seiner Zuhörerschaft, Studenten der Pädagogik, zu erzählen. Ihr Vater, ein Alkoholiker, trennte sich von ihrer Mutter. Als Kind war sie dafür bekannt, daß sie Süßigkeiten stahl und auch log. Einmal verschluckte sie sogar ein Geldstück, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Nachdem ihr Vater gestorben war, wurde sie zu ihrer verwitweten Großmutter geschickt. Dort lebten vier junge Onkel und Tanten von ihr. Ein Onkel trank und lief von zu Hause weg. Eine Tante, die an einer Liebschaft zerbrochen war, hielt sich in ihrem Zimmer eingeschlossen. Eleanor durfte keine Spielkameraden haben, nicht zur Grundschule gehen und wurde von ihrer Großmutter altmodisch gekleidet.
„Was ist wohl aus der 16jährigen Eleanor fünf Jahre später geworden?“ pflegt Dr. Goertzel die Zuhörerschaft zu fragen. Sie entwickelte sich weitaus besser als erwartet — Eleanor Roosevelt, gefeierte amerikanische Schriftstellerin und Dozentin, die Frau des Präsidenten der Vereinigten Staaten.
Dr. Goertzel führt außerdem oft den jungen Albert Einstein und Thomas Edison als Beispiele für Jugendliche an, die trotz trauriger Kindheit ihr Leben meisterten. Zu welchem Schluß kommen wir? Nicht, daß junge Leute diesen Berühmtheiten blind nacheifern sollten, sondern daß trotz einer ungünstigen Ausgangssituation etwas aus einem werden kann. Die Bibel sagt: „Schon durch seine Handlungen gibt sich ein Knabe zu erkennen“ (Sprüche 20:11).
[Bild auf Seite 14]
Viele Jugendliche fragen sich, ob sie sich von den Verhältnissen zu Hause und in ihrer Umgebung lösen können