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Vereinigte Staaten von Amerika (Teil 1)Jahrbuch der Zeugen Jehovas 1975
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Vereinigte Staaten von Amerika (Teil 1)
Unsere Erzählung beginnt in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Planwagen rollen noch über die offenen Ebenen und bringen Siedler in entfernte Teile des amerikanischen Westens. Riesige Herden von Bisons oder Büffeln — 1850 sind es etwa zwanzig Millionen — ziehen zwischen den Appalachen und den Gebirgszügen der Rocky Mountains umher.
Von 1861 bis 1865 verwüstet der schreckliche Bürgerkrieg das Land und fordert seinen Tribut an Menschenleben. Danach folgt eine Ära der Industrialisierung. Im Jahre 1869 wird die erste transkontinentale Eisenbahnlinie fertiggestellt. In den 1870er Jahren erscheinen das elektrische Licht und das Telefon auf der Bildfläche. Die elektrische Straßenbahn erleichtert den Stadtverkehr in den 1880er Jahren, und gegen Ende des Jahrhunderts machen ein paar Autos die Menschen geräuschvoll auf ihre Existenz aufmerksam.
Wie sich das religiöse Klima dieser Zeit entwickeln wird, ist völlig unabsehbar. Charles Darwin tritt in seinem Werk Die Entstehung der Arten, das 1859 erscheint, für die Theorie der Entwicklung des Menschen ein. Während die organisierte Religion gegen Evolutionslehre, Bibelkritik, Atheismus, Spiritismus und Untreue ankämpfen muß, hält die katholische Kirche das Erste Vatikanische Konzil ab (1869/1870) und unternimmt auf diese Weise Anstrengungen, ihre geschwächte Position zu stärken. Verschiedene andere Gruppen erwarten gespannt die baldige Wiederkunft Christi im Fleische — aber vergebens.
Dennoch, „der Abschluß des Systems der Dinge“ nähert sich. Irgendwo auf dem weltweiten Ackerfeld Gottes muß es bestimmt „Weizen“ — wahre Christen — geben. Aber wo?
‘EIN TAG KLEINER DINGE’
Man schreibt das Jahr 1870. Der Ort: Allegheny (Pennsylvanien). In Allegheny, das später ein Teil Pittsburghs wird, gibt es viele Kirchen. Eines Abends geht ein junger Mann von achtzehn Jahren in einer der Straßen Alleghenys spazieren. Wie er später selbst zugibt, war er „hinsichtlich des Glaubens an manche Lehren, die man seit langem für wahr gehalten, erschüttert“ und „gar schnell eine Beute der Vernunftlehre des Unglaubens“ geworden. Aber heute abend wird er von einem Lied angelockt. Er betritt ein staubiges, schmutziges Versammlungslokal. Zu welchem Zweck? „Um zu sehen, ob die paar Leute, die sich dort versammelten, etwas Vernünftigeres zu bieten hätten als die Glaubensbekenntnisse der großen Kirchengemeinschaften“, berichtet er später.
Der junge Mann setzt sich und hört zu. Jonas Wendell, ein Adventist (Second Adventist), hält die Predigt. „Seine Auslegungen der Schrift [waren] nicht ganz klar“, bemerkt unser Zuhörer später. Aber sie bewirken etwas. Er muß zugeben: „Sie [genügten] doch, unter Gottes Führung meinen erschütterten Glauben an die göttliche Eingebung der Bibel wieder zu festigen und mir zu erkennen zu geben, daß die Aussagen der Apostel und Propheten unzertrennlich miteinander verbunden sind.“
Dieser wißbegierige junge Mann war Charles Taze Russell. Er wurde am 16. Februar 1852 geboren und war der zweite Sohn von Joseph L. und Ann Eliza (Birney) Russell, die beide schottisch-irischer Abstammung waren. Charles’ Mutter, die ihn bei seiner Geburt dem Werk des Herrn geweiht hatte, starb, als er neun Jahre alt war. Doch schon früh erhielt Charles durch seine presbyterianischen Eltern seine ersten Eindrücke von der Religion. Später schloß er sich der nahe gelegenen Kongregationalistenkirche an, da sie etwas liberalere Ansichten vertrat.
Als elfjähriger Junge wurde Charles Teilhaber in dem Geschäft seines Vaters, und er schrieb selbst die Artikel des Vertrages über die Führung des Geschäfts. Mit fünfzehn Jahren hatte er zusammen mit seinem Vater eine immer größer werdende Kette von Herrenbekleidungsgeschäften. Im Laufe der Zeit besaßen sie Geschäfte in Pittsburgh, Philadelphia und an anderen Orten.
Währenddessen war der junge Charles ein aufrichtiger Erforscher der Heiligen Schrift geworden. Er wollte Gott dienen, soweit es in seinen Kräften stand. Ja, als er zwölf Jahre alt war, fand ihn sein Vater einmal um zwei Uhr nachts im Geschäft, eifrig in das Studium einer Bibelkonkordanz vertieft, ohne daß er gemerkt hatte, wie spät es geworden war.
Als Russell älter wurde, bekam er Zweifel. Besonders besorgt war er über die Lehre der ewigen Strafe und über die Lehre der Vorherbestimmung. Er kam zu dem Schluß: „Ein Gott, der seine Macht dazu gebrauchen würde, menschliche Wesen zu erschaffen, von denen er wußte, ja die er im voraus dazu bestimmte, daß sie ewig gequält werden sollten, konnte weder weise noch gerecht oder liebevoll sein. Seine Handlungsweise stände so tiefer als die vieler Menschen“ (1. Joh. 4:8). Dennoch glaubte der junge Russell weiterhin an die Existenz Gottes. Da sein Sinn so sehr mit Glaubenslehren beschäftigt war, untersuchte er die verschiedenen Glaubensbekenntnisse der Christenheit, studierte die bedeutenden Religionen des Ostens — und wurde tief enttäuscht. Wo war die Wahrheit zu finden?
Ein späterer Mitverbundener erzählte, daß Russell mit siebzehn Jahren wie folgt dachte: „Es hat keinen Zweck, daß ich mich weiter bemühe, aus den Glaubensbekenntnissen oder aus der Bibel selbst irgend etwas Vernünftiges über die Zukunft zu erfahren, und daher werde ich jetzt die ganze Sache vergessen und meine ungeteilte Aufmerksamkeit dem Geschäft widmen. Wenn ich etwas Geld verdiene, kann ich es dazu verwenden, der leidenden Menschheit zu helfen, wenn ich ihr schon in geistiger Hinsicht nichts Gutes tun kann.“
Zu der Zeit, als den jungen Russell diese Gedanken beschäftigten, war es, daß er das bereits erwähnte Versammlungslokal in Allegheny betrat und die Predigt hörte, durch die sein erschütterter Glaube an die göttliche Eingebung der Bibel wieder gefestigt wurde. Er wandte sich an mehrere junge Männer aus seinem Bekanntenkreis und erzählte ihnen von seiner Absicht, die Bibel zu studieren. Bald begann sich diese kleine Gruppe — etwa sechs Personen — wöchentlich zu einem systematischen Studium der Bibel zu versammeln. Während sie in den Jahren 1870 bis 1875 regelmäßig zusammenkamen, erfuhren ihre religiösen Anschauungen grundlegende Änderungen. Im Laufe der Zeit segnete sie Jehova mit zunehmendem geistigen Licht und einem Verständnis der Wahrheit (Ps. 43:3; Spr. 4:18).
Russell schrieb: „Wir [lernten] auch den Unterschied erkennen zwischen unserem Herrn als ,dem Menschen, der sich selbst gab‘, und dem Herrn, der wiederkommen würde als ein Geistwesen. Wir sahen, daß Geistwesen gegenwärtig sein können, wiewohl sie für die Menschen unsichtbar sind. ... Und wir fühlten eine große Betrübnis über den Irrtum der Adventisten, die Christum im Fleische erwarteten und lehrten, daß die Welt und alles, was darin ist, die Adventisten ausgenommen, um das Jahr 1873 oder 1874 verbrannt werden würde. Ihre Zeitrechnungen und Enttäuschungen und unreifen Ideen hinsichtlich des Zweckes und der Art und Weise seines Kommens brachten allgemein mehr oder weniger Schmach auf uns und auf alle, die sich nach seinem Reiche sehnten und es verkündigten.“
Ernsthaft bemüht, solchen irrigen Ansichten entgegenzuwirken, schrieb und veröffentlichte der einundzwanzigjährige C. T. Russell auf eigene Kosten eine Broschüre mit dem Titel: „Der Zweck und die Art und Weise der Wiederkunft des Herrn“. Etwa 50 000 Exemplare wurden gedruckt und verbreitet.
Im Januar 1876 erhielt Russell ein Exemplar der religiösen Zeitschrift The Herald of the Morning. An der Umschlagseite erkannte er sogleich, daß die Schrift adventistischen Ursprungs war, aber ihr Inhalt war ihm eine Überraschung. Der Herausgeber, N. H. Barbour aus Rochester (New York), verstand, daß Jesus Christus nicht zu dem Zweck wiederkehren sollte, um zu zerstören, sondern um alle Familien der Erde zu segnen, und daß er wie ein Dieb kommen würde, nicht im Fleische, sondern als ein Geistwesen. Ja, aus biblischen Zeitprophezeiungen schloß Barbour, daß Christus damals gegenwärtig sei und daß das Werk der Trennung des „Weizens“ von der „Spreu“ (dem „Unkraut“) schon im Gange sei. Russell vereinbarte ein Treffen mit Barbour, und so kam es, daß die Pittsburgher Bibelklasse, die aus etwa dreißig Personen bestand, sich mit der etwas größeren Gruppe Barbours aus Rochester (New York) zusammenschloß. Von seinem eigenen Vermögen steuerte Russell Geld zum Druck des Herald bei, dessen Erscheinen damals fast eingestellt worden wäre, und er wurde Mitherausgeber der Zeitschrift.
Im Alter von fünfundzwanzig Jahren, im Jahre 1877, begann Russell seine Geschäftsanteile zu verkaufen und wurde ein Vollzeitprediger. Er reiste damals von Stadt zu Stadt und hielt biblische Vorträge bei öffentlichen Veranstaltungen, auf den Straßen und in protestantischen Kirchen. Aufgrund dieser Tätigkeit wurde er als „Pastor“ Russell bekannt. Er beschloß, sein Vermögen zur Förderung des Werkes einzusetzen, sein Leben den erkannten Wahrheiten zu widmen, Geldkollekten bei allen Zusammenkünften zu unterlassen und darauf zu vertrauen, daß das Werk mit Hilfe von freiwilligen Spenden fortgesetzt werden könne, wenn seine eigenen Mittel erschöpft seien.
Im Jahre 1877 veröffentlichten Barbour und Russell gemeinsam das Buch Three Worlds, and the Harvest of This World (Drei Welten und die Ernte dieser Welt). In diesem 196seitigen Buch wurde der Gedanke der Wiederherstellung mit biblischen Zeitprophezeiungen verbunden. Es wurde darin die Ansicht dargelegt, daß die unsichtbare Gegenwart Jesu Christi und eine vierzigjährige Zeitspanne, eingeleitet durch eine dreieinhalbjährige Ernte, im Herbst des Jahres 1874 begonnen habe.
Besonders beachtenswert war die erstaunliche Genauigkeit, mit der dieses Buch auf das Ende der Heidenzeiten, der „bestimmten Zeiten der Nationen“, hinwies (Luk. 21:24). Es wurde darin gezeigt (auf Seite 83 und 189), daß diese Zeit von 2 520 Jahren, in der heidnische oder nichtjüdische Nationen die Erde beherrschen würden, ohne von einem Königreich Gottes behindert zu werden, mit der Unterwerfung des Königreiches Juda durch die Babylonier Ende des siebenten Jahrhunderts v. u. Z. begann und im Jahre 1914 u. Z. enden würde. Jedoch hatte C. T. Russell schon früher einen Artikel mit der Überschrift „Wann werden die Zeiten der Nationen enden?“ geschrieben. Er war im Oktober 1876 in der Zeitschrift Bible Examiner erschienen, und Russell hatte darin u. a. geschrieben: „Die sieben Zeiten werden im Jahre 1914 n. Chr. enden.“ Er hatte korrekt die Heidenzeiten mit den im Buche Daniel erwähnten „sieben Zeiten“ in Verbindung gebracht (Dan. 4:16, 23, 25, 32). In Übereinstimmung mit diesen Berechnungen war 1914 tatsächlich das Jahr, in dem diese Zeiten endeten und das Königreich Gottes unter der Herrschaft Jesu Christi geboren wurde. Es ist wirklich erstaunlich. Jehova gewährte seinem Volk diese Erkenntnis schon fast vier Jahrzehnte vor dem Ablauf dieser Zeiten.
Eine Zeitlang ging alles gut. Dann kam der Frühling des Jahres 1878 herbei. Barbour erwartete, daß die auf Erden lebenden Heiligen dann in ihrem Leib entrückt würden, um für immer mit dem Herrn im Himmel vereinigt zu sein. Aber nichts dergleichen geschah. Wie Russell berichtete, „schien Mr. Barbour zu fühlen, daß er notwendigerweise etwas Neues finden müsse, um die Aufmerksamkeit von der Enttäuschung hinsichtlich der Entrückung der Gesamtheit der lebenden Heiligen abzulenken“. Und das tat er bald. „Zu unserer schmerzlichen Überraschung“, so heißt es in Russells Bericht, „schrieb Mr. Barbour bald darauf einen Artikel für den Herald, in welchem er die Lehre von der Versöhnung leugnete — leugnete, daß der Tod Christi der Loskaufspreis Adams und seines Geschlechtes sei. Er sagte, daß unseres Herrn Tod nicht mehr nützen könnte für die Bezahlung der Strafe für die Sünden der Menschen, als das Durchstechen einer Fliege mit einer Nadel, wodurch sie leiden und sterben würde, von irdischen Eltern als eine gerechte Sühnung für Verfehlungen ihres Kindes betrachtet werden würde.“
In der September-Ausgabe des Herald erschien ein Artikel Russells mit der Überschrift „Das Sühnopfer“, in dem er für das Lösegeld eintrat und dem Irrtum Barbours widersprach. Bis zum Dezember 1878 wurde die Kontroverse in den Seiten der Zeitschrift fortgesetzt. „Es war klar“, schrieb Russell, „daß eine weitere finanzielle Unterstützung einer Sache, die irgendwelchen gegnerischen Einfluß auf die Grundlagen unseres allerheiligsten christlichen Glaubens ausübte, nicht nach dem Willen des Herrn sei, desgleichen auch ein weiteres Zusammengehen damit.“ Was tat C. T. Russell deshalb? Er schreibt weiter: „Nachdem ich daher einen sehr sorgfältigen, aber erfolglosen Versuch gemacht hatte, den Irrenden zurückzubringen, zog ich mich gänzlich von dem Herald of the Morning und von weiterer Gemeinschaft mit Mr. Barbour zurück.“ Aber das genügte ihm noch nicht, um seine „unveränderte Treue unserem Herrn und Erlöser gegenüber“ zu beweisen. Und so folgten weitere Maßnahmen. Russell schreibt: „Ich erkannte es daher als des Herrn Willen, ein anderes Blatt zu gründen, in welchem das Banner des Kreuzes hochgehalten, die Lehre des Lösegeldes verteidigt und die gute Botschaft großer Freude so weit wie nur möglich verbreitet werden würde.“
C. T. Russell sah es als Gottes Weisung an, daß er das Reisen aufgeben und die Herausgabe einer Zeitschrift beginnen sollte. So erschien im Juli 1879 die erste Ausgabe der Zeitschrift Zions Wacht-Turm und Verkünder der Gegenwart Christi. Jetzt weltweit als Der Wachtturm bekannt, hat diese Zeitschrift immer die biblische Lehre vom Lösegeld hochgehalten. Es ist so, wie Russell einmal schrieb: „Von Anfang an hat dieses Blatt vor allem das ,Lösegeld‘ verteidigt, und durch Gottes Gnade hoffen wir dies stets zu tun.“
Der Anfang der Zeitschrift war ein „Tag kleiner Dinge“, denn von ihrer ersten Ausgabe wurden nur etwa 6 000 Exemplare gedruckt (Sach. 4:10), C. T. Russell, Vorsitzender der Bibelklasse in Pittsburgh, war ihr Schriftleiter und Herausgeber. Fünf weitere reife Erforscher der Bibel schrieben ursprünglich regelmäßig Beiträge für die Spalten dieser Zeitschrift. Sie war Jehova und den Interessen seines Königreiches gewidmet. Man hatte großes Vertrauen zu Gott, wie das zum Beispiel aus einer Erklärung in der zweiten Ausgabe hervorgeht: „ ‚Zions Wacht-Turm‘ wird, wie wir glauben, von JEHOVA unterstützt und braucht deshalb nie bei Menschen um Unterstützung zu bitten oder zu betteln. Wenn er, der sagt: ,All das Gold und Silber der Berge ist mein‘, nicht mehr die nötigen Mittel zur Verfügung stellt, nehmen wir an, daß es Zeit ist, ihr Erscheinen einzustellen.“ Ihr Erscheinen ist nie eingestellt worden. Statt dessen schnellte ihre Auflage in die Höhe, und gegen Ende 1974 wurden von jeder Ausgabe durchschnittlich über 8 500 000 Exemplare gedruckt.
Die feste Entschlossenheit, die biblische Wahrheit hochzuhalten und zu verkündigen, brachte diesen Erforschern der Bibel in den 1870er Jahren Gottes Segen ein. Obwohl viel religiöses „Unkraut“ auf dem weltweiten Feld wuchs, hatte Gott etwas unternommen, um den „Weizen“ oder die wahren Christen kenntlich zu machen (Matth. 13:25, 37-39). Es war nicht zu leugnen — Jehova berief Menschen „aus der Finsternis in sein wunderbares Licht“ (1. Petr. 2:9). In den Jahren 1879 und 1880 gründeten C. T. Russell und seine Mitverbundenen etwa dreißig Versammlungen in Pennsylvanien, New Jersey, New York, Massachusetts, Delaware, Ohio und Michigan. Russell selbst richtete es ein, jede Versammlung persönlich zu besuchen. Sein Programm sah für jede Gruppe ein oder mehrere biblische Zusammenkünfte vor.
Diese ersten Versammlungen wurden „Ekklesias“ genannt (nach dem griechischen Wort ekklesia, was „Versammlung“ bedeutet), und manchmal wurden sie als „Klassen“ bezeichnet. Alle Glieder einer Versammlung stimmten über bestimmte Angelegenheiten ab und wählten auch einen Ausschuß von Ältesten, der für die Aufsicht über die Angelegenheiten der Versammlung verantwortlich war. Die Ekklesias waren dadurch miteinander verbunden, daß sie das Beispiel der Versammlung in Pittsburgh nachahmten, wo C. T. Russell und andere Wacht-Turm-Schreiber Älteste waren.
Jesus Christus ‘predigte den Gefangenen Freilassung’ (Luk. 4:16-21; Jes. 61:1, 2). Wenn ehrlichgesinnte Menschen des neunzehnten Jahrhunderts diese von Gott gegebene Freiheit erlangen sollten, dann mußte religiöser Irrtum bloßgestellt werden. Zions Wacht-Turm diente diesem Zweck. Doch noch etwas anderes trug dazu bei, dieses Bedürfnis zu stillen: Schriftforscher-Traktate (auch Alt-Theologie-Vierteljahreshefte genannt), die im Jahre 1880 und auch später von Russell und seinen Mitarbeitern geschrieben wurden. Diese Traktate wurden den Lesern des Wacht-Turms kostenlos zur Verbreitung zur Verfügung gestellt.
C. T. Russell und seine Mitverbundenen glaubten, daß die Erntezeit gekommen sei, und sie waren nur wenige an Zahl — im Jahre 1881 nur etwa einhundert. Aber die Menschen benötigten die befreiende Wahrheit, und durch Gottes unverdiente Güte sollten sie sie auch empfangen. „1 000 Prediger gesucht“ war der aufrüttelnde Titel eines Artikels, der im April 1881 in Zions Wacht-Turm (engl.) erschien. Denen, die die Hälfte ihrer Zeit oder noch mehr ausschließlich dem Werke des Herrn widmen konnten, wurde folgendes vorgeschlagen: „Daß ihr als Kolporteure oder Evangelisten in größere oder kleinere Städte geht, gemäß eurer Fähigkeit, und überall die ernsten Christen zu finden sucht. Ihr werdet viele finden, die Eifer für Gott haben, aber nicht nach Erkenntnis. Sucht ihnen den Reichtum der Gnade unseres Vaters und die Schönheiten seines Wortes kundzutun, indem ihr ihnen Traktate gebt.“ Unter anderem sollten diese Kolporteure (die Vorläufer der heutigen Pionierverkündiger) Abonnements auf den Wacht-Turm aufnehmen. Natürlich konnten nicht alle Wacht-Turm-Leser Vollzeitprediger sein. Doch wurden auch diejenigen nicht übergangen, die nicht ihre ganze Zeit einsetzen konnten, denn ihnen wurde gesagt: „Wenn ihr eine halbe Stunde oder eine Stunde oder zwei oder drei Stunden Zeit habt, könnt ihr sie ausnutzen, und es wird dem Herrn der Ernte annehmbar sein. Wer weiß, welche Segnungen eine Stunde Dienst unter Gottes Leitung mit sich bringen wird!“
Die gesuchten tausend Prediger folgten damals noch nicht dem Aufruf zur Tätigkeit (Im Jahre 1885 gab es etwa 300 Kolporteure.) Aber Jehovas Diener wußten, daß sie die gute Botschaft predigen sollten. Passenderweise hieß es daher in Zions Wacht-Turm in den Ausgaben vom Juli und August 1881 (engl.): „Predigst du? Wir glauben, daß keiner zur kleinen Herde gehört, er sei denn ein Prediger. ... Ja, wir wurden berufen, mit ihm zu leiden und jetzt diese gute Botschaft zu verkündigen, damit wir zur bestimmten Zeit verherrlicht werden und die Dinge vollbringen können, die jetzt gepredigt werden. Wir wurden weder dazu berufen noch gesalbt, Ehre zu empfangen und Reichtum anzuhäufen, sondern um auszugeben und uns zu verausgaben und die gute Botschaft zu predigen.“
Im gleichen Jahr (1881) verfaßte Russell zwei große Druckschriften. Die eine trug den Titel Tabernacle Teachings (Stiftshüttenlehren). Die andere — Food for Thinking Christians (Speise für denkende Christen) — stellte gewisse Irrlehren bloß und erklärte Gottes Vorhaben.
Ursprünglich wurden die Traktate und Zions Wacht-Turm fast ausschließlich von kommerziellen Firmen gedruckt. Doch wenn sich die Literaturverbreitung ausdehnen sollte und wenn die Bibelforscher (wie Jehovas Zeugen damals genannt wurden) Beiträge erhalten sollten, um das Werk weiter durchführen zu können, mußte eine Art Gesellschaft gegründet werden. So wurde Anfang 1881 Zion’s Watch Tower Tract Society als eine nichteingetragene Körperschaft gegründet, und C. T. Russell war ihr Manager. Er und andere steuerten großzügig 35 000 Dollar bei, damit diese Druckereiorganisation ihre Arbeit aufnehmen konnte. Im Jahre 1884 wurde die zunächst nicht eingetragene Gesellschaft als Zion’s Watch Tower Tract Society eingetragen, und Russell diente als Präsident. Heute ist diese religiöse Körperschaft als Watch Tower Bible and Tract Society of Pennsylvania bekannt.
„Der Zweck der Bildung der Korporation“, so heißt es in der Satzung, „ist folgender: die Verbreitung biblischer Wahrheiten in verschiedenen Sprachen mittels Herausgabe von Traktaten, Flugschriften, Zeitschriften und anderer religiöser Literatur, ferner durch jedes andere gesetzliche Mittel, das der rechtmäßig ernannte Verwaltungsrat [Vorstand] zur Erfüllung des erwähnten Zweckes als dienlich erachtet.“
„Die Verbreitung biblischer Wahrheiten“ erfuhr einen gewaltigen Auftrieb, als eine Serie von Büchern, betitelt Millennial Dawn (Millennium-Tagesanbruch, später Schriftstudien genannt), veröffentlicht wurde. Band I, von C. T. Russell in leichtverständlicher Sprache geschrieben, wurde im Jahre 1886 veröffentlicht. Zuerst war er Der Plan der Zeitalter und später Der göttliche Plan der Zeitalter betitelt und behandelte u. a. folgende Themen: „Das Dasein Gottes als eines allerhöchsten intelligenten Schöpfers nachgewiesen“, „Die Wiederkunft unseres Herrn. Ihr Zweck: die Wiederherstellung aller Dinge“, „Der Tag des Gerichts“, „Das Königreich Gottes“ und „Der Tag Jehovas“. Im Laufe von vierzig Jahren wurden sechs Millionen Exemplare dieser Veröffentlichung verbreitet, und dadurch wurde Hunderten aufrichtigen Wahrheitssuchern geholfen, aus der Knechtschaft der falschen Religion in die christliche Freiheit zu gelangen.
Im Laufe der Zeit schrieb C. T. Russell fünf weitere Bände der Anbruchs-Serie, und zwar folgende: Band II: Die Zeit ist herbeigekommen (1889); Band III: Dein Königreich komme (1891); Band IV: Der Krieg von Harmagedon (1897; ursprünglich Der Tag der Rache genannt); Band V: Die Versöhnung des Menschen mit Gott (1899); Band VI: Die Neue Schöpfung (1904). Russell beabsichtigte, noch einen siebenten Band zu schreiben, starb aber vorher.
Diese christlichen Schriften fanden großen Widerhall. Gottes Geist veranlaßte Menschen, etwas zu unternehmen. In einigen Fällen zogen sich Personen schnell von der falschen Religion zurück. „Die Wahrheit nahm mein Herz sogleich gefangen“, schrieb eine Frau im Jahre 1889, nachdem sie einen Band der Anbruchs-Serie gelesen hatte. „Folglich zog ich mich von der presbyterianischen Kirche zurück, wo ich so lange im dunkeln nach der Wahrheit gesucht und sie nicht gefunden hatte.“ Ein Geistlicher schrieb im Jahre 1891: „Nachdem ich drei Jahre lang in der M[ethodist] E[piscopal] Church gepredigt und die ganze Zeit ernsthaft die Wahrheit gesucht hatte, bin ich nun, mit Gottes Hilfe, ‘aus ihr hinausgegangen‘ “ (Offb. 18:4).
Andere drückten in ihren Briefen an die Gesellschaft den Wunsch aus, die gute Botschaft zu predigen. Zum Beispiel schrieben im Jahre 1891 ein Mann und seine Frau: „Wir haben uns dem Herrn und seinem Dienst völlig geweiht, um zu seiner Verherrlichung gebraucht zu werden; und so der Herr will, werde ich mich im Kolporteurwerk versuchen, sobald ich es einrichten kann, und wenn der Herr meinen Dienst annimmt und mich in seinem Werk segnet, dann werden wir unseren Haushalt aufgeben und dann werden sich meine Frau und ich am Erntewerk beteiligen.“
Sehr interessant war der Brief, den die Gesellschaft im Jahre 1894 von einem Mann erhielt, der von zwei Kolporteurinnen Bände der Anbruchs-Serie gekauft hatte. Er hatte die Bücher gelesen und bestellte nun zusätzliche Exemplare, abonnierte Zions Wacht-Turm und fühlte sich veranlaßt zu schreiben: „Meine liebe Frau und ich selbst [haben] diese Bücher mit dem lebhaftesten Interesse gelesen ..., und wir betrachten es als einen großen, von Gott erhaltenen Segen, daß wir die Gelegenheit empfingen, damit in Berührung zu kommen. Sie sind in der Tat eine ,Handreichung‘ zum Bibelstudium. Die großen Wahrheiten, wie sie in den Studien dieser Bände geoffenbart werden, haben unsere irdischen Bestrebungen ganz über den Haufen geworfen, und da wir die große Gelegenheit, etwas für Christus zu tun, wenigstens einigermaßen erkennen, beabsichtigen wir, Nutzen aus dieser Gelegenheit zu ziehen, indem wir diese Bücher vorerst unter unseren nächsten Verwandten und Freunden und dann auch unter den Armen, die sie lesen möchten und nicht kaufen können, verbreiten wollen.“ Dieser Brief war von J. F. Rutherford unterzeichnet, der sich zwölf Jahre später Jehova hingab und schließlich C. T. Russell als Präsident der Watch Tower Society folgte.
DAS BIBELHAUS
Die Bibelforscher hatten ihr Hauptbüro zunächst in Pittsburgh, Fifth Avenue 101 und später in Allegheny (Pennsylvanien), Federal Street 44. Ende der 1880er Jahre jedoch machte das immer schneller werdende Werk der Verkündigung der guten Botschaft und der Einsammlung schafähnlicher Menschen eine Ausdehnung notwendig. Und so errichteten Jehovas Diener ihr eigenes Gebäude. Dieses vierstöckige Backsteingebäude, das 1889 für 34 000 Dollar fertiggestellt wurde und in Allegheny, Arch Street 56-60 (später erhielt es die Hausnummern 610 bis 614) stand, war als „Bibelhaus“ bekannt. Ursprünglich befand sich das Eigentumsrecht in den Händen der Tower Publishing Company, eines privaten Konzerns, den C. T. Russell persönlich leitete und der einige Jahre lang Literatur für die Watch Tower Society zu einem vereinbarten Preis veröffentlichte. Im April 1898 wurde das Eigentumsrecht auf diese Fabrik und den Grundbesitz durch eine Schenkung der Watch Tower Society übertragen, deren Vorstand das Gebäude und die Ausrüstung auf 164 033.65 Dollar bewertete.
Das Bibelhaus diente etwa zwanzig Jahre lang als Hauptbüro der Gesellschaft.
„Wie sah es 1907 im Bibelhaus aus?“ fragt Ora Sullivan Wakefield. Sie beantwortet ihre Frage selbst und erzählt: „Damals gehörten nur dreißig Personen zur ,Familie‘, und da sie so klein war, war es wirklich eine Familie ... Wir alle aßen, schliefen, arbeiteten und hatten unsere Andachten in diesem einen Gebäude. Im Versammlungssaal gab es unter der Bühne auch ein Taufbecken.“
Stell dir nur einmal vor! Damals, im Jahre 1890, hatte die Watch Tower Society nur etwa vierhundert aktive Mitverbundene. Aber Jehovas heiliger Geist war wirksam und bewirkte gute Ergebnisse (Sach. 4:6, 10). Und so kam es, daß die 1890er Jahre eine Zeit der Mehrung waren. Ja, am 26. März 1899 versammelten sich Hunderte, um des Todes Jesu Christi zu gedenken. Laut eines unvollständigen Berichtes versammelten sich 339 Gruppen mit 2 501 Teilnehmern. Tatsächlich strömten schafähnliche Menschen „in die Hürde“ (Micha 2:12).
Die Ausdehnung des Predigtwerkes hatte durch eine Auslandsreise C. T. Russells im Jahre 1891 einen besonderen Antrieb erfahren. Auf dieser 27 000 Kilometer langen Reise kamen er und seine Begleiter nach Europa, Asien und Afrika. Danach wurde ein Literaturdepot in London eingerichtet. Außerdem wurden Vorkehrungen getroffen, die Schriften der Gesellschaft in Deutsch, Französisch, Schwedisch, Dänisch, Norwegisch, Polnisch, Griechisch und später auch in Italienisch zu veröffentlichen.
„ZUM HAUSE JEHOVAS LASST UNS GEHEN“
David freute sich immer, wenn es hieß: „Zum Hause Jehovas laßt uns gehen“ (Ps. 122:1). Und genauso freuten sich auch die ersten Bibelforscher, wenn sie sich zu Zusammenkünften und Kongressen versammeln konnten (Hebr. 10:23-25). Es gab viele geistige Segnungen, aber eines fehlte immer: der Kollektenteller. Bei allen Zusammenkünften und Kongressen der christlichen Zeugen Jehovas gilt das Schlagwort „Eintritt frei, keine Kollekte“. Und das ist auch richtig so, denn Jesus Christus sagte: „Kostenfrei habt ihr empfangen, kostenfrei gebt.“ Die Kosten, die in Verbindung mit den Versammlungsstätten des Volkes Jehovas entstanden, wurden immer durch freiwillige Spenden gedeckt (Matth. 10:8; 2. Kor. 9:7).
Stellen wir uns vor, wir schließen uns unseren Mitgläubigen jener Zeit an, während sie sich auf den Weg zu ihren wöchentlichen Zusammenkünften begeben. „Vor und auch nach der Jahrhundertwende“, so erzählt Ralph H. Leffler, „kam es nur ganz, ganz selten vor, daß wir Zusammenkünfte versäumten. In jenen Tagen hatten wir kein Auto. Und um zu den Zusammenkünften zu kommen, mußten wir, die wir auf dem Lande, 8 Kilometer von der Stadt entfernt, wohnten, entweder laufen ... oder einen Einspänner benutzen. Oft fuhren wir mit Pferd und Wagen oder Kutsche zweimal sonntags die insgesamt 16 Kilometer hin und zurück, um die Zusammenkünfte zu besuchen. Jahr für Jahr, Sommer und Winter, bei Regen und Sonnenschein nahmen wir unser Vorrecht wahr, immer mehr über die Wahrheiten der Bibel zu lernen und unseren Glauben zu stärken. Wir wollten keine Gelegenheit verpassen, uns mit Gleichgläubigen zu versammeln.“ Hazelle und Helen Krull erzählen: „Wenn der Schnee die Erde bedeckte, fuhren wir mit dem Pferdeschlitten, und während der Zusammenkunft deckten wir das Pferd mit einer Decke zu. Manchmal wartete das Pferd geduldig, und manchmal stampfte es ungeduldig.“
Was geschah in jenen ersten Zusammenkünften? Eine von ihnen stützte sich auf das Buch Die Stiftshütte, ein Schatten der wahren, besseren Opfer, das die Gesellschaft im Jahre 1881 herausgegeben hatte. Darin wurde die prophetische Bedeutung der Stiftshütte in Israel und der dort dargebrachten Opfer behandelt. Sogar Kinder zogen aus diesen Studien großen Nutzen. Sara C. Kaelin kann sich noch an diese Zusammenkünfte, die bei ihr zu Hause stattfanden, erinnern und erzählt: „Die Gruppe war gewachsen, und manchmal mußten die Kinder auf der Treppe sitzen, aber alle mußten lernen und Fragen beantworten. Was stellt der junge Stier dar? Der Vorhof? Das Heilige? Das Allerheiligste? Der Versöhnungstag? Der Hohepriester? Der Unterpriester? Das alles wurde uns so eingeprägt, daß wir uns im Geiste vorstellen konnten, wie der Hohepriester seine Pflichten versah, und wir wußten, was alles bedeutete.“
Mittwochs abends wurden „Cottage Meetings“ (Heimversammlungen) abgehalten. Diese wurden später auch „Gebets-“, „Lobpreisungs-“ und „Zeugnis-Versammlungen“ genannt. Darüber schreibt Edith R. Brenisen: „Nach einer Hymne und einem Gebet las der Leiter eine passende Schriftstelle vor, gab dazu einige Kommentare, und dann wurde den Freunden Gelegenheit gegeben, sich zu äußern, wenn sie es wünschten. Manchmal wurde eine freudige Erfahrung erzählt, die jemand im Dienstwerk gemacht hatte, oder irgendein Beweis für Jehovas besondere Führung oder seinen Schutz. Es stand einem frei, ein Gebet zu sprechen oder darum zu bitten, daß eine bestimmte Hymne gesungen wurde, durch deren Worte die Gedanken, die man im Herzen hatte, oft besser zum Ausdruck gebracht wurden, als es der Betreffende selbst tun konnte. Es war ein Abend, an dem wir über Jehovas liebevolle Fürsorge nachdachten und an dem wir mit unseren Brüdern und Schwestern eng verbunden waren. Während wir ihren Erfahrungen lauschten, lernten wir sie immer besser kennen. Wenn wir ihre Treue beobachteten und sahen, wie sie ihre Schwierigkeiten überwanden, dann fiel es uns oft leichter, unsere eigenen Probleme zu lösen.“ Diese Zusammenkunft war ein Vorläufer der heutigen Dienstzusammenkunft, die Jehovas Zeugen wöchentlich abhalten und durch die sie für ihr Predigtwerk ausgerüstet werden.
In jener Zeit wurden freitags abends „Dawn Circles“ (Tagesanbruch-Zirkel) abgehalten. Diese Zusammenkünfte wurden so genannt, weil zum Bibelstudium Bände der Anbruchs-Serie (Millennium-Tagesanbruch) benutzt wurden. Ralph H. Leffler erinnert sich, daß der Sonntagabend gewöhnlich dem Bibelstudium oder einem biblischen Vortrag gewidmet war. Manchmal wurden sogenannte „Karten-Vorträge“ gehalten. Was war das? Er erklärt: „In Band I der Schriftstudien befand sich hinter dem vorderen Buchdeckel eine lange Karte ... Diese Karte war auf die Größe eines Banners vergrößert worden ... und war beim Bibelhaus in Allegheny (Pennsylvanien) erhältlich. Diese Karte wurde vor der Zuhörerschaft an der Wand aufgehängt, und der Redner erklärte dann die vielen Bogen und Pyramiden, die darauf eingezeichnet waren. Die Karte enthielt eine graphische Darstellung der hauptsächlichen biblischen Ereignisse vom Anfang der Schöpfung an bis zum Ende des Millenniums und zum Beginn der ,ferneren Zeitalter’. ... Wir lernten aus diesen ,Karten-Vorträgen‘ viel über die biblische Geschichte. Und diese Vorträge wurden recht häufig gehalten.“
„Karten-Vorträge“ wurden in den regulären Versammlungsstätten des Volkes Jehovas und auch an anderen Orten gehalten. Waren diese Vorträge wirkungsvoll? C. E. Sillaway berichtet: „Die Vorträge müssen Früchte gezeitigt haben, denn die kleine Gruppe wuchs in weniger als 2 Jahren von 6 auf 15 Erwachsene an.“ Bei einer Gelegenheit hielt William P. Mockridge einen Karten-Vortrag in einer Baptistenkirche in Long Island City (New York) „mit dem Ergebnis, daß mehrere Mitglieder der Kirche [des Baptistenpredigers] in die Wahrheit kamen und der Prediger ..., C. A. Erickson, ebenfalls die Wahrheit annahm und später einer der reisenden ... Redner der Gesellschaft wurde“.
Die jährliche Feier zum Gedenken an den Tod Jesu Christi bot den Bibelforschern damals Gelegenheit, Kongresse abzuhalten (1. Kor. 11:23-26). Eine solche Zusammenkunft fand vom 7. bis 14. April 1892 in Allegheny (Pennsylvanien) statt. Es waren etwa 400 Diener Jehovas und interessierte Personen aus etwa zwanzig Bundesstaaten sowie aus Manitoba (Kanada) anwesend. Seitdem hat Gottes Volk natürlich in vielen Städten der Vereinigten Staaten und der ganzen übrigen Welt segensreiche Kongresse abgehalten. Und welch ein Wachstum Jehova doch gab! Der internationale Kongreß, den Jehovas Zeugen im Jahre 1958 unter dem Motto „Göttlicher Wille“ abhielten, zog insgesamt 253 922 Besucher aus 123 Ländern nach New York ins Yankee Stadium und in die Polo Grounds.
MUTIG UND STARKEN HERZENS IM DIENSTE GOTTES
„Freiwillige gesucht!“ — das war der aufrüttelnde Titel eines Artikels in Zions Wacht-Turm vom 15. April 1899 (engl.). Darin wurde eine neue Methode der Verbreitung der biblischen Wahrheiten beschrieben — eine Methode, durch die die Geistlichkeit der Christenheit im Sturm erobert werden sollte. Um an diesem Werk teilzunehmen, mußte man mutig und starken Herzens sein (Ps. 31:24). Jehovas Dienern wurde damals die Gelegenheit gegeben, sich an einer kostenlosen Massenverbreitung von 300 000 Exemplaren einer neuen Broschüre, Die Bibel gegen die Evolutionstheorie, zu beteiligen. Sie sollte den Menschen sonntags überreicht werden, wenn sie aus der Kirche kämen. Tausende von christlichen Freiwilligen setzten sich ganzherzig ein, und in den Vereinigten Staaten, Kanada und Europa wurde großartige Arbeit geleistet.
Dieses von Freiwilligen durchgeführte Werk wurde noch jahrelang fortgesetzt, besonders sonntags, und schließlich umfaßte es auch die Verbreitung von Traktaten, die von Haus zu Haus durchgeführt wurde. Mindestens zweimal im Jahr wurden neue Traktate veröffentlicht und zu Millionen an Kirchgänger verteilt. Im Jahre 1909 begann die Watch Tower Society, eine neue Serie von Traktaten — zuerst Die Volkskanzel, dann Jedermanns Blatt und noch später Der Schriftforscher — zu veröffentlichen. Mit Hilfe dieser monatlich erscheinenden Traktate wurde religiöser Irrtum bloßgestellt, wurden biblische Wahrheiten erklärt und die Nationen vor dem hochbedeutsamen Jahr 1914 gewarnt. Karikaturen und Illustrationen machten diese Traktate noch wirkungsvoller. Durch die Traktatverbreitung nahm die Öffentlichkeit immer mehr von Gottes Dienern Notiz, und sie wurden weit und breit als Bibelforscher und als Internationale Bibelforscher bekannt.
„Jede Klasse hatte einen Freiwilligen-Führer, der die Arbeit plante“, erzählt Edith R. Brenisen, „und die Arbeiter wurden Freiwillige genannt. ... Sonntag morgens beteiligten wir uns an diesem freiwilligen Werk. Wir stellten uns an die Eingänge der Kirchen. Wenn die Leute aus der Kirche kamen, überreichten wir ihnen die Traktate. ... Wenn die Leute um 12 Uhr herauskamen, überreichten wir ihnen die Schriften und warteten dann bis 1 Uhr, um dann diejenigen zu bedienen, die zur Sonntagsschule geblieben waren. Fast jeder nahm ein Traktat. Einige warfen es auf den Boden, und wir hoben es natürlich wieder auf. Die Botschaft, die die Traktate enthielten, lautete: ,Geht aus ihr hinaus, mein Volk.‘ “
Viele schöne Abende wurden damit verbracht, die Traktate zur Verbreitung vorzubereiten, Margaret Duth erinnert sich an die Abende, an denen Mitchristen zu diesem Zweck in ihrer Wohnung zusammenkamen, und schreibt: „Wir zogen den Eßzimmertisch auf die volle Länge aus, und einige von uns trennten die Traktate voneinander, während andere sie falteten; eine weitere Gruppe druckte mit einem Stempel Zeit und Ort des für Sonntagnachmittag geplanten Vortrages auf.“
Als nächstes kam die Verbreitung. Wie Samuel Van Sipma erzählt, war dies „eine Tätigkeit der Bibelforscher, an der praktisch jeder teilnahm“. Er fügt hinzu: „Viele von uns standen Sonntag morgens schon früh auf [etwa um 5 Uhr] und hinterließen in den Hauseingängen oder an den Wohnungstüren unseres zugeteilten Gebietes die Traktate. Gewöhnlich arbeiteten wir zu zweit oder zu viert. Natürlich wurden die Traktate auch zu anderen Zeiten verbreitet ... Einige bezeichneten diese Verbreitung der Traktate nicht zu Unrecht als ein Verstreuen von Edelsteinen gleich dem Morgentau, und zweifellos wurden viele erfrischt, wenn sie etwas über die begeisternde göttliche Wahrheit lasen.“
Sogar christliche Kinder beteiligten sich an der Traktatverbreitung. Grace A. Estep erinnert sich, wie sie und ihre beiden ältesten Brüder sich „Sonntag morgens auf Zehenspitzen zu den Hauseingängen schlichen und die Traktate unter die Türen schoben“. Es konnte gut sein, daß man auf Widerstand stieß, denn Schwester Estep erzählt weiter: „Manchmal ging plötzlich die Tür auf, und ein wahrer Riese von einem Erwachsenen stand vor uns, schrie irgendwelche Schimpfwörter und jagte uns mit einem Besen oder Spazierstock oder mit fuchtelnden Armen hinaus und drohte uns Schlimmes an, falls wir es jemals wagen sollten wiederzukommen. ... Hin und wieder nahm aber auch jemand das Traktat entgegen und lächelte uns an, und dann eilten wir nach Hause, um es unseren Eltern zu erzählen.“
Die Verwendung von Traktaten zeitigte gute Ergebnisse. Zum Beispiel erzählt uns Victor V. Blackwell: „Die Königreichswahrheit gelangte durch ein Traktat in unser Heim. Ein Traktat war der Anfang einer soliden Grundlage biblischer Wahrheiten für meinen Vater, meine Mutter, für mich selbst und andere Kinder und außerdem für viele weitere, die die hoffnungsvolle und glaubensstärkende Botschaft vom Königreich, der Regierung für die ganze Menschheit, annahmen.“
DIE PRESSE EINGESCHALTET
„Ein anderer Bestandteil [des Werkes], der nicht übersehen werden darf“, so erzählt George E. Hannan, „war die Veröffentlichung der Predigten Pastor Russells in den Zeitungen.“ Es wurde eine internationale Pressestelle eingerichtet, die C. T. Russells Predigten veröffentlichen sollte. Selbst wenn Russell reiste, schickte er an diese Pressestelle, die aus vier Gliedern des Hauptbüros der Gesellschaft bestand, eine Predigt in der Länge von ungefähr zwei Zeitungsspalten. Sie wiederum telegrafierten die Predigt an Zeitungen in den Vereinigten Staaten, Kanada und Europa. Die Telegrammspesen wurden von der Gesellschaft getragen, und die Zeitungen veröffentlichten dann die Predigten kostenlos.
In einer Druckschrift, betitelt The Continent, hieß es einmal über C. T. Russell: „Seine Artikel sollen in der Presse wöchentlich eine größere Verbreitung finden als die irgendeines anderen lebenden Menschen, zweifellos eine größere als die Verbreitung der Artikel aller Priester und Prediger Nordamerikas zusammen, eine größere Verbreitung sogar als das Werk Arthur Brisbanes, Norman Hapgoods, George Horace Lorimers, Dr. Frank Cranes, Frederick Haskins’ und eines Dutzends anderer der bestbekannten Herausgeber und Pressesprecher zusammen.“ Doch was wirklich wichtig war, war nicht der Mensch Russell, sondern die weite Verbreitung der guten Botschaft. „Mehr als 2 000 Zeitungen mit zusammen etwa 15 Millionen Lesern veröffentlichten zu gleicher Zeit seine Reden“, hieß es im Wacht-Turm vom Februar 1917. „Alles in allem haben wohl mehr als 4 000 Zeitungen seine Predigten gebracht.“ Es war also ein weiteres Mittel zur Ausbreitung der biblischen Wahrheit.
„BIBELKLASSEN-AUSDEHNUNGSWERK“
Die mutige Tätigkeit der Diener Jehovas wurde verstärkt, als im Jahre 1911 ein neuer Bereich des Werkes aufkam. Es handelte sich um einen ausgedehnten öffentlichen Vortragsfeldzug, „Bibelklassen-Ausdehnungswerk“ genannt. Achtundvierzig reisende Prediger begannen mit dieser neuen Tätigkeit, und sie wurden als öffentliche Redner auf bestimmte Vortragsreisen geschickt. Aber das war nicht der einzige Zweck des „Bibelklassen-Ausdehnungswerkes“. Man notierte Namen und Anschrift interessierter Personen, die die Vorträge besuchten, und die Betreffenden wurden später von Bibelforschern in ihrer Wohnung aufgesucht, mit dem Ziel, sie zusammenzubringen und neue Versammlungen zu gründen. Kolporteure halfen, diese Versammlungen zu organisieren, und so kam es, daß viele neue Versammlungen entstanden. Im Jahre 1914 gab es auf der ganzen Erde bereits 1 200 Versammlungen, die mit der Watch Tower Society verbunden waren.
„Wenn wir die Genehmigung erhalten hatten, einen Saal für einen öffentlichen Vortrag zu benutzen“, erzählen Hazelle und Helen Krull, „ließen wir in der Wochenzeitung eine Ankündigung drucken und gingen von Haus zu Haus, um die Menschen persönlich einzuladen. Vor dem Eingang des Saales stellten wir eine Tafel auf, auf der wir mit Kreide die Zusammenkunft ankündigten. Viele dieser Säle hatten nur Lampenlicht. Wenn wir bei der ersten Zusammenkunft Interesse beobachteten, wurden weitere Vorträge gehalten. Wir nahmen uns vor, jeden in der kleinen Gruppe der Anwesenden (und es war wirklich eine kleine Gruppe) persönlich zu begrüßen, uns mit jedem zu unterhalten und später interessierte Personen zu Hause zu besuchen, um ihr Interesse zu fördern.“
MIT DEN PILGERBRÜDERN REISEN
Schon 1894 wurden einundzwanzig reisende Vertreter der Watch Tower Society ausgesandt, um öffentliche Vorträge zu halten und um die Versammlungen der Bibelforscher geistig zu erbauen. Sie reisten nach einer festgelegten Route, und da die Versammlungen an Zahl wuchsen, wurden weitere Pilgerbrüder, wie sie genannt wurden, auf die Reise geschickt. Die Pilgerbrüder dienten den Interessen des Volkes Gottes von den 1890er Jahren an bis Ende der 1920er Jahre. Sie hatten eine ähnliche Einstellung wie Paulus, der den Christen in Rom schrieb: „Ich sehne mich danach, euch zu sehen, um euch irgendeine geistige Gabe mitzuteilen, damit ihr befestigt werdet, oder vielmehr zum Austausch von Ermunterung unter euch, indem jeder durch den Glauben des anderen, sowohl des euren wie des meinen, ermuntert werde“ (Röm. 1:11, 12).
Die Persönlichkeit der reisenden Prediger war so unterschiedlich wie die der Apostel Jesu Christi (Luk. 9:54; Joh. 20:24, 25; 21:7, 8). „Bruder Thorn hatte eine besonders milde Art; er war ein außerordentlich gepflegter kleiner Mann und trug einen Spitzbart“, erzählt Grant Suiter und fügt dann hinzu: „Die Pilgerbrüder waren auffallend ordentlich. ... Und was noch wichtiger war, sie halfen ihren Zuhörern, Glauben an das Wort Gottes zu entwickeln.“ Als Harold B. Duncan zum erstenmal Bruder Thorn traf, „erhielt er einen liebevollen und bleibenden Eindruck“. Bruder Duncan sagt: „Wenn er zu der Gruppe sprach, war er wie ein Vater, der seinen Söhnen und Töchtern und Enkeln liebevollen und herzlichen Rat gibt, etwa wie ein Patriarch in alter Zeit.“
Grace A. Estep erinnert sich: „Bruder Hersee liebte Musik, und nachdem wir Kinder ins Bett geschickt worden waren, spielte Mutti Klavier, Vati Geige, und Bruder Hersee sang die ,Hymnen‘. ... Von all den anderen, die wir kannten und liebten — Bruder [Clayton J.] Woodworth, Bruder Macmillan und andere, deren Leben ein wunderbares Beispiel des Ausharrens war —, hatten wir eine besondere Zuneigung zu Bruder Van Amburgh. Er war zu den ,herzlich Geliebten‘ so gütig und sanft, daß ich oft daran dachte, was für ein Mensch wohl der geliebte Apostel Johannes war.“
Wenn Ethel G. Rohner auf die Zeit zurückblickt, in der sie noch ein junges Mädchen war und Pilgerbrüder bei ihnen zu Hause wohnten, erzählt sie: „Sie waren immer an uns jungen Leuten interessiert — auch an meiner Schwester und meinem Bruder. Wir haben uns immer auf ihre Besuche gefreut. Als junges Mädchen hatte ich ein wenig Ehrfurcht vor ihnen wegen ihrer ruhigen Zuversicht und ihres Glaubens — weil sie alles als Jehovas Willen annahmen. Sie gaben uns jungen Leuten wirklich ein gutes Beispiel für christliche Stärke und Glauben.“
Zweifellos gewannen viele Pilgerbrüder auch deshalb die Zuneigung ihrer Mitgläubigen, weil sie sich bei ihren Besuchen „wie zu Hause“ fühlten. „Was machte einen solchen Besuch so angenehm?“ fragt Mary M. Hinds. Sie antwortet: „Der Pilgerbruder verzichtet auf die Begrüßung und fragt Vati gleich etwas über die öffentlichen Vorträge, ob er irgendwelche Fragen über Artikel im Wacht-Turm habe, wie es so in der kleinen Stadt vorangehe, ob seit dem letzten Besuch irgend jemand Interesse zeige, und stellt weitere Routinefragen. Bevor er sich dann in sein Zimmer zurückzieht, wendet er eine ganze Zeit uns Kindern (wir sind jetzt drei) seine Aufmerksamkeit zu. ,Ist er nicht nett?! Er spricht mit uns!‘ Wir sind begeistert, und so freuen wir uns von Anfang an über jede Minute seines Besuches, der gewöhnlich ein oder zwei Tage dauert. Vielleicht ist es diesmal Benjamin Barton, der mir eine Ansichtskarte von dem Kongreß mitgebracht hat, der 1910 am Chautauquasee stattfand, und sein Bild auf die Rückseite geklebt hat. Oder es ist Bruder J. A. Bohnet, der für meinen Bruder einen Drachen gebastelt und ihm dann geholfen hat, ihn steigen zu lassen. ... Bruder A. H. Macmillan mag sich einen Augenblick Zeit nehmen, um mit uns aufs Kornfeld hinauszugehen und sechs Ähren für sein Abendbrot auszusuchen.“
„Einige Pilgerbrüder hatten ihre persönlichen Eigenarten, und diese fielen natürlich auf“, gibt Harold P. Woodworth zu, „aber sie hatten auch hervorragende Eigenschaften — Gaben des heiligen Geistes, die einen tiefen und bleibenden Eindruck hinterließen.“ Schwester E. E. Newell bemerkt dazu: „Nie werde ich eine Äußerung Bruder Thorns vergessen, die mir bis heute geholfen hat. Er sagte, und ich zitiere: ,Immer, wenn ich anfange hoch von mir zu denken, stelle ich mich sozusagen in die Ecke und sage: „Du kleiner Staubfleck. Was bist du schon, um stolz sein zu können?“ ‘ “ Das ist wirklich ein beachtenswerter Charakterzug, denn „die Folge der Demut und der Furcht Jehovas ist Reichtum und Herrlichkeit und Leben“ (Spr. 22:4).
Diese reisenden Pilgerbrüder hatten es nicht leicht und bequem, wenn sie von Ort zu Ort reisten. Edith R. Brenisen schrieb über die Reisen ihres Mannes Edward, der in dieser Eigenschaft diente: „Um entlegene Orte zu erreichen, war es manchmal nötig, mit dem Zug, mit der Postkutsche, mit allen möglichen Wagen und zu Pferd zu reisen. Einige dieser Reisen waren sehr aufregend. ... Einmal hatte er eine Verabredung in oder bei Klamath Falls (Oregon). Um dorthin zu gelangen, mußte er, nachdem er eine Strecke mit dem Zug gefahren war, in der Nacht mit der Postkutsche reisen. Am nächsten Tag wurde er in einer kleinen Stadt von einem Bruder abgeholt, der mit einem Buckboard da war. (Falls du noch nie ein solches Gefährt gesehen hast oder darin gefahren bist, so laß dir sagen, daß es lediglich ein offener hölzerner Wagen auf vier Rädern ist, an dem die Achsen ohne Federn befestigt sind. Wenn man vor der Fahrt keine Rückenschmerzen hatte, dann hatte man sie bestimmt danach.) Nach einer langen Fahrt in die Berge kamen sie auf der Farm eines Bruders an, die in einem herrlichen Tal an einem Gebirgsbach lag.“
Und was gibt es über diesen Pilgerbesuch selbst zu erzählen? Schwester Brenisen berichtet weiter: „Bald war der Hof voll von Gespannen aller Art, mit denen die Freunde von überall her gekommen waren, um den Pilgerbruder zu hören. Die Zusammenkunft begann um 3 Uhr mit einer zweistündigen Ansprache, und danach wurden die Zuhörer gebeten, Fragen zu stellen, und es wurden viele gestellt. Sie machten dann eine Pause, um ein schmackhaftes Abendmahl einzunehmen, das die Schwestern zubereitet hatten, und dann gab es eine weitere zweistündige Ansprache, worauf weitere Fragen folgten.“ In jener Nacht schliefen die Schwestern im Haus und die Brüder im Heu. Ein Zimmer im Haus war für den Pilgerbruder reserviert worden, aber Bruder Brenisen zog es vor, zusammen mit den Brüdern in die Scheune zu gehen. „Der Morgen kam“, erzählt Schwester Brenisen, „und nach einem herzhaften Frühstück sattelte der Bruder drei Pferde, eines für das Gepäck und die anderen zwei für sie beide. Um zu dem Zug zu gelangen, der Edward zu seinem nächsten Bestimmungsort bringen sollte, mußten sie fast 100 Kilometer durch die Wildnis zur nächsten Eisenbahnstation reiten. Später erhielt Edward einen Brief von der Schwester, in dem sie ihm berichtete: ,Nach Deiner Abreise ging ich in die Scheune, um das Kopfkissen zu holen. Dort lag es auch, und der Abdruck, den Dein Kopf hinterlassen hatte, war noch zu sehen. Als ich das Kissen aufhob, entdeckte ich, daß unter dieser Stelle eine große Klapperschlange zusammengerollt lag, die die Wärme Deines Kopfes genossen hatte. Die Schlange war ziemlich unwillig darüber, daß sie gestört wurde, und zeigte das auch.‘ Wieviel besser ist es doch oft, bestimmte Dinge nicht zu wissen!“
Und was für Vorträge haben die Pilgerbrüder gehalten? Über einen Pilgerbruder, Bruder Toutjian, erzähle Ray C. Bopp: „Dieser Bruder war ein Unterweiser. Er lehrte mit Hilfe von Veranschaulichungen. ... [Er hatte] ein maßstabgetreues Modell der Stiftshütte in der Wüste, das er auf einem Tisch ausstellte ... Das Heilige, das Allerheiligste, der Vorhof mit dem Brandopferaltar und dem Becken waren von einem Stoffzaun umgeben, der 10 Zentimeter hoch war und der wie ein Vorhang an kleinen Metallstäben hing. Figuren der Priester standen in ihrer typischen Kleidung an der richtigen Stelle, und sie wurden dann jeweils an den Platz geschoben, an dem sie ihre Aufgaben versahen ..., [während Bruder Toutjian] jede Tätigkeit beschrieb und ihre prophetische Bedeutung anhand des Buches Die Stiftshütte erklärte.“
„Immer war ein öffentlicher Vortrag geplant“, erzählt Mary M. Hinds, „und oft hielt der Pilgerbruder einen Vortrag anhand der Karte der Zeitalter und erklärte die ,Heilszeitordnungen‘ und die ,Zeitalter‘, die darauf eingezeichnet waren. Mindestens ein Bruder, M. L. Herr, hatte einen illustrierten Vortrag. Mit Hilfe von Lichtbildern ließ er die kleine Ruthie aus seinem Vortrag durch die Auferstehung wieder zum Leben kommen. Ja, diese Brüder, die in jenen Tagen die Bindeglieder zwischen dem Hauptbüro dieser wachsenden Organisation und den verstreut lebenden Abonnenten des Wacht-Turms und den ,Ekklesias‘, die damals gegründet wurden, waren, hinterließen durch ihre Besuche Eindrücke, die das ganze Leben lang haftenblieben.“ Ollie Stapleton bringt ihre Gefühle wie folgt zum Ausdruck: „Diese Besuche waren Gelegenheiten zur geistigen Erbauung und Unterweisung, und sie halfen uns, mit Jehovas Organisation enger und in Einheit zusammenzuarbeiten.“
AUSDEHNUNG, WÄHREND SICH DIE HEIDENZEITEN IHREM ENDE NÄHERN
Als das erste Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts begann, waren sich die Bibelforscher wohl bewußt, daß die Zeit für die Nationen ablief. Schon lange hatte Gottes Volk auf das Jahr 1914 als auf das Ende der 2 520 Jahre dauernden Zeiten der Heiden geblickt (Luk. 21:24, Menge). Nun war dieser Zeitpunkt nur noch wenige Jahre entfernt, und C. T. Russell traf Vorbereitungen für einen gewaltigen, weltweiten Zeugnisfeldzug für die Nationen. Aber für ein solch umfassendes, internationales Werk war das Bibelhaus in Allegheny viel zu klein.
Daher wurden im Jahre 1908 mehrere Beauftragte der Watch Tower Society, unter anderem J. F. Rutherford (damals ihr Rechtsberater), nach New York geschickt. Zu welchem Zweck? Um ein geeigneteres Hauptbüro zu beschaffen, ein Grundstück, das Russell selbst bei einer früheren Reise ausfindig gemacht hatte. Das taten sie, und sie kauften das alte „Plymouth Bethel“ an der Hicks Street 13-17 in Brooklyn (New York). Es war ein Missionsgebäude, das im Jahre 1868 für die nahe gelegene Kongregationalistenkirche Plymouth gebaut worden war, deren Pfarrer einmal Henry Ward Beecher gewesen war. Die Abordnung der Gesellschaft kaufte auch Beechers altes, aus braunem Sandstein gebautes vierstöckiges Pfarrhaus an der Columbia Heights 124, das nur ein paar Häuserblocks entfernt lag.
Das ehemalige Wohnhaus Beechers wurde bald das neue Heim der über dreißig Mitarbeiter des Hauptbüros der Gesellschaft, und es wurde „Bethel“ genannt, was „Haus Gottes“ bedeutet. Das Gebäude in der Hicks Street wurde umgebaut und „The Brooklyn Tabernacle“ genannt. Darin befanden sich die Büros der Gesellschaft und ein schöner Versammlungssaal. Am 31. Januar 1909 waren zur Bestimmungsübergabe des neuen Hauptbüros der Gesellschaft 350 Personen zugegen.
Im Bethel hatte C. T. Russell sein Studierzimmer. Im unteren Stockwerk befand sich der Speisesaal mit einem langen Tisch, an dem vierundvierzig Personen Platz hatten. Hier versammelte sich die Familie, um vor dem Frühstück eine Hymne zu singen, das „Gelübde“ zu lesen und ein Gebet zu sprechen. Zu Beginn der Mahlzeit wurde ein Bibeltext aus dem Buch Täglich himmlisch Manna für den Haushalt des Glaubens vorgelesen und dann während des Frühstücks besprochen.
Würdest du gern einmal das Gelübde hören, das ihnen täglich eingeprägt wurde? Es hieß: „Mein feierliches Gelübde an Gott“ und lautete wie folgt:
„Unser Vater, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name. Mein Wunsch ist, daß du immer mehr in meinem Herzen regieren mögest und dein Wille immer mehr in meinem sterblichen Leibe geschehen möge. Im Vertrauen auf deine zu jeder Zeit der Not verheißene Gnade durch Jesus Christus, unsern Herrn, lege ich dieses Gelübde ab:
Täglich will ich vor dem himmlischen Gnadenthron der allgemeinen Interessen des Erntewerkes gedenken und besonders des Anteiles, dessen ich mich an diesem Werke erfreuen darf, sowie der lieben Mitarbeiter im Bibelhaus in Brooklyn und überall.
Ich gelobe dir, daß ich, wenn möglich, noch mehr als bisher alle meine Gedanken, Worte und Werke prüfen will, damit ich um so besser befähigt sein möge, dir und deiner teuren Herde zu dienen.
Ich gelobe dir, daß ich wachsam sein will, um jeder Sache zu widerstehen, die dem Spiritismus und Okkultismus ähnlich ist, und eingedenk dessen, daß es nur zwei Herren gibt, will ich diesen Schlingen, als vom Widersacher kommend, in jeder vernünftigen Weise zu widerstehen suchen.
Ich gelobe ferner mit Berücksichtigung der unten genannten Ausnahmen, daß ich mich zu allen Zeiten und an allen Orten gegen Personen des anderen Geschlechts im persönlichen Verkehr, wenn allein mit ihnen, genauso benehmen will, wie ich es öffentlich in Gegenwart einer Versammlung von Kindern Gottes tun würde, und soweit es vernünftigerweise möglich ist, will ich es vermeiden, mit jemand des andern Geschlechts in einem Zimmer allein zu sein, es sei denn, daß die Tür zu dem Zimmer weit offensteht. Ausgenommen sind die Ehegatten, Eltern, Kinder und Geschwister nach dem Fleisch.“
Gottes Diener im Bethel und anderswo sagten dieses Gelübde später nicht mehr auf. Aber die hohen Grundsätze, die in diesen Worten liegen, gelten immer noch.
Drei Häuserblocks vom Bethel entfernt lag das Brooklyn Tabernacle, ein altes Backsteingebäude mit zwei Stockwerken und einem Keller. Darin waren die Büros der Gesellschaft die Setzerei, für den Wacht-Turm, ein Lagerraum und auch eine Versandabteilung untergebracht. Im zweiten Stockwerk befand sich ein Versammlungssaal für 800 Personen. Hier hielt Bruder Russell regelmäßig Ansprachen.
Eine Zeitlang wohnten die meisten Mitarbeiter des Hauptbüros der Gesellschaft in der Columbia Heights 124. Später wurde das daran anschließende Gebäude, Columbia Heights 122, gekauft und dadurch das Bethelheim erweitert. Im Jahre 1911 wurde hinter dem Bethel an einem Abhang an der Furman Street ein neunstöckiger Anbau vollendet. Dieses Gebäude bot viel mehr Wohnraum und Platz für andere Einrichtungen. Auch ein neuer Speisesaal war darin untergebracht. Als Eigentümerin dieser Gebäude wurde im Jahre 1909 die People’s Pulpit Association (Volkskanzel-Vereinigung) gegründet, die heute als Watchtower Bible and Tract Society of New York, Incorporated bekannt ist. Diese und andere Körperschaften, die von Gottes Volk in verschiedenen Ländern gegründet wurden, arbeiten alle miteinander und mit der leitenden Körperschaft der Zeugen Jehovas zusammen.
‘JEHOVA SEGNEN INMITTEN DER VERSAMMELTEN SCHAREN’
Regelmäßige Kongresse und andere öffentliche Zusammenkünfte der Bibelforscher waren ausgezeichnete Gelegenheiten, ‘Jehova inmitten der versammelten Scharen zu segnen’, wie es Gottes Diener schon in alter Zeit getan hatten (Ps. 26:12). Wie liefen diese Zusammenkünfte ab? Wir wollen sehen.
„Selbst hier, auf dem obersten Balkon des weltberühmten Auditorium Theater, der Heimat der Chicago Grand Opera, ist kein Sitz unbesetzt. Während ich die sieben Stockwerke zur Bühne hinabblicke, einen halben Block weit weg, frage ich mich, ob ich wohl meine Ohren werde anstrengen müssen, um hören zu können. Nach der Einleitung des Vorsitzenden erhebt sich Charles Taze Russell, legt seinen linken Zeigefinger in seine rechte Hand und fängt mit normaler Stimme an zu reden. Er spricht ohne Notizen. Kein Rednerpult ist vorhanden. Er bewegt sich ungezwungen auf der Bühne. Jedes Wort ist deutlich zu verstehen, während er das prophetische Ende der Heidenzeiten und den Beginn eines Millenniumzeitalters beschreibt.“
Das sind die Erinnerungen von Ray C. Bopp. Es ist nur eines von vielen Beispielen. Der Ort hätte genausogut die Royal Albert Hall in London sein können, wo C. T. Russell im Mai des Jahres 1910 vor großen Menschenmengen sprach. Es hätte aber auch das berühmte New Yorker Hippodrome Theatre sein können, wo Russell am 9. Oktober 1910 zu einer großen jüdischen Zuhörerschaft sprach. Über diesen Vortrag konnte man in der Zeitung New York American vom 10. Oktober 1910 auszugsweise folgendes lesen: „Das ungewöhnliche Schauspiel, daß 4 000 Hebräer begeistert einem heidnischen Prediger applaudierten, nachdem er ihnen eine Predigt über ihre eigene Religion gehalten hatte, bot sich gestern nachmittag im Hippodrome, wo Pastor Russell, der berühmte Vorsteher des Brooklyn Tabernacle, einen äußerst ungewöhnlichen Gottesdienst abhielt.“ Eine große Anzahl Rabbis und Lehrer war anwesend. „Es gab keine besondere Einleitung“, hieß es in der Zeitung. „Pastor Russell, groß, aufrecht und weißbärtig, ging auf die Bühne, ohne sich einzuführen, erhob seine Hand, und sein Doppelquartett aus dem Brooklyn Tabernacle sang die Hymne ,Zions froher Tag‘.“ Wie berichtet wird, wurde die Zuhörerschaft allmählich mit dem Redner „warm“. Zunächst gab es Applaus und zum Schluß donnernden Beifall. Als der Vortrag zu Ende war, gab Russell wieder ein Zeichen, und der Chor „sang die fremdartig klingende Melodie der Zionshymne ,Unsere Hoffnung‘, eines der Meisterstücke des exzentrischen, in East Side lebenden Dichters Imber“. Und die Wirkung? In dem Pressebericht heißt es weiter: „Der beispiellose Vorfall, daß christliche Stimmen die jüdische Hymne sangen, war eine gewaltige Überraschung. Einen Augenblick lang konnten die hebräischen Zuhörer kaum ihren Ohren trauen. Als sie dann sicher waren, daß es ihre eigene Hymne war, jubelten und klatschten sie mit einer solchen Begeisterung, daß die Musik darin unterging, und dann, bei der zweiten Strophe, stimmten Hunderte von ihnen mit ein. Am Höhepunkt der Begeisterung über die dramatische Überraschung, die er ihnen bereitet hatte, ging Pastor Russell von der Bühne, und die Zusammenkunft endete mit dem Ende der Hymne.“
Die Zeiten haben sich geändert und ebenso die christlichen Anschauungen über biblische Prophezeiungen, von denen man einstmals dachte, sie bezögen sich auf die natürlichen Juden unserer Tage. Mit dem zunehmenden Licht, das Gott gab, erkannte sein Volk, daß diese Prophezeiungen dem geistigen „Israel Gottes“, den gesalbten Nachfolgern Jesu Christi, Segnungen verheißen (Röm. 9:6-8, 30-33; 11:17-32; Gal. 6:16). Aber wir haben hier einen Rückblick auf den Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts unternommen, und so war es nun einmal in jenen Tagen.
Da Bruder Russell so gut bekannt war und bei vielen Gelegenheiten zu großen Menschenmengen sprach, möchtest du vielleicht gern wissen, wie es war, ihm zuzuhören. „Welch ein Unterschied zu dem gewöhnlichen Prediger!“ ruft C. B. Tvedt aus und fügt hinzu: „Keine Rhetorik, keine Gefühlsduselei. Keine Schau auf der Bühne. Er hatte eine viel wirkungsvollere und machtvollere Methode: die einfache, ruhige, überzeugende Darlegung des Wortes Gottes. Ein Schrifttext entschlüsselte den anderen, und das wirkte wie ein starker Magnet. Auf diese Weise hielt Bruder Russell seine Zuhörer gefesselt.“ Ralph H. Leffler erzählt, daß sich Bruder Russell vor einer Ansprache vor den Zuhörern mehrmals würdevoll verbeugte. Wenn er sprach, ging er auf der offenen Bühne hin und her und machte mit beiden Armen Gesten. „Er verwandte nie Notizen ..., sondern sprach immer frei aus dem Herzen“, wie Bruder Leffler berichtet. „Er sprach nicht laut, aber er hatte eine eigentümliche tragende Stimme. Ohne daß jemals eine Lautsprecheranlage verwendet wurde (damals gab es so etwas noch nicht), konnten ihn große Menschenmengen hören und verstehen, und er hielt sie ein, zwei und manchmal drei Stunden lang gefesselt.“
Doch der Mensch war nicht wichtig. Wichtig war die Botschaft, und die biblische Wahrheit wurde großen Menschenmengen verkündet. Es gab viele fähige Christen, die in jenen Tagen die gute Botschaft verkündigten, und einige Personen hörten ihnen mit Wertschätzung zu. Natürlich gab es zahlreiche Gegner, und manchmal versuchten sie ihre unbiblischen Ansichten in öffentlichen Debatten mit Jehovas Dienern zu verteidigen.
Am 10. März 1903 forderte Dr. E. L. Eaton, Prediger der North Avenue Methodist Episcopal Church, Russell zu einer sechstägigen Debatte heraus, was, wie sich später herausstellte, ein Versuch der Pittsburgher Prediger-Allianz war, Russells Bildung und seine biblischen Ansichten in Mißkredit zu bringen. Aus jeder dieser Debatten, die im Herbst jenes Jahres in Alleghenys Carnegie Hall stattfanden, ging Russell im ganzen genommen als Sieger hervor. Unter anderem erklärte er anhand der Bibel, daß die Seelen der Toten ohne Bewußtsein seien, während ihre Körper im Grabe lägen, und daß der Zweck des zweiten Kommens Christi und des Millenniums darin bestehe, alle Familien der Erde zu segnen. Russell lehnte auch mit biblischen Argumenten energisch die Höllenlehre ab. Wie berichtet wird, ging einer der anwesenden Geistlichen nach der letzten Debatte auf Russell zu und sagte: „Es freut mich, daß Sie den Wasserstrahl auf die Hölle richten und das Feuer auslöschen!“ Interessanterweise wurden nach dieser Debatte viele Mitglieder der Gemeinde Eatons Bibelforscher.
Eine andere bedeutsame Debatte fand vom 23. bis 28. Februar 1908 in Cincinnati (Ohio) zwischen C. T. Russell und L. S. White, einem Ältesten der „Jünger Christi“, statt. Tausende waren anwesend. Russell verteidigte mutig die biblische Lehre, daß die Toten von ihrem Tod an bis zur Auferstehung ohne Bewußtsein sind, und erklärte anhand der Bibel, daß Christi zweites Kommen dem Millennium vorausgehe und beides den Zweck habe, alle Familien der Erde zu segnen. Hazelle und Helen Krull waren damals anwesend und berichten uns: „Die Schönheit und die Harmonie der Wahrheit und die guten biblischen Argumente bei jedem Thema der Debatte standen in krassem Gegensatz zu den verwirrenden Lehren der Menschen. An einer Stelle sagte der ,Älteste White‘, der in der Debatte die entgegengesetzten Ansichten vertrat, verzweifelt, er erinnere sich an ein Schild über der Tür einer Schmiede, auf dem es hieß: ,Hier werden alle Arten von Drehungen und Windungen gemacht.‘ Aber für den aufrichtigen Wahrheitssucher war es eine Demonstration dessen, wie man ,das Wort der Wahrheit recht handhabt‘ [von seiten Russells; 2. Tim. 2:15] und wie das zur Harmonie führt.“ Die Schwestern Krull sind aufgrund ihrer Beobachtungen davon überzeugt, daß Jehova Bruder Russell mit seinem Geist gesegnet hat, so daß er die Wahrheit geschickt darlegen konnte, und sie bezeichnen dieses Ereignis als „einen Triumph der Wahrheit über den Irrtum“.
J. F. Rutherford nahm die Herausforderung der Baptistenkirche an, im Namen der Watch Tower Society mit J. H. Troy zu debattieren. Diese Debatte fand im April 1915 im Trinity Auditorium in Los Angeles (Kalifornien) vor 12 000 Zuhörern statt (schätzungsweise 10 000 mußten wegen Platzmangels abgewiesen werden), und sie erstreckte sich über vier Abende. Rutherford verteidigte mutig die biblische Wahrheit und ging aus der Debatte als Sieger hervor.
In den zwölf Jahren nach der Debatte zwischen Eaton und Russell nahmen Gottes Diener weitere Herausforderungen zu Debatten an. Aber die Gegner sagten gewöhnlich, vielleicht aus Furcht, die vereinbarten Treffen ab. C. T. Russell liebte diese Debatten nicht, denn er war sich der Nachteile bewußt, die sie für Christen haben konnten. Im Wacht-Turm vom 1. Mai 1915 (engl. Ausgabe) erklärte er unter anderem: „Diejenigen, die in der Wahrheit sind, sind an die Goldene Regel gebunden und müssen in ihren Darlegungen absolut fair sein, wohingegen ihre Gegner keinerlei Einschränkungen oder Hemmungen zu haben scheinen.“ „Jede Form der Argumentation“, schrieb Russell, „wird als erlaubt betrachtet, ohne daß der Zusammenhang, die Goldene Regel oder irgend etwas anderes berücksichtigt wird.“ Er erklärte außerdem: „Soweit es den Herausgeber betrifft, so hat er kein Verlangen nach weiteren Debatten. Er befürwortet das Debattieren deshalb nicht, weil er glaubt, daß dadurch selten etwas Gutes bewirkt wird und sowohl in den Rednern als auch in den Zuhörern Ärger, Gehässigkeit, Bitterkeit usw. aufkommt. Vielmehr setzt er denen, die es hören möchten, mündlich und in gedruckter Form die Botschaft des Wortes des Herrn vor und überläßt es den Gegnern, den Irrtum darzulegen, wie sie es für passend halten und die Gelegenheit dazu finden (Hebr. 4:12).“
Biblische Vorträge boten eine bessere Gelegenheit, die Wahrheit der Bibel darzulegen, und C. T. Russell sprach oft vor einer großen Zuhörerschaft. In den Jahren 1905 bis 1907 reiste er zum Beispiel mit einem Sonderzug oder mit einem Auto durch die Vereinigten Staaten und Kanada und leitete eine Serie eintägiger Kongresse. Damals hielt er den öffentlichen Vortrag „In die Hölle und wieder zurück“. In diesem Vortrag, den er in beiden Ländern in fast jeder größeren Stadt vor vollbesetzten Häusern hielt, beschrieb er auf humorvolle Art eine Reise in die Hölle und wieder zurück. Louise Cosby erinnert sich, daß Russell vereinbarte, diesen Vortrag in Lynchburg (Virginia) zu halten, und sie erzählt: „Mein Vater hatte große Plakate anfertigen lassen, auf denen dieser Vortrag angekündigt wurde, und er erhielt die Erlaubnis, sie vorn an Straßenbahnwagen anzubringen. Das war ziemlich amüsant, und die Leute fragten sich: ,Wenn uns dieser Wagen zur Hölle bringt, wird er uns auch dann wieder zurückbringen?‘ “
C. T. Russell hielt auch während seiner Auslandsreisen biblische Vorträge. Im Jahre 1903 unternahm er eine zweite Reise nach Europa und hielt in verschiedenen Städten Vorträge. Dann, vom Dezember 1911 bis zum März 1912, machte Russell als Vorsitzender eines siebenköpfigen Komitees eine Weltreise und kam dabei nach Hawaii, Japan und China, reiste dann durch Südasien nach Afrika, dann weiter nach Europa und schließlich zurück nach New York. Das Komitee studierte die Auslandsmissionen der Christenheit, und viele Vorträge wurden gehalten, und auf diese Weise wurde der Same der Wahrheit ausgestreut, so daß im Laufe der Zeit in weit abgelegenen Gebieten der Erde weitere Gruppen gesalbter Christen entstanden, die sich ebenfalls erfolgreich betätigten. C. T. Russell unternahm jedoch nicht nur diese Weltreise, sondern reiste auch regelmäßig nach Europa und fuhr, begleitet von vielen Mitarbeitern, in Sonderzügen durch ganz Nordamerika auf „Kongreßreise“.
IM „KONGRESSZUG“
Im Laufe der Zeit wurde C. T. Russell immer häufiger gebeten, persönlich zu erscheinen. Um Vereinbarungen für Vorträge einhalten zu können, fuhr er manchmal mit einem von der Bahn besonders eingesetzten „Kongreßwagen“, und eine kleine Gruppe begleitete ihn. Doch wenn größere Gruppen mitfuhren, wurden „Kongreßzüge“ zusammengestellt; einmal reisten 240 Personen mit Russell. Mehrere Eisenbahnwagen wurden zusammengekoppelt, und die Gruppen reisten nach einem bestimmten Fahrplan von einer Stadt zur andern. Nach ihrer Ankunft in einer Stadt kündigten Russells Mitarbeiter die öffentliche Veranstaltung mit Hilfe von Flugzetteln an. Vor der Veranstaltung begrüßten sie die Anwesenden, notierten sich Namen und Anschrift interessierter Personen, besuchten sie nach Möglichkeit und gründeten Versammlungen. Diese „Kongreßzüge“ wurden nicht selten benutzt, um Großstädte in den Vereinigten Staaten und in Kanada zu besuchen.
Warum nicht einmal in einen solchen „Kongreßzug“ einsteigen und in der fröhlichen Gemeinschaft von Christen reisen? Im Juni 1913 wurde ein Sonderzug für über 200 Bibelforscher organisiert, die C. T. Russell auf einer Reise begleiten wollten, die in Chicago (Illinois) beginnen und sie nach Texas, Kalifornien, Kanada und dann zu einem Kongreß in Madison (Wisconsin), verbunden mit einem Abstecher nach Rockford (Illinois), führen sollte. Malinda Z. Keefer berichtet darüber folgende Einzelheiten: „Unser Zug sollte am 2. Juni um 12 Uhr mittags vom Bahnhof Dearborn abfahren. Die ersten Brüder kamen schon um 10 Uhr, und es war eine glückliche und aufregende Zeit, da ich viele alte Freunde wiedertraf, die ich schon lange nicht mehr gesehen hatte, und neue Freunde kennenlernte. Es dauerte nicht lange, und wir erkannten, daß wir eine einzige große Familie waren. ... und der Zug war einen Monat lang unser Heim.“
Endlich ist es Zeit zum Abfahren. „Als der Zug aus dem Bahnhof rollte und wir uns auf unsere 13 000 Kilometer weite Reise begaben“, so erzählt Schwester Keefer weiter, „sangen unsere Freunde, die gekommen waren, um uns zu verabschieden, die Lieder: ,Gesegnet Band, das bind’t‘ und ,Gott mit dir, bis wir uns wiedersehn!‘ und winkten so lange mit ihren Hüten und Tüchern, bis wir ihren Blicken entschwunden waren. Nun befanden wir uns auf einer äußerst denkwürdigen Reise. In St. Louis (Missouri) und an ein paar anderen Stellen stiegen noch einige Freunde zu, bis wir schließlich 240 Personen waren. Bruder Russell stieg in Hot Springs (Arkansas) zu, wo gerade ein achttägiger Kongreß im Gange war.“
Diese Reise war in geistiger Hinsicht sehr erbauend. Schwester Keefer erzählt: „Überall dort, wo wir die Reise unterbrachen, wurde ein Kongreß abgehalten. Die meisten dauerten drei Tage, und wir hielten uns bei jedem Kongreß einen Tag auf. Bei jedem Aufenthalt hielt Bruder Russell zwei Vorträge, einen am Nachmittag für die Brüder und einen am Abend für die Öffentlichkeit, und zwar über das Thema ,Jenseits des Grabes‘.“ Schwester Keefer schildert die Empfindungen, die sie bei dieser Reise hatte, wie folgt: „Meine Wertschätzung für die Gemeinschaft mit all den Brüdern auf der langen Reise und für die geistig erbauenden Vorträge und die Belehrungen, die ich während jener Reise empfing, kann ich nicht in Worte fassen. Ich war Jehova dankbar, daß er mir ein solches Vorrecht gewährt hatte.“
Bei jenen ersten Kongressen des Volkes Gottes war einiges etwas anders als heute. Nimm zum Beispiel das „Liebesmahl“. Was war das? Über diesen Bestandteil der ersten Kongresse berichtet J. W. Ashelman: „Einige Bräuche, die später nicht mehr nötig waren oder nicht weiter gepflegt wurden, schienen damals ein Segen zu sein, zum Beispiel, daß sich die Redner auf der Bühne in einer Reihe aufstellten und Teller mit in Würfel geschnittenem Brot in der Hand hielten, während die Zuhörer vorbeimarschierten, etwas von dem Brot nahmen, jedem Redner die Hand schüttelten und gemeinsam das Lied ,Gesegnet Band, das bind’t der Christen Herz‘ sangen.“ Das war also das „Liebesmahl“, es war ein rührendes Erlebnis. Edith R. Brenisen gesteht offen: „Die Liebe, die wir zueinander hatten, ließ unser Herz überfließen, und oft liefen uns Freudentränen über die Wangen. Wir schämten uns unserer Tränen nicht, noch versuchten wir, sie zu verbergen.“
Die ersten Christen veranstalteten manchmal „Liebesmahle“, aber die Bibel beschreibt sie nicht näher (Jud. 12). Einige glauben, daß es Gelegenheiten waren, bei denen wohlhabende Christen ein Festessen gaben, zu dem sie ihre ärmeren Mitgläubigen einluden. Doch was diese „Liebesmahle“ damals auch immer gewesen sein mögen — die Bibel schreibt sie nicht vor, und so sind sie auch heute unter wahren Christen nicht mehr üblich.
EINE NEUE METHODE, DIE GUTE BOTSCHAFT ZU VERKÜNDIGEN
Die Bibelforscher waren sich der Bedeutung der Prophezeiung Jesu Christi wohl bewußt: „Und dieses Evangelium des Reiches wird gepredigt werden auf dem ganzen Erdkreis, allen Nationen zu einem Zeugnis, und dann wird das Ende kommen“ (Matth. 24:14, Elberfelder Bibel). Als daher jenes bedeutsame Jahr 1914 näher rückte, unternahm Gottes Volk einen gewaltigen Feldzug weltweiten Ausmaßes — ein Schulungs- und Warnungswerk, das bis dahin ohnegleichen gewesen war. Es wandte mutig eine neue Methode an, die gute Botschaft zu verkündigen.
Versetzen wir uns jetzt in das Jahr 1914. Stell dir vor du sitzt zusammen mit Hunderten von Menschen in einem verdunkelten Saal. Vor dir steht eine große Filmleinwand. Zu deiner Überraschung erscheint darauf ein weißhaariger Mann im Gehrock und fängt ohne Manuskript an zu reden. Oh, dies ist nicht der erste Film, den du dir ansiehst. Aber dieser ist anders. Der Mann redet, und du hörst seine Stimme. Das ist kein gewöhnlicher Stummfilm. Es ist etwas Besonderes, sowohl in technischer Hinsicht als auch durch die Botschaft, die dadurch vermittelt wird, und du bist beeindruckt. Der Mann? Es ist Charles Taze Russell. Und der Film? Es ist das „Photo-Drama der Schöpfung“.
C. T. Russell erkannte, daß Filme ein wirkungsvolles Mittel sind, große Menschenmengen zu erreichen. Im Jahre 1912 begann er daher, das Photo-Drama der Schöpfung vorzubereiten. Es war schließlich eine achtstündige Vorführung, bestehend aus Lichtbildern und Filmen, komplett mit Farbe und Ton. Das Photo-Drama sollte in vier Teilen aufgeführt werden, und es führte die Zuschauer von der Schöpfung an durch die Geschichte des Menschen bis zum Ende der Tausendjahrherrschaft Jesu Christi, zum Höhepunkt des Vorsatzes Gottes hinsichtlich der Erde und der Menschheit. Die Lichtbilder und Filme wurden mit Musikplatten und Phonographsprechplatten synchronisiert. Es hatte bis dahin schon verschiedene Experimente mit Farb- und Tonfilmen gegeben, aber es vergingen noch Jahre, bis sie wirtschaftlich erfolgreich waren. Der erste Farbfilm erschien erst 1922. Und die Kinobesucher mußten im allgemeinen bis 1927 warten, bis sie im Kino einen Film sehen konnten, der mit Musik und Sprache vertont war. Doch beim Photo-Drama der Schöpfung mußte man nicht auf Farbe, das gesprochene Wort und die Musik verzichten. Es war seiner Zeit um Jahre voraus, und Millionen sahen es kostenlos.
Die Gesellschaft gab für die Herstellung des Photo-Dramas etwa 300 000 Dollar aus — ein Vermögen für jene Tage. Und über die damit verbundene Arbeit schrieb Russell: „In seiner Güte verschloß uns Gott die Augen in bezug auf die Mühe und Arbeit, die das DRAMA mit sich brachte. Hätten wir gewußt, wieviel Zeit und Geld es kosten würde und wieviel Geduld nötig wäre, um damit beginnen zu können, hätten wir nie damit begonnen. Wir wußten aber auch nicht voraus, daß das DRAMA ein so großer Erfolg werden sollte.“ Platten mit ausgewählten Musikstücken und sechsundneunzig Phonographsprechplatten mit Vorträgen wurden vorbereitet. Von schönen Kunstgemälden, auf denen die Weltgeschichte dargestellt war, wurden Stereoskopbilder gemacht, und Hunderte neuer Gemälde und Zeichnungen mußten angefertigt werden. Alle Lichtbilder und Filme mußten mit der Hand koloriert werden. Ein Teil dieser Arbeit wurde im Atelier der Gesellschaft verrichtet. Und stell dir nur einmal vor! Das alles mußte mehrmals getan werden, denn es wurden mindestens zwanzig vierteilige Sätze hergestellt, so daß es möglich war, einen Teil des Dramas an einem bestimmten Tag in achtzig verschiedenen Städten zu zeigen.
Was geschah hinter den Kulissen, während das Photo-Drama der Schöpfung gezeigt wurde? „Das Drama begann mit einem Film über Bruder Russell“, erzählt Alice Hoffman. „Wenn er auf der Leinwand erschien und seine Lippen anfingen, sich zu bewegen, wurde genau im richtigen Moment ein Phonograph eingeschaltet, und wir konnten seine Stimme hören.“
Die Szenen, die zeigten, wie sich eine Blume öffnete oder wie ein Küken aus dem Ei schlüpfte, werden ein unvergeßlicher Bestandteil der Filme des Photo-Dramas bleiben. Diese Zeitrafferaufnahmen beeindruckten die Zuschauer wirklich. „Während diese Bilder gezeigt wurden“, erklärt Karl F. Klein, „wurden schöne Musikstücke gespielt, zum Beispiel solche Juwelen wie ,Narcissus‘ und die ,Humoreske‘.“
Es gab auch noch viele andere denkwürdige Dinge. „Noch jetzt“, erzählt Martha Meredith, „sehe ich im Geiste Noah und seine Familie mit den Tieren in die Arche gehen und Abraham und Isaak auf den Berg Moria steigen, wo Abraham seinen Sohn als Opfer darbringen sollte. Als ich sah, wie Abraham seinen Sohn — diesen Sohn den er so sehr liebte — auf den Altar legte, kamen mir die Tränen. Kein Wunder, daß Jehova Abraham seinen Freund nannte, ... er wußte, daß Abraham zu jeder Zeit seiner Stimme gehorchen würde“ (Jak. 2:23).
Außer dem regulären Photo-Drama der Schöpfung gab es auch Ausrüstungen für das „Heureka-Drama“. Die eine Ausrüstung bestand aus den sechsundneunzig auf Schallplatten aufgenommenen Vorträgen sowie Musikplatten. Die andere bestand sowohl aus Schallplatten wie auch aus den Stereoskopbildern. Obwohl beim „Heureka-Drama“ keine Filme gezeigt wurden, konnte es in weniger dicht besiedelten Gegenden mit großem Erfolg vorgeführt werden.
Im Jahre 1914 wurde das Photo-Drama der Schöpfung überall in den Vereinigten Staaten kostenlos gezeigt. Das war sehr kostspielig, sowohl für die Gesellschaft als auch für die Bibelforscher an den betreffenden Orten, die Geld spendeten, damit geeignete Räumlichkeiten für die Vorführung gemietet werden konnten. Und so wurde es im Laufe der Zeit nicht mehr vor einer großen Zuhörerschaft gezeigt. Doch das Photo-Drama der Schöpfung hat einen großen Anteil daran gehabt, Menschen mit Gottes Wort und seinen Vorsätzen bekannt zu machen.
Zum Beispiel schrieb jemand an C. T. Russell: „Meine Frau und ich danken unserem himmlischen Vater für den großen und kostbaren Segen, der uns durch Ihre Mitwirkung zuteil geworden ist. Ihr wunderschönes Photo-Drama war für uns der Anlaß, die Wahrheit zu erkennen und als unser eigen anzunehmen.“ Und Lily R. Parnell erzählt uns: „Diese bildlichen Darstellungen der Vorsätze Jehovas hinsichtlich der Menschheit erweckten das Interesse vieler denkender Menschen, so daß die Versammlung [in Greenfield (Massachusetts)] wuchs, denn diese Bilder machten die Bibel zu einem lebendigen Buch, und sie zeigten nachdenklichen Menschen, welch kostbaren Aufschluß unser Gott zur Rettung derer beschafft hat, die sich diese Vorkehrung zunutze machen.“
Nicht ohne Grund sagte daher Demetrius Papageorge der schon lange ein Mitarbeiter im Hauptbüro der Gesellschaft ist: „Das Photo-Drama war ein Meisterwerk, wenn wir die kleine Anzahl von Bibelforschern berücksichtigen und bedenken, daß verhältnismäßig wenig Geld zur Verfügung stand. Jehova stand wirklich mit seinem Geist dahinter!“
DIE KOLPORTEURE — „GLÜHEND IM GEISTE“
Schon viele Jahre vor 1914 hatten eifrige Kolporteure — christliche Männer und Frauen, die „glühend im Geiste“ waren — die gute Botschaft weit und breit verkündigt (Röm. 12:11). Der Kolporteurdienst begann im Jahre 1881, als in Zions Wacht-Turm der Artikel „1 000 Prediger gesucht“ erschien. Personen, die keine familiären Verpflichtungen hatten und die die Hälfte ihrer Zeit oder mehr dem Werk des Herrn widmen konnten, wurde ein Plan vorgeschlagen. Er bestand darin, daß sie als Kolporteure oder Evangelisten in größere oder kleinere Städte gehen sollten. Zu welchem Zweck? Der Wacht-Turm schrieb: „[Sucht] überall die ernsten Christen zu finden ... Sucht ihnen den Reichtum der Gnade unseres Vaters und die Schönheiten seines Wortes kundzutun.“ In die Hände solcher Menschen sollten biblische Schriften gelegt werden, und es wurde den Kolporteuren gestattet, ihre eigenen Auslagen mit dem Geld zu bestreiten, das sie durch den Verkauf von Schriften oder durch das Aufnehmen von Abonnements auf den Wacht-Turm einnahmen.
Zions Wacht-Turm vom Mai 1887 (engl.) enthielt einige gute Vorschläge darüber, was die Kolporteure an den Türen sagen könnten. Auch hieß es darin: „Faßt euch ein Herz voller Liebe zu Gott und zu denen, die ihr ins Licht führen möchtet, voller Glauben an Gott und Vertrauen zu seinen Verheißungen und voller Hoffnung, daß es Gott gefallen wird, euch jetzt und auch in der Zukunft zu seiner Verherrlichung zu gebrauchen.“
Bereit, in Jehovas Dienst hart zu arbeiten, machten sich die Kolporteure einen Namen. Wohin sie auch kamen — in große und kleine Städte und in die Dörfer —, sie fielen auf. Ein Redakteur der Zeitschrift The Gospel Messenger fühlte sich Ende der 1890er Jahre bewogen zu sagen: „In Birmingham [Alabama] arbeiten jetzt mehrere Personen, die sich als ,nichtsektiererische Christen‘ bezeichnen. ... Sie haben in dieser Stadt von Haus zu Haus gearbeitet, das Werk MILLENNIAL DAWN verkauft und andere Schriften in Umlauf gesetzt. Sie sprechen bei jeder Gelegenheit über ihre Religion und predigen sonntags. Sie nennen sich ,Kolporteure‘. Sie haben in dieser Stadt über zweitausend Exemplare ihrer Bücher verbreitet. ... Warum können wir nicht unsere Schriften und die biblische Lehre, so, wie wir sie verstehen, auf die gleiche Weise verbreiten? Es ist eine Tatsache, fürchte ich, daß wir mit unseren Methoden festgefahren sind, und Gott deutet uns allmählich an, daß er uns, wenn wir keine Fortschritte machen, hintenanstellen wird.“
„Ja, in jener Zeit bearbeiteten Kolporteure die Städte und die Landgebiete“, schreibt Henry Farnick. Er erinnert sich noch gut an sie: „Manchmal tauschten sie [Bücher] gegen Farm-Erzeugnisse, Hühner, Seife und was sonst noch alles, was sie dann für sich gebrauchten oder an andere verkauften. In spärlich besiedelten Gegenden kam es auch vor, daß sie bei Farmern und Ranchern übernachteten, und manchmal schliefen sie sogar in Heuschobern ... Diese Treuen waren viele, viele Jahre tätig, bis das Alter sie überraschte.“
In all diesen Jahren sorgte Jehova Gott gut für diese treuen Kolporteure. Es fehlte ihnen tatsächlich an nichts Wesentlichem (Ps. 23:1). „Wir lebten sparsam von den Beiträgen, die wir durch die Verbreitung der Literatur erhielten“, sagt Clarence S. Huzzey. „Das erforderte Glauben an Jehovas liebevolle Fürsorge, und ich kann ehrlich sagen, daß wir nie Hunger leiden mußten und daß wir während der vielen Jahre des Vollzeitdienstes immer ausreichend Obdach und Kleidung hatten (Ps. 37:25). Wie wunderbar sorgte doch Jehova für das, was wir benötigten!“
Die Lebenshaltungskosten waren damals nicht sehr hoch, aber das bedeutete nicht, daß die Kolporteure es sich leisten konnten, anspruchsvoll zu sein. Nimm als Beispiel das Jahr 1910. Malinda Z. Keefer erinnert sich an eine Kolporteurzuteilung in Council Bluffs (Iowa), und sie schreibt: „Council Bluffs war ein härteres Gebiet, aber wenn man mit einer positiven Einstellung daranging, konnte man auskommen. Die Lebenshaltungskosten waren in jenen Tagen viel niedriger als heute. Unsere Beförderungsart (wir liefen) und auch die Lebensmittel waren nicht teuer: Brot kostete 5 Cent pro Laib, Zucker 5 Cent das Pfund, Steak 25 Cent das Pfund — und das war ein wirklicher Festschmaus, wenn wir es bekommen konnten. Die Zimmermieten waren angemessen, und der Fahrpreis für die Straßenbahn betrug 5 Cent. Welch ein Unterschied zu den 1970er Jahren!“
Ende 1921 nahm George E. Hannan den Kolporteurdienst auf. Über die Lebenshaltungskosten schrieb er: „Die Rechnung für die Verpflegung betrug in der Woche 4 Dollar. Ich hatte ein warmes Essen am Tag. Die anderen zwei Mahlzeiten bestanden aus Dörrobst und Gemüse, das ich gegen Schriften eintauschte. Wenn ich gefragt wurde, was ich machen würde, wenn mir die Mittel ausgingen, sagte ich: ,Nun, abwarten und sehen, was Jehova für mich tut.‘ Ich hörte von einigen, die aufgegeben hatten, als sie nur noch 50 Dollar hatten. Meiner Meinung nach war es noch nicht nötig, daß Jehova eingriff, solange man noch 50 Dollar oder auch nur noch 10 Dollar oder einen Dollar hatte. Ich war überzeugt, daß er mir helfen würde, die hohen Lebenshaltungskosten, nicht aber die Kosten für einen hohen Lebensstandard zu bestreiten.“
Und wie stand es mit den Transportmitteln? Charles H. Capen erinnert sich, daß er mehrere Verwaltungsbezirke Pennsylvaniens „auf ,Schusters Rappen‘ (zu Fuß)“ bearbeitete. Für andere Kolporteure war das Fahrrad eine wirkliche Hilfe. „In den Jahren 1911 bis 1914 arbeiteten Kolporteure in unserer Gegend in Ohio“, erklärt LaRue Witchey und fährt fort: „Sie arbeiteten hart im Dienste und fuhren viele Kilometer mit dem Fahrrad, beladen mit Schriftstudien.“ Natürlich konnte die erste Fahrt auf einem Fahrrad für einen Kolporteur ein aufregendes Erlebnis sein.
Vielleicht war ein Pferd besser geeignet. Malinda Z. Keefer erinnert sich noch liebevoll an Dobbin. „Dobbin war ein braves Pferd und mußte nie angebunden werden. Es wartete auf mich, wenn ich an die Türen ging, und ging dann mit mir zusammen zum nächsten Ort.“
Aber nicht alle Pferde waren wie Dobbin. Das mußten die Kolporteurinnen Anna E. Zimmerman und Esther Snyder erfahren. Stell dir zwei Frauen in einem gemieteten Pferdewagen vor, der von einem Pferd gezogen wurde, das gerade aus dem Westen eingetroffen war. Schwester Zimmerman erzählt uns: „Das Pferd ließ sich von niemandem überholen, nicht einmal von dem Zug, dessen Strecke mehrere Kilometer vor dem Mietstall parallel zur Straße verlief. Ich rief dem Lokführer zu: ,Warten Sie bitte am Bahnhof, bis wir unser Pferd zum Mietstall gebracht haben.‘ Er erwiderte: ,Okay, lassen Sie sich Zeit.‘ Das Pferd jagte so schnell weiter wie zuvor. Als wir den Stall ,okay‘ erreichten, entschuldigte sich der Stallbesitzer und sagte, er habe gerade zu Mittag gegessen, als wir das Pferd mieteten, und der Stalljunge, der sich vor dem Pferd fürchtete, habe es mir überlassen, das Pferd zuzureiten, was eigentlich seine Aufgabe gewesen sei.“
Dann gab es das Automobil, das in späteren Jahren von einigen Kolporteuren benutzt wurde. Heute gibt es natürlich in den meisten Gegenden der Vereinigten Staaten gut gepflasterte Straßen. Nicht aber vor einigen Jahrzehnten. Fahrten mit dem Auto konnten daher auch Probleme bereiten. Einmal zum Beispiel „war ein zugeschüttetes Loch so groß und die hineingeschüttete Erde so weich, daß der Wagen plötzlich bis zur Achse in das Loch sank“, schreiben Hazelle und Helen Krull. „Unsere so oft benutzte Schaufel war dieser mißlichen Lage nicht gewachsen“, erinnern sie sich. „Ein freundlicher Nachbar erbot sich, den Wagen mit seinem Maultier herauszuziehen, aber wir suchten noch zusätzlich die Straße nach Holzstücken, Stämmen oder Zweigen ab, um das tief eingesunkene Heck des Autos hochzustemmen. Und so war es ein glücklicher Augenblick, als es uns mit Hilfe des Maultiers vorn, der Maschine in der Mitte und energischer Stöße von hinten nach vielen vergeblichen Versuchen gelang, den Wagen aus dem Loch herauszuholen. Aber dieser Tag hatte auch seine Freuden. Vor diesem Zwischenfall hatten wir einige interessante Besuche gemacht, einige davon in abgelegenen Häusern, zu denen wir zu Fuß gingen; und so wurde die Mühe durch die Freude ausgeglichen. Wie David flehten wir oft in unserem Herzen: ,Höre doch, o Gott, meinen inständigen Ruf. Merke doch auf mein Gebet‘ (Ps. 61:1).“
Doch viel wichtiger als die Probleme, auf die die Kolporteure stießen, war ihre Predigttätigkeit. Stellen wir uns vor, wir begleiteten sie jetzt, während sie bei den Menschen vorsprechen. William P. Mockridge schloß sich Vincent C. Rice im Jahre 1906 in Schenectady (New York) im Kolporteurwerk an. Er hilft uns, uns in jene Tage zurückzuversetzen, und erzählt: „Am ersten Tag arbeitete ich den ganzen Tag lang, ohne irgend etwas abzugeben, und doch hielt man mich für einen Superverkäufer. In jener Nacht betete ich zu Jehova, er möge mir helfen, materielle Dinge aus meinem Sinn zu verbannen und die demütige und freundliche Art von Bruder Rice nachzuahmen, der immer ein fröhliches Wort auf der Zunge hatte, ganz gleich, wer an die Tür kam. So begann ich bald, viele gebundene Bücher abzugeben, und ich benutzte dabei einen von der Gesellschaft herausgegebenen ,Prospekt‘. ... Wir nahmen dann Bestellungen für die ersten drei Bände [der Schriftstudien] entgegen, die 98 Cent kosteten, oder für die sechs Bände, die 1.98 Dollar kosteten. Diese Bestellungen wurden am ,Zahltag‘, gewöhnlich am 1. oder 15. des Monats, ausgeliefert.“
Ist dir aufgefallen, daß Bruder Mockridge erwähnt, daß er einen „Prospekt“ benutzte? Dieser Prospekt wurde jahrelang von Kolporteuren und anderen Bibelforschern benutzt, die sich am Predigtwerk von Haus zu Haus beteiligten. Das war eine Sammlung der Buchdeckel der sechs Bände der Anbruchs-Serie (Schriftstudien), die so zusammengebunden waren, daß man sie wie eine Ziehharmonika auseinanderziehen konnte. An der Tür breitete der Kolporteur sie auf seinem Arm aus und hielt über jedes der Themen dieser Bücher eine Ansprache. Er nahm dann Bestellungen entgegen und lieferte die bestellten Bücher zu einer späteren Zeit ab.
„Die Liefertage waren hart“, gesteht Pearl Wright, „denn so ein Koffer voll Bücher war schwer zu tragen.“ Das kann man sich vorstellen. Nehmen wir an, ein Kolporteur hat Bestellungen für fünfzig Bände der Schriftstudien entgegengenommen. Eine solche Anzahl Bücher wog fast 20 Kilogramm, eine schwere Last für Frauen und sogar für viele Männer. Im Laufe der Zeit erfand der Kolporteur James H. Cole jedoch eine zweirädrige Vorrichtung aus Nickelblech, die an einem Koffer befestigt werden konnte.
Diese Vorrichtung „war ein Blickfang“, berichtet Anna E. Zimmerman, die uns erzählt: „Ich kann mich noch erinnern, daß wir einmal in Hollidaysburg (Pennsylvanien) Kolporteurdienst machten. Ich mußte meinen Koffer in der Mittagszeit direkt durch das Geschäftsviertel rollen. Davor hatte ich Angst, aber während ich so dahinging und meinen Koffer rollte, kam plötzlich ein gutgekleideter Herr von hinten auf mich zu, nahm den Griff meines Koffers in die Hand und fragte mich: ,Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich eine Zeitlang weiterschiebe? Ich möchte gern mal sehen, wie das geht. Sie können ja anscheinend spielend damit umgehen.‘ Nun, er rollte den Koffer durch das ganze Geschäftsviertel, und so brauchte ich es nicht selbst zu tun. Ich erfuhr, daß er der Zeitungsherausgeber der Stadt war.“ Am nächsten Tag stand ein ausführlicher Bericht in der Lokalzeitung.
Selbstlos arbeiteten die treuen Kolporteure eifrig und gewissenhaft und vertrauten auf Jehova. Und ihre Mühe wurde belohnt. Zufolge der Tätigkeit der Kolporteure entstanden neue Versammlungen. Die Kolporteure empfanden tiefe Befriedigung und wurden geistig reich belohnt. Im Jahre 1907 nahmen Edythe Kessler und ihre Schwester Clara freudig den Kolporteurdienst auf. Sie gingen viel zu Fuß, und am „Liefertag“ gab es viele Bände zu tragen. Ja, sie wurden müde, aber Edythe scheint im Namen aller treuen Kolporteure der alten Zeit zu sprechen, wenn sie sagt: „Wir waren jung und glücklich im Dienst und freuten uns, unsere Kraft im Dienste für Jah zu verbrauchen.“
‘KEINE WAFFE, DIE GEGEN DICH GEBILDET SEIN WIRD, SOLL ERFOLG HABEN’
Während all der Jahre, in denen treue Kolporteure und andere Bibelforscher eifrig die gute Botschaft verkündigten, hat Satan, der Teufel, nie nachgelassen oder aufgehört zu versuchen, sie zu unterdrücken und zu vernichten. Dies wäre ihm auch gelungen, hätte Gott sie nicht beschützt (1. Petr. 5:8, 9; Hebr. 2:14). Sie erkannten, wie wahr Gottes Verheißung gegenüber seinem Volk der alten Zeit war: „Welche Waffe es auch immer sei, die gegen dich gebildet sein wird, sie wird keinen Erfolg haben, und welche Zunge es auch immer sei, die sich im Gericht gegen dich erheben wird, du wirst sie verurteilen“ (Jes. 54:17).
Jesus Christus wurde verfolgt, und seine Nachfolger können erwarten, von Anhängern der falschen Religion und von der Welt im allgemeinen genauso behandelt zu werden (Joh. 15:20). Manchmal jedoch kamen Satans Angriffe von innen und gingen von skrupellosen Personen innerhalb der Christenorganisation aus und entwickelten sich aus Vorfällen in Verbindung mit Personen, die wirklich „nicht von unserer Art“ waren (1. Joh. 2:19).
Man wird sich daran erinnern, daß sich C. T. Russell in den 1870er Jahren von N. H. Barbour, dem Herausgeber der Zeitschrift The Herald of the Morning, trennte. Er tat dies, weil Barbour die biblische Lehre vom Lösegeld leugnete, für die Russell standhaft eintrat. Skrupellos versuchten dann Anfang der 1890er Jahre gewisse prominente Personen in der Organisation, die Macht über die Gesellschaft an sich zu reißen. Die Verschwörer planten, regelrechte „Bomben“ zum Platzen zu bringen, um der Beliebtheit Russells ein Ende zu machen und ihn als Präsidenten der Gesellschaft auszuschalten. Nachdem sich die Verschwörung nahezu zwei Jahre lang zusammengebraut hatte, brach sie im Jahre 1894 aus. Die Beschwerden und falschen Anklagen drehten sich hauptsächlich darum, daß C. T. Russell in seinem Geschäftsgebaren angeblich unehrlich gewesen sei. Tatsächlich waren einige Anklagen sehr geringfügig, und sie verrieten die wahre Absicht der Ankläger, nämlich C. T. Russell zu diffamieren. Unparteiische Mitgläubige untersuchten die Angelegenheiten und fanden, daß Russell im Recht war. Daher war der Plan der Verschwörer, „Mr. Russell und sein Werk in die Luft zu jagen“, ein kompletter Fehlschlag. Wie der Apostel Paulus, so hatte auch Bruder Russell Schwierigkeiten durch „falsche Brüder“, aber man erkannte diese Versuchung als einen Anschlag Satans, und die Verschwörer wurden als ungeeignet betrachtet, sich weiterhin der christlichen Gemeinschaft zu erfreuen (2. Kor. 11:26).
Damit waren natürlich C. T. Russells Prüfungen und Schwierigkeiten nicht zu Ende. Durch Umstände in seinem eigenen Haus sollte er noch ganz persönlich berührt werden. Während der Schwierigkeiten im Jahre 1894 unternahm Mrs. Russell (geborene Maria Frances Ackley, die Russell 1879 geheiratet hatte) eine Reise von New York nach Chicago, besuchte unterwegs Bibelforscher und sprach zugunsten ihres Gatten. Sie war eine gebildete und intelligente Frau und wurde daher gut aufgenommen, als sie damals die Versammlungen besuchte.
Mrs. Russell war ein Vorstandsmitglied der Watch Tower Society und diente einige Jahre lang als Sekretär und Kassierer. Außerdem schrieb sie regelmäßig Beiträge für die Spalten von Zions Wacht-Turm und war eine Zeitlang Mitherausgeber der Zeitschrift. Schließlich suchte sie ein größeres Mitspracherecht im Hinblick auf das, was im Wacht-Turm veröffentlicht werden sollte. Dieser Ehrgeiz war vergleichbar mit dem Ehrgeiz Mirjams, Moses’ Schwester, die sich gegen ihren Bruder, den von Gott eingesetzten Führer Israels, erhob und versuchte, in eine prominentere Stellung zu gelangen — ein Bestreben, das ihr Gottes Mißbilligung eintrug (4. Mose 12:1-15).
Wie kam Mrs. Russell zu dieser Einstellung? „Später erfuhr ich auch“, schrieb C. T. Russell im Jahre 1906, „daß gleichzeitig der Versuch gemacht worden war, meiner Frau den Samen der Disharmonie mittels ,Frauenrechts‘gedanken und Schmeicheleien ins Herz zu säen. Durch Gottes Vorsehung wurde mir bei dieser Erschütterung [im Jahre 1894] die Demütigung erspart, auch meine Frau unter den Verschwörern zu finden. ... Als es anfing, ruhiger zu werden, traten ,Frauenrechts‘gedanken und persönlicher Ehrgeiz wieder hervor, und ich sah, daß Mrs. Russells rege Tätigkeit zu meiner Verteidigung und die sehr herzliche Aufnahme, die ihr von den lieben Freunden damals auf einer Rundreise zuteil geworden war ..., ihr geschadet hatten, indem die Wertschätzung ihrer eigenen Person größer geworden war. ... Allmählich schien sie zu der Schlußfolgerung gekommen zu sein, daß nichts mehr ganz recht sei für den Wacht-Turm, außer was sie geschrieben hatte, und ich wurde beständig mit Vorschlägen von Abänderungen in meinen Artikeln belästigt. Es schmerzte mich, diese wachsende Neigung wahrzunehmen, so ganz verschieden von dem demütigen Sinn, der sie in den ersten dreizehn glücklichen Jahren charakterisiert hatte.“
Mrs. Russell erschwerte sehr die Zusammenarbeit, und das gespannte Verhältnis blieb bestehen. Aber Anfang 1897 wurde sie krank, und ihr Mann kümmerte sich sehr viel um sie. Er tat dies liebevoll und glaubte, seine freundliche Fürsorge würde ihr Herz rühren und ihr früheres zartes, liebes Wesen wiederherstellen. Sobald sich Mrs. Russell erholt hatte, berief sie jedoch ein Komitee ein und traf sich mit ihrem Mann, „hauptsächlich, damit die Brüder mir sagten, daß sie auf die Spalten des Wacht-Turms ein gleiches Recht habe wie ich und daß ich ihr in der Verweigerung der verlangten Freiheit unrecht tue“, schrieb C. T. Russell. Der Ausgang der Sache war, daß das Komitee ihr mitteilte, weder sie noch andere Personen hätten das Recht, in Bruder Russells Verwaltung des Wacht-Turms einzugreifen. Mrs. Russell sagte darauf, kurz gesagt, sie könne zwar nicht mit dem Komitee übereinstimmen, wolle aber versuchen, die Dinge vom Standpunkt des Komitees aus anzusehen. Russell berichtete weiter: „Ich fragte sie dann in ... Gegenwart [des Komitees], ob sie mir die Hand reichen würde. Sie zögerte, gab mir aber schließlich ihre Hand. Dann sagte ich: ,Nun, meine Geliebte, gibst du mir auch einen Kuß als Zeichen für den Grad deiner Sinnesänderung, die du angedeutet hast?‘ Wiederum zögerte sie, aber schließlich gab sie mir einen Kuß und gab auch sonst in Gegenwart des Komitees den Beweis erneuter Liebenswürdigkeit.“
Somit küßten sich die Russells und versöhnten sich wieder. Später richtete C. T. Russell auf Verlangen seiner Frau eine wöchentliche Zusammenkunft „der Schwestern der Versammlung in Allegheny“ ein, die sie leitete. Das führte zu weiteren Schwierigkeiten — zu der Verbreitung von verleumderischen Bemerkungen über C. T. Russell. Aber auch diese Schwierigkeit wurde beigelegt.
Doch schließlich führte die wachsende Abneigung dazu, daß Mrs. Russell ihre Beziehungen zur Watch Tower Society und zu ihrem Mann löste. Ohne ihren Mann davon in Kenntnis zu setzen, trennte sie sich nach fast achtzehnjähriger Ehe im Jahre 1897 von ihm. Fast sieben Jahre lang lebten sie getrennt, und C. T. Russell besorgte ihr eine eigene Wohnung und unterstützte sie auch finanziell. Im Juni 1903 strengte Mrs. Russell einen Prozeß im Kreisgericht von Pittsburgh (Pennsylvanien) an, um sich gesetzlich trennen zu lassen. Im April 1906 kam der Fall vor Richter Collier und einer Jury zur Verhandlung. Fast zwei Jahre später, am 4. März 1908, wurde das Urteil gefällt, das mit „In Scheidung“ überschrieben war. Das Urteil lautete wie folgt: „Es wird jetzt angeordnet, geurteilt und entschieden, daß Maria F. Russell, die Klägerin, und Charles T. Russell, der Beklagte, von Tisch und Bett getrennt sein sollen.“ „Von Tisch und Bett getrennt“, so heißt es sowohl im Urteil als auch in den Eintragungen in der Prozeßliste, die der Gerichtsschreiber gemacht hat. Dies war eine gesetzliche Trennung. Es kam nie zu einer regelrechten Scheidung, wie einige irrtümlich behaupteten. Bouvier’s Law Dictionary (Banks-Baldwin Law Publishing Company, 1940) definiert diesen Vorgang als „eine gerichtliche Trennung, durch die beide Parteien getrennt werden und nicht zusammen leben oder den Beischlaf ausüben dürfen, durch die aber die Ehe selbst nicht aufgelöst wird (1 Bl. Com. 440)“ (Seite 314). Auf Seite 312 heißt es, dieser Vorgang „könnte passender als eine gesetzliche Trennung bezeichnet werden“.
C. T. Russell selbst verstand völlig, daß das Gericht keine regelrechte Ehescheidung ausgesprochen hatte, sondern daß es eine gesetzliche Trennung war. Im Jahre 1911 wurde er auf einer Vortragsreise durch Irland in Dublin gefragt: „Ist es wahr, daß du von deiner Frau geschieden bist?“ Über seine Antwort schrieb Russell: „ ‚Ich bin nicht von meiner Frau geschieden. Das Urteil des Gerichts lautete nicht auf Scheidung, sondern auf Trennung, und es wurde von einer verständnisvollen Jury gefällt, die erklärte, wir würden beide glücklicher sein, wenn wir getrennt lebten. Meine Frau hatte mich wegen seelischer Grausamkeit angeklagt, aber die einzige Grausamkeit, die mir nachgewiesen werden konnte, war meine Weigerung, sie bei einer Gelegenheit zu küssen, als sie es verlangte.‘ Ich versicherte meinen Zuhörern, daß ich die Anklage auf seelische Grausamkeit angefochten habe und daß meiner Ansicht nach keine Frau jemals besser von ihrem Mann behandelt worden sei. Der Applaus zeigte, daß die Zuhörer meinen Erklärungen glaubten.“
In dieser Hinsicht ist auch das bedeutsam, was sich bei C. T. Russells Beerdigung in Pittsburgh im Jahre 1916 ereignete. Anna K. Gardner, deren Erinnerungen ganz ähnlich sind wie die anderer Anwesender, erzählt uns dies: „Kurz vor der Beerdigungsfeier in der Carnegie Hall ereignete sich ein Vorfall, der die Lügen widerlegte, die in der Presse über Bruder Russell berichtet worden waren. Schon lange vor der Beerdigungsfeier war die Halle voll, und es war sehr ruhig, und dann sah man plötzlich, wie eine verschleierte Gestalt durch den Mittelgang zum Sarg ging und etwas darauf legte. Wer vorn saß, konnte sehen, was es war: ein Strauß Maiglöckchen, Bruder Russells Lieblingsblumen. Daran war ein Band befestigt mit der Aufschrift ,Für meinen geliebten Gatten‘. Es war Mrs. Russell. Sie waren nie geschieden, und dies war eine öffentliche Bestätigung.“
Man kann sich gut vorstellen, welchen Kummer und welche seelische Belastung diese häuslichen Prüfungen für C. T. Russell bedeuteten. In einem nichtdatierten handgeschriebenen Brief an Mrs. Russell schrieb er, als die Eheschwierigkeiten einen bestimmten Stand erreicht hatten, folgendes: „Wenn Dich dieser Brief erreicht, wird es gerade eine Woche her sein, daß Du den verlassen hast, dem Du vor Gott und Menschen versprachest, ihn zu lieben und ihm zu gehorchen und zu dienen, ,in Freud und Leid, bis daß der Tod euch scheide‘. Gewiß ist es wahr, daß ,Erfahrung ein guter Lehrmeister‘ ist. Nur sie hätte mich so von Dir, von der ich wirklich sagen kann, daß ich früher keine liebevollere und ergebenere Gehilfin hätte haben können, überzeugen können. Wärest Du anders gewesen, so hätte Dich der Herr — des bin ich gewiß — mir nicht gegeben. Alles, was er tut, ist gut. Ich danke ihm für die Fürsorge, die er mir in dieser Hinsicht erwiesen hat, und denke mit Freuden an die Zeit zurück, in der Du mich mindestens dreißigmal am Tag küßtest und mir wiederholt sagtest, daß Du nicht wüßtest, wie Du ohne mich leben könntest, und daß Du davor Angst hättest, ich würde zuerst sterben ... Und ich erinnere mich, daß Du mir einige dieser Liebesbezeigungen noch vor anderthalb Jahren gegeben hast, obwohl Deine Liebe vor einem Jahr bereits weniger glühend war — wegen Eifersucht und Argwohn, ungeachtet dessen, daß ich Dir versicherte, wie sehr ich Dich liebe, und dies hundertmal wiederholt habe und auch jetzt noch beteure.“
Russell glaubte, daß der große Widersacher damals seine Frau „fest im Griff“ hatte. Er schrieb: „Ich habe ernstlich zum Herrn für Dich gebetet“, und er versuchte auch, ihr zu helfen. Des weiteren schrieb er: „Ich will Dich nicht mit meinem Kummer belasten noch versuchen, Dein Mitgefühl zu erwecken, indem ich Dir schildere, was ich empfinde, wenn ich von Zeit zu Zeit Deine Kleider und andere Gegenstände betrachte, die mir lebhaft Dein früheres Wesen vor Augen führen, das so voller Liebe und Mitgefühl und Hilfsbereitschaft war — Christi Geist. Mein Herz ruft aus: ,Oh, wäre sie oder wäre ich doch in dieser glücklichen Zeit gestorben!‘ Aber anscheinend waren die Prüfungen und Erprobungen noch nicht genügend fortgeschritten. ... Oh, erwäge doch gebetsvoll, was ich Dir sagen will. Und sei versichert, daß meine größte und heftigste Sorge nicht die ist, daß ich für den Rest meines Lebens allein bleiben werde, sondern daß Du gefallen bist, meine Geliebte, daß Du für ewig verloren bist, soweit ich es sehen kann.“
NICHT UNSITTLICH
Als wäre die Belastung durch Russells Eheschwierigkeiten nicht genug, erdreisteten sich seine Feinde, unverschämte Anklagen gegen ihn zu erheben, um ihn als unsittlich hinzustellen. Diese absichtlichen Lügen drehten sich um die sogenannte „Quallengeschichte“. Im April 1906 bezeugte Mrs. Russell vor Gericht, eine gewisse Miss Ball habe ihr erzählt, C. T. Russell habe einmal zu ihr gesagt: „Ich bin wie eine Qualle. Ich schwimme dahin und dorthin, ich berühre diese und jene, und wenn sie darauf reagiert, nehme ich sie mir, wenn nicht, schwimme ich weiter zu anderen.“ Auf dem Zeugenstand bestritt C. T. Russell nachdrücklich die „Quallengeschichte“, und die ganze Angelegenheit wurde vom Gerichtsprotokoll gestrichen. „Was das Mädchen betrifft, das im Hause war“, belehrte der Richter die Geschworenen, „das gehört nicht zur Klage und hat nichts mit dem Fall zu tun, da es nicht vorgebracht wurde.“
Das Mädchen, um das es hierbei ging, war im Jahre 1888 als Waise zu den Russells gekommen, und es war damals etwa zehn Jahre alt. Sie behandelten das Mädchen wie ihr eigenes Kind, und es gab Mr. und Mrs. Russell jeden Abend vor dem Zubettgehen einen Gutenachtkuß (Gerichtsprotokoll, Seite 90 und 91). Mrs. Russell bezeugte, der angelastete Vorfall habe sich 1894 ereignet, als dieses Mädchen nicht älter als 15 Jahre gewesen sein konnte (Gerichtsprotokoll, Seite 15). Danach lebte Mrs. Russell noch drei Jahre mit ihrem Mann zusammen und war dann etwa sieben Jahre lang von ihm getrennt, bevor sie einen Prozeß um die Aufhebung der ehelichen Gemeinschaft anstrengte. In ihrer Scheidungsklage wurde diese Angelegenheit nicht erwähnt. Obwohl Miss Ball damals lebte und Mrs. Russell wußte, wo sie lebte, unternahm sie weder einen Versuch, sie als Zeugin anzuführen, noch wies sie eine Aussage von ihr vor. C. T. Russell selbst konnte Miss Ball nicht bitten, als Zeuge auszusagen, weil er nicht wußte oder ahnte, daß seine Frau diese Sache zur Sprache bringen würde. Außerdem war drei Jahre nach dem angelasteten Vorfall, als Mrs. Russell ein Komitee einberufen hatte, vor dem sie und ihr Mann bestimmte Meinungsverschiedenheiten besprachen, die „Quallengeschichte“ mit keinem Wort erwähnt worden. In dem Prozeß um die Aufhebung der ehelichen Gemeinschaft hatte Mrs. Russells Rechtsanwalt gesagt: „Wir klagen nicht wegen Ehebruchs.“ Und daß Mrs. Russell niemals glaubte, ihr Ehemann habe sich eines unsittlichen Verhaltens schuldig gemacht, geht ebenfalls aus dem Gerichtsprotokoll hervor (Seite 10). Ihr eigener Rechtsanwalt fragte sie: „Sie sind also nicht der Meinung, daß Ihr Mann des Ehebruchs schuldig ist?“ Sie antwortete: „Ich bin nicht der Meinung.“
Während der prüfungsvollen Zeit häuslicher Schwierigkeiten und der damit verbundenen Härten half Jehova Charles T. Russell durch seinen heiligen Geist. Gott benutzte Russell während dieser Jahre weiter in seinem Dienst, nicht nur, um Artikel für Zions Wacht-Turm zu schreiben, sondern auch, um sich anderer wichtiger Pflichten zu entledigen und drei Bände der Anbruchs-Serie (oder der Schriftstudien) zu schreiben. Wie ermutigend ist dies doch für Christen heute, die trotz verschiedener Prüfungen treu Gottes Willen tun! Besonders ermutigend für Jesu treue gesalbte Nachfolger sind folgende Worte von Jakobus: „Glücklich ist der Mann, der die Prüfung erduldet, denn nachdem er sich bewährt hat, wird er die Krone des Lebens empfangen, die Jehova denen verheißen hat, die ihn beständig lieben“ (Jak. 1:12).
WUNDERWEIZEN
Russells Feinde verwandten nicht nur seine Familienangelegenheiten, sondern auch andere Vorfälle als „Waffen“ gegen ihn. Zum Beispiel warfen sie ihm vor, er habe eine große Menge gewöhnlichen Weizensamen unter dem Namen „Wunderweizen“ zu 1 Dollar pro Pfund oder zu 60 Dollar pro Scheffel verkauft. Sie behaupteten, Russell habe daraus einen gewaltigen Verdienst für sich selbst erzielt. Doch diese Anschuldigungen waren völlig falsch. Wie sahen die Tatsachen aus?
Im Jahre 1904 bemerkte Mr. K. B. Stoner eine ungewöhnliche Pflanze in seinem Garten in Fincastle (Virginia). Es stellte sich heraus, daß es eine unbekannte Weizensorte war. Die Pflanze hatte 142 Halme, von denen jeder eine voll ausgereifte Ähre trug. Im Jahre 1906 bezeichnete er diese Pflanze als „Wunderweizen“. Schließlich kauften noch andere den Weizen, bauten ihn an und erzielten außerordentliche Erträge. Ja, der Wunderweizen gewann auf mehreren Landwirtschaftsausstellungen Preise. C. T. Russell interessierte sich sehr für alles, was mit den biblischen Prophezeiungen zusammenhing: „Die Wüstenebene wird voller Freude sein und blühen wie der Safran“ und „Das Land selbst wird seinen Ertrag geben“ (Jes. 35:1; Hes. 34:27), Am 23. November 1907 erstattete H. A. Miller, stellvertretender Landwirtschaftsberater der US-Regierung, dem Landwirtschaftsministerium Bericht über diesen von Mr. Stoner angebauten Weizen. Im ganzen Land nahm die Presse von diesem Bericht Notiz. Auch C. T. Russell wurde darauf aufmerksam, und so veröffentlichte er in Zions Wacht-Turm vom 15. März 1908, Seite 86 (deutsch: Oktober 1908, Seite 148) einige Pressekommentare und Auszüge aus dem Regierungsbericht. Im Anschluß daran gab er folgenden Kommentar: „Auch wenn nur die Hälfte des oben gegebenen Berichtes wahr sein sollte, so würde das von neuem beweisen, daß Gott wohl fähig ist, hinreichende Mittel zu schaffen für die ‚Zeiten der Wiederherstellung aller Dinge, von welchen Gott durch den Mund seiner heiligen Propheten von jeher geredet hat‘ (Apg. 3, 19-21).“
Mr. Stoner war kein Bibelforscher und kein Freund C. T. Russells, noch waren es die verschiedenen anderen Personen, die mit dem Wunderweizen experimentierten. Im Jahre 1911 jedoch spendeten die Wacht-Turm-Leser J. A. Bohnet aus Pittsburgh (Pennsylvanien) und Samuel J. Fleming aus Wabash (Indiana) der Watch Tower Bible and Tract Society etwa 30 Scheffel Wunderweizen und schlugen vor, er solle für 1 Dollar pro Pfund verkauft werden und der Erlös solle der Gesellschaft zukommen und für ihre religiöse Tätigkeit verwendet werden. Die Gesellschaft nahm den Weizen entgegen und verkaufte ihn. Die Bruttoeinnahmen betrugen etwa 1 800 Dollar. Russell selbst behielt nicht einen Pfennig von diesem Geld. Er veröffentlichte lediglich eine Erklärung im Wacht-Turm, die besagte, der Weizen sei gespendet worden und sei für 1 Dollar pro Pfund erhältlich. Die Gesellschaft selbst behauptete nichts über diesen Weizen, auch nicht, eigene Erfahrungen damit gemacht zu haben, und das dafür erhaltene Geld wurde als Spende für das christliche Missionswerk verwandt. Als andere diesen Verkauf kritisierten, wurde allen, die etwas von dem Weizen gekauft hatten, mitgeteilt, das Geld werde ihnen zurückerstattet, wenn sie nicht zufrieden seien. Tatsächlich wurde das für den Weizen eingegangene Geld ein Jahr lang zu diesem Zweck aufgehoben. Aber nicht einer verlangte eine Rückzahlung. Das Verhalten Bruder Russells und der Gesellschaft in Verbindung mit dem Wunderweizen war völlig korrekt und ehrlich.
Weil Charles Taze Russell die Wahrheit aus Gottes Wort lehrte, wurde er gehaßt und verleumdet, oft von der Geistlichkeit. Aber Christen in der Neuzeit kann eine solche Behandlung nicht überraschen, denn Jesus und seine Apostel wurden von religiösen Gegnern ebenso behandelt (Luk. 7:34).
‘JEHOVA WIRD SEIN VOLK NICHT IM STICH LASSEN’
Jehova ist ein treuer Gott. Der Prophet Samuel gab dem Volk Israel den Rat, Gott mit ganzem Herzen zu dienen, und erklärte dann: „Jehova wird sein Volk um seines großen Namens willen nicht im Stich lassen, weil Jehova es auf sich genommen hat, euch zu seinem Volk zu machen“ (1. Sam. 12:20-25).
Die Bibelforscher konnten bestimmt sagen, daß dies auf sie zutraf. Einige Erfahrungen, die sie zwischen 1914 und 1916 machten, brachten ihnen zum Beispiel Enttäuschung und Kummer. Doch Jehova bewahrte sein Volk; er verließ es nie (1. Kor. 10:13).
GROSSE ERWARTUNGEN
Damals gab es auch Gründe zur Freude. Jahrelang hatten Gottes Diener auf 1914 als auf das Jahr hingewiesen, das das Ende der Heidenzeiten kennzeichnen würde. Ihre Erwartungen sollten nicht enttäuscht werden. Am 28. Juli 1914 brach der Erste Weltkrieg aus, und während der 1. Oktober näher rückte, wurden immer mehr Nationen und Reiche in diesen Krieg verwickelt. Wie Jehovas christliche Zeugen aus ihrem Studium der Bibel wissen, endete die Zeitspanne der ununterbrochenen Weltherrschaft durch die Heiden im Jahre 1914, als Gottes himmlisches Königreich, dessen König Jesus Christus ist, geboren wurde (Offb. 12:1-5). Doch es gab auch andere Erwartungen hinsichtlich des Jahres 1914. Darüber schrieb Bruder A. H. Macmillan in seinem Buch Faith on the March: „Wie ich mich noch gut erinnern kann, begab sich Pastor Russell am 23. August 1914 auf eine Reise in den Nordwesten, entlang der pazifischen Küste bis in die Südstaaten und schließlich nach Saratoga Springs (New York), wo wir vom 27. bis 30. September einen Kongreß abhielten. Das war eine hochinteressante Zeit, weil einige von uns ernsthaft dachten, wir würden in der ersten Oktoberwoche in den Himmel kommen.“
Einige Bibelforscher waren fest überzeugt, 1914 in den Himmel zu kommen. „Wir dachten damals“, erzählt Schwester D. T. Kenyon, „daß der Krieg in Revolution und in Anarchie übergehen würde. Dann würden die Gesalbten oder die Geweihten sterben und verherrlicht werden. Eines Nachts träumte ich, daß die ganze Ekklesia (Versammlung) in einem Zug sitze und irgendwohin führe. Dann donnerte und blitzte es plötzlich, und auf einmal begannen alle Freunde um mich herum zu sterben. Ich dachte, das sei ganz in Ordnung, aber so sehr ich mich auch bemühte, ich konnte nicht sterben. Es war zum Verzweifeln! Dann starb ich ganz plötzlich, und ich fühlte mich sehr erleichtert und zufrieden. Ich erzähle dies nur, um zu zeigen, wie sicher wir waren, daß bald alles zu Ende sein würde, soweit es diese alte Welt betraf, und daß der Überrest der ,kleinen Herde‘ verherrlicht werden sollte (Luk. 12:32).“
Hazelle und Helen Krull erinnern sich noch, daß sich im Jahre 1914 am Mittagstisch im Bethel die Gespräche oft um das Ende der Heidenzeiten drehten. Sie erzählen, daß Bruder Russell von Zeit zu Zeit ausführliche Erläuterungen machte, zur Treue ermunterte und erklärte, die Zeitberechnung sei überprüft worden und scheine immer noch zu stimmen; er habe aber auch gesagt: „Wenn wir mehr erwarten, als die Bibel andeutet, dann müssen wir bereit sein, uns umzustellen und Herz und Sinn glaubensvoll auf Jehovas Wege zu richten und abzuwarten, wie er den Ausgang der damit verbundenen Ereignisse lenkt.“
Ein Vorfall, der sich im Jahre 1914 während eines Kongresses in Saratoga Springs ereignete, läßt erkennen, wie Bruder Macmillan darüber dachte, in jenem Jahr in den Himmel „heimzugehen“. Er schrieb: „Ich war gebeten worden, am Mittwoch (30. September) einen Vortrag über das Thema zu halten: ,Das Ende aller Dinge hat sich genaht, seid daher gesunden Sinnes, und seid wachsam im Hinblick auf Gebete‘. Nun, das war so richtig nach meinem Geschmack. Ich selbst glaubte es aufrichtig, daß die Kirche im Oktober ,heimgehen‘ werde. Während dieses Vortrages machte ich folgende unglückliche Bemerkung: ,Das ist wahrscheinlich der letzte öffentliche Vortrag, den ich je halten werde, denn wir werden bald heimgehen.‘ “
Am nächsten Morgen, am 1. Oktober 1914, unternahmen etwa fünfhundert Bibelforscher eine herrliche Dampferfahrt auf dem Hudson River von Albany nach New York. Am Sonntag sollte das Programm in Brooklyn eröffnet werden, wo der Kongreß zu Ende gehen sollte. Eine ganze Anzahl Delegierter übernachtete im Bethel, und natürlich waren die Mitarbeiter des Hauptbüros am Freitag, den 2. Oktober ebenfalls morgens am Frühstückstisch anwesend. Alle saßen bereits, als Bruder Russell den Speisesaal betrat. Wie üblich sagte er fröhlich: „Guten Morgen, alle zusammen!“ Aber dieser besondere Morgen war anders. Statt gleich zu seinem Platz zu gehen, klatschte er in die Hände und kündigte freudig an: „Die Zeiten der Nationen sind abgelaufen; die Tage ihrer Könige sind gezählt.“ „Wie wir alle klatschten!“ ruft Cora Merrill aus. Bruder Macmillan gestand: „Wir waren sehr aufgeregt, und es hätte mich nicht überrascht, wenn wir in jenem Augenblick aufgefahren wären und unsere Himmelfahrt begonnen hätten — aber natürlich ereignete sich nichts dergleichen.“ Schwester Merrill fügt hinzu: „Nach einer kurzen Pause sagte er [Russell]: ,Irgend jemand enttäuscht? Ich nicht. Alles geht ganz plangemäß!‘ Wieder klatschten wir Beifall.“
C. T. Russell machte einige Bemerkungen, aber es dauerte nicht lange, bis Bruder A. H. Macmillan Gegenstand der Aufmerksamkeit wurde. Gutmütig sagte Russell: „Wir werden einige Änderungen im Sonntagsprogramm vornehmen. Sonntagmorgen wird uns Bruder Macmillan um 10.30 Uhr einen Vortrag halten.“ Alle lachten herzhaft. Schließlich hatte Bruder Macmillan erst am Mittwoch vorher seinen, wie er dachte, wahrscheinlich „letzten öffentlichen Vortrag“ gehalten. „Nun“, schrieb A. H. Macmillan Jahre später, „da mußte ich an die Arbeit gehen und mir überlegen, was ich sagen wollte. Ich stieß auf Psalm 74:9: ,Unsere Zeichen haben wir nicht gesehen; da ist kein Prophet mehr, und da ist niemand bei uns, der weiß, wie lange.‘ Das war etwas ganz anderes. In diesem Vortrag versuchte ich, den Freunden zu zeigen, daß einige von uns vielleicht ein bißchen zu voreilig gewesen waren, als wir dachten, wir würden gleich in den Himmel kommen, und daß wir im Dienste des Herrn tätig bleiben sollten, bis er entscheiden würde, wann jemand von seinen anerkannten Dienern in den Himmel ,heimgenommen‘ würde.“
C. T. Russell hatte selbst vor privaten Spekulationen gewarnt. Zum Beispiel behandelte er im Wacht-Turm vom 1. Dezember 1912 (deutsch: Februar 1913) das Ende der Zeiten der Nationen und schrieb dann: „Endlich laßt uns ... [daran denken], daß wir uns weder bis Oktober 1914 noch bis Oktober 1915 oder bis zu irgendeinem anderen Datum geweiht [Gott hingegeben] haben, sondern ,bis in den Tod‘. Wenn aus irgendeinem Grunde der Herr es zugelassen haben sollte, daß wir die Prophezeiung falsch verstanden haben, so versichern uns die Zeichen der Zeit, daß das Mißverständnis kein großes sein kann. Und wenn des Herrn Gnade und Frieden auch in Zukunft mit uns gehen werden, wie es in der Vergangenheit geschehen ist, gemäß seinem Versprechen, so sollten wir gleich freudig gehen oder bleiben zu jeder Zeit und ausharren in seinem Dienst, entweder diesseits des Vorhanges oder jenseits [auf der Erde oder im Himmel], wie es unserem Meister am besten gefallen mag.“
Als das entscheidende Jahr 1914 anbrach, schrieb Russell im Wacht-Turm vom 1. Januar (deutsch: März 1914): „Wir vermögen die Zeitrechnungen nicht mit einer solch absoluten Sicherheit zu lesen wie die Lehren, denn die Zeit ist in der Bibel nicht so deutlich ausgedrückt wie die Grundlehren. Wir wandeln immer noch durch Glauben und nicht durch Schauen. Wir sind indessen nicht ungläubig, sondern wir glauben und warten. Wenn es sich später herausstellen sollte, daß die Herauswahl gegen Ende Oktober 1914 nicht verherrlicht ist, so werden wir uns mit dem Willen des Herrn zu begnügen suchen, welcher Art er auch immer sein mag.“
Somit gab es unter vielen Bibelforschern große Erwartungen hinsichtlich des Jahres 1914. Sie hatten aber auch durch den Wacht-Turm gesunden Rat erhalten. Tatsächlich glaubten einige Christen, sie würden im Herbst jenes Jahres in den Himmel kommen. „Aber“, sagt C. J. Woodworth, „der 1. Oktober 1914 kam und ging vorbei — und viele weitere Jahre nach diesem Datum vergingen —, und die Gesalbten befanden sich immer noch hier auf der Erde. Einige wurden verbittert und fielen von der Wahrheit ab. Diejenigen, die ihr Vertrauen auf Jehova setzten, sahen das Jahr 1914 als ein wirklich gekennzeichnetes Jahr an — als den ,Anfang vom Ende‘ —, aber sie erkannten auch, daß ihre frühere Vorstellung von der ,Verherrlichung der Heiligen‘, wie sie es nannten, verkehrt war. Sie verstanden jetzt, daß es für die treuen Gesalbten noch viel Arbeit zu tun gab — zu dieser Gruppe gehörte mein Vater [Clayton J. Woodworth].“
Aber die Enttäuschung darüber, im Jahre 1914 nicht in den Himmel zu kommen, war nur gering, verglichen mit den großen Erwartungen, die sich in Verbindung mit jenem Jahr erfüllten. Während der ersten sechs Monate des Jahres 1914 geschah nichts mit den Heidennationen, obwohl die Bibelforscher schon lange darauf hingewiesen hatten, daß die Heidenzeiten in jenem Jahr enden würden. Daher spotteten religiöse Führer und andere über C. T. Russell und die Watch Tower Society. Doch Jehova hatte sein Volk gewiß nicht verlassen oder zugelassen, daß es irregeführt worden wäre. Von seinem heiligen Geist angetrieben, setzten sie ihr Zeugniswerk fort und erwarteten das Ende der Heidenzeiten nicht vor dem Herbst jenes Jahres. Während die Monate vorbeigingen, wuchs die Spannung in ganz Europa, und doch wurde immer mehr über die Königreichsbotschaft gespottet. Als jedoch eine Nation nach der anderen in den Ersten Weltkrieg eintrat, änderte sich die Sachlage. Das Werk der christlichen Zeugen Jehovas wurde in den Blickpunkt gerückt.
Ein für diese Zeit typischer Pressekommentar erschien in der Zeitung The World, damals eine der führenden Zeitungen New Yorks. In ihrer Sonntagsausgabe vom 30. August 1914 erschien der Artikel: „Das Ende aller Königreiche im Jahre 1914“. Darin hieß es auszugsweise:
„Durch den Ausbruch des schrecklichen Krieges in Europa hat sich eine außergewöhnliche Prophezeiung erfüllt. Während der vergangenen fünfundzwanzig Jahre haben die ,Internationalen Bibelforscher‘, die am besten als ,Millennium-Tagesanbruch-Leute‘ bekannt sind, durch ihre Prediger und durch die Presse der Welt verkündigt, daß der Tag der Rache, der in der Bibel prophezeit ist, im Jahre 1914 anbrechen würde. ,Blickt nach dem Jahre 1914 aus!‘ ist der Ruf von Hunderten reisender Evangelisten gewesen, die als Vertreter dieses befremdenden Glaubens landauf, landab zogen und die Lehre verkündigten, daß das ,Königreich Gottes herbeigekommen‘ sei ...
Pastor Charles T. Russell ist der Mann, der diese Auslegung der Heiligen Schrift seit dem Jahre 1874 vorgebracht hat. ... ,Angesichts der kraftvollen Bibelbeweise‘, so schrieb Pastor Russell im Jahre 1889, ,erachten wir es als eine feststehende Wahrheit, daß das endgültige Ende der Königreiche dieser Welt und die vollständige Aufrichtung des Königreiches Gottes am Ende des Jahres 1914 herbeigekommen sein werden.‘ ...
Indes zu sagen, daß die Drangsal im Jahre 1914 ihren Höhepunkt erreichen müsse, das war etwas Besonderes. Merkwürdigerweise — vielleicht, weil Pastor Russell nicht in dem Stil eines feurigen Erweckungspredigers, sondern mehr in dem eines sehr sachlichen höheren Mathematikers schreibt — hat die Welt im allgemeinen kaum von ihm Notiz genommen. Die Forscher drüben in seinem Brooklyner ,Tabernacle‘ sagen, daß dies zu erwarten gewesen sei, daß die Welt nie auf göttliche Warnungen gehört habe und nie darauf hören werde, bis der Tag der Drangsal vorüber sei ...
Und im Jahre 1914 bricht der Krieg aus, der Krieg, den alle befürchtet und von dem alle gedacht haben, er könne nicht Tatsache werden. Pastor Russell sagt nicht: ,Ich habe es euch gesagt‘, und er unterzieht die Prophezeiungen nicht einer Durchsicht, damit sie auf das gegenwärtige Geschehen passen. Er und seine Forscher begnügen sich damit, zu warten — zu warten bis zum Oktober, den sie als das eigentliche Ende des Jahres 1914 betrachten.“
Es ist wahr, die Bibelforscher kamen im Oktober des Jahres 1914 nicht in den Himmel. Aber zu dieser Zeit endeten die 2 520 Jahre dauernden Zeiten der Nationen. Und wie Jehovas Diener später besser verstanden, gab es nach dieser Zeit hier auf Erden noch eine Menge Arbeit zu tun in Verbindung mit dem Predigen der guten Botschaft von Gottes aufgerichtetem Königreich. Offensichtlich würden noch viele günstig auf die biblische Wahrheit reagieren. Diesbezüglich schrieb Russell im Wacht-Turm vom 15. Februar 1915 (engl.): „Es gibt gewisse Anzeichen, daß der Herr für sein gesamtes Volk, seine wachsamen Heiligen, zur gegenwärtigen Zeit noch ein großes Werk zu tun hat. ... Einige Kinder des Herrn scheinen von der Vorstellung besessen zu sein, daß ,die Tür verschlossen‘ ist und daß es keine weitere Gelegenheit zum Dienste gibt. Daher werden sie lässig im Werke des Herrn. Wir sollten keine Zeit damit verschwenden zu träumen, die Tür sei verschlossen! Es gibt Menschen, die die Wahrheit suchen — Menschen, die sich in der Finsternis befinden. Noch nie gab es eine Zeit wie die heutige. Noch nie waren so viele Menschen bereit, auf die gute Botschaft zu hören. In den vierzig Jahren der Ernte hat es keine solchen Gelegenheiten gegeben, die Wahrheit zu verkündigen, wie sie sich jetzt bieten. Durch den großen Krieg und die drohenden Zeichen der Zeit werden die Menschen aufgeweckt, und viele fangen jetzt an zu suchen. Daher sollten die Diener des Herrn sehr fleißig sein und mit all ihrer Kraft das tun, was ihre Hände zu tun finden.“
„ES IST NOCH EIN GROSSES WERK ZU TUN“
Im wesentlichen wurde Gottes Volk also ermuntert, standhaft zu bleiben und ‘im Werke des Herrn reichlich beschäftigt zu sein’ (1. Kor. 15:58). Ein weiterer Beweis dafür, daß Bruder Russell überzeugt war, daß Jehovas Diener noch ein großes Werk tun mußten, war ein Vorfall, den A. H. Macmillan Jahre später erzählte. C. T. Russell arbeitete jeden Morgen von 8 bis 12 Uhr in seinem Studierzimmer und bereitete Artikel für den Wacht-Turm vor und erledigte andere Schreibarbeiten und forschte in der Bibel. Macmillan schrieb: „In diesen Stunden begab sich nie jemand in die Nähe seines Studierzimmers, außer er wäre gerufen worden oder habe etwas sehr Wichtiges zu erledigen gehabt. An jenem Tag kam etwa fünf Minuten nach acht ein Stenograph die Treppe heruntergelaufen und sagte zu mir: ,Bruder Russell möchte dich im Studierzimmer sprechen.‘ Ich dachte: ,Was habe ich denn getan?‘ Schon am Morgen ins Studierzimmer gerufen zu werden bedeutete, daß es um etwas Wichtiges ging.“ Hören wir nun Bruder Macmillans weiteren Bericht:
„Als ich in das Studierzimmer kam, sagte er: ,Geh bitte ins Wohnzimmer durch, Bruder.‘ Das Wohnzimmer war mit dem Studierzimmer verbunden. Er sagte: ,Bruder Macmillan, bedeutet dir die Wahrheit heute noch genausoviel wie am Anfang?‘ Ich schaute ihn überrascht an. ,Du brauchst nicht überrascht zu sein‘, fuhr er fort, ,das war lediglich eine Suggestivfrage.‘ Dann schilderte er mir seinen Gesundheitszustand, und ich verstand genug von Diagnostik, um zu erkennen, daß er nicht mehr viele Monate leben würde, wenn er nicht entlastet würde. Er sagte: ,Nun, was ich dir sagen wollte, ist folgendes: Ich kann das Werk nicht mehr fortsetzen, und doch muß noch ein großes Werk, ja ein weltweites Werk durchgeführt werden.‘ ...
Ich entgegnete: ,Bruder Russell, was du da sagst, scheint mir irgendwie ungereimt zu sein.‘
,Was meinst du damit?‘ fragte er.
,Du sollst sterben, und dieses Werk soll dennoch weitergeführt werden?‘ erwiderte ich. ,Wenn du stirbst, werden wir die Hände in den Schoß legen und warten, bis wir auch in den Himmel kommen. Wir werden nichts mehr tun.‘
,Wenn du so denkst, Bruder‘, sagte er darauf, ,dann hast du die Streitfrage nicht erkannt. Dieses Werk ist nicht eines Menschen Werk. Ich bin für das Werk nicht wichtig. Das Licht scheint immer heller. Es ist noch ein großes Werk zu tun.‘ ...
Nachdem Bruder Russell mir das bevorstehende Werk beschrieben hatte, sagte er: ,Ich möchte nun, daß jemand hereinkäme und für mich die Verantwortung übernähme. Ich werde das Werk weiterhin leiten, aber ich kann mich seiner nicht mehr in dem Maße annehmen wie in der Vergangenheit.‘ Wir sprachen in diesem Zusammenhang darauf über verschiedene Personen. Als ich schließlich durch die Schiebetür auf den Flur hinaustrat, rief er mir nach: ,Noch einen Augenblick. Geh nun auf dein Zimmer, und lege diese Angelegenheit dem Herrn im Gebet dar, und komme dann wieder, und sage mir, ob Bruder Macmillan diese Aufgabe übernehmen möchte.‘ Dann machte er die Tür zu, ohne daß ich noch etwas hätte sagen können. Ich blieb wie betäubt stehen. Was konnte ich schon tun, um Bruder Russell bei seiner Arbeit zu helfen? Um eine solche Aufgabe zu erfüllen, mußte jemand doch einigermaßen geschäftstüchtig sein; ich wußte aber nur, wie man predigt. Dennoch überlegte ich mir die Angelegenheit, ging dann wieder zu ihm und sagte: ,Bruder Russell, ich werde mein möglichstes tun. Ich überlasse es dir, wo du mich einsetzen willst.‘ “
Überzeugt, daß Gottes Volk noch sehr viel Arbeit bevorstand, sagte C. T. Russell seinen engen Mitverbundenen, sie sollten sich darauf einstellen, daß ihre Zahl wachsen würde. Er nahm gewisse Änderungen vor, durch die die Organisation noch mehr vereint würde, und empfahl zukünftige Änderungen für den Fall, daß er sie nicht persönlich ausführen könnte. A. H. Macmillan wurde die Verantwortung für das Büro und das Bethelheim übertragen. Dann begab sich Russell trotz seiner schnell nachlassenden Gesundheit und trotz großer körperlicher Beschwerden im Herbst des Jahres 1916 auf eine vorher vereinbarte Vortragsreise.
DIE LETZTE REISE
Bruder Russell und sein Sekretär, Menta Sturgeon, brachen am 16. Oktober 1916 von New York auf und reisten über Kanada nach Detroit (Michigan). Die zwei Männer fuhren dann nach Chicago (Illinois) und darauf durch Kansas nach Texas. Russells Gesundheitszustand war so schlecht, daß sein Sekretär mehrmals für ihn als Redner einspringen mußte. Am Dienstag, den 24. Oktober hielt Russell in San Antonio (Texas) abends seinen letzten öffentlichen Vortrag, und zwar über das Thema „Die Welt in Brand“. Während dieses Vortrages mußte er dreimal die Bühne verlassen, und sein Sekretär sprang jedesmal für ihn ein.
Dienstagnacht fuhren Bruder Russell und sein Sekretär und Reisegefährte mit dem Zug in Richtung Kalifornien. Als kranker Mann blieb Russell den ganzen Mittwoch im Bett. Russells Reisegefährte griff einmal nach seiner Hand und sagte: „Ich habe noch keine Hand gesehen, die stärkere Schläge gegen die Glaubensbekenntnisse geführt hätte als diese.“ Russell entgegnete, daß er glauben müsse, sie würde keine Glaubensbekenntnisse mehr zerschlagen.
Die beiden Männer wurden einen Tag in Del Rio (Texas) aufgehalten, weil eine Brücke abgebrannt war und eine neue gebaut werden mußte. Am Donnerstagmorgen fuhren sie dann aus Del Rio ab. Freitagabend erreichten sie einen Knotenpunkt in Kalifornien und stiegen in einen anderen Zug um. Den ganzen Sonnabend litt Russell unter großen Schmerzen und war sehr geschwächt. Sie trafen am Sonntag, den 29. Oktober in Los Angeles ein, und dort hielt C. T. Russell am Abend seine letzte Ansprache vor einer Versammlung. Zu dieser Zeit war er schon so schwach, daß er den Vortrag nicht mehr stehend halten konnte. „Ich bedaure, nicht imstande zu sein, mit Kraft oder Macht zu sprechen“, sagte Russell. Darauf bat er den Vorsitzenden, das Rednerpult wegzunehmen und einen Stuhl zu bringen. Als er sich setzte, sagte er: „Entschuldigt bitte, daß ich mich setze.“ Er sprach etwa fünfundvierzig Minuten lang und beantwortete dann noch eine kurze Zeit lang Fragen. Dwight T. Kenyon berichtet über diese Begebenheit: „Ich hatte das Vorrecht, Bruder Russells letzten Vortrag in Los Angeles am 29. Oktober 1916 zu hören. Er war sehr krank und blieb während des Vortrages, den er über Sacharja 13:7-9 hielt, sitzen. Sein Abschiedstext, 4. Mose 6:24-26, hat mich tief beeindruckt.“
Russell erkannte, daß sein Gesundheitszustand nicht zuließ, die Reise fortzusetzen, und so beschloß er, die übrigen Verabredungen abzusagen und so schnell wie möglich ins Bethelheim nach Brooklyn zurückzukehren. Am Dienstag, dem 31. Oktober, war C. T. Russell am Rande des Todes. In Panhandle (Texas) stieg ein Arzt, der vorher telegrafisch gerufen worden war, kurz in den Zug, beobachtete Russells Zustand und erkannte die kritischen Symptome. Dann fuhr der Zug weiter. Kurz danach, am frühen Nachmittag des 31. Oktober 1916, starb der vierundsechzigjährige Charles Taze Russell in Pampa (Texas).
„GOTT STEHT NOCH AM STEUER“
Die vielen Prüfungen, die Charles Taze Russell durchmachte, seine Predigttätigkeit, seine Verantwortung als Redakteur und andere Pflichten hatten sehr an seiner Gesundheit gezehrt. Etwa zweiunddreißig Jahre lang hatte er als Präsident der Watch Tower Bible and Tract Society gedient. Wie berichtet wird, war er über eine Million Meilen als Vortragsredner gereist und hatte über 30 000 Predigten gehalten. Er hatte Bücher geschrieben, die insgesamt über 50 000 Seiten ausmachten, und hatte oft 1 000 Briefe im Monat diktiert, während er einen weltweiten Evangelisationsfeldzug leitete, in dem einmal 700 Redner mitwirkten. Außerdem hatte Russell persönlich das aufschlußreichste biblische Drama zusammengestellt, das je vorgeführt wurde, das Photo-Drama der Schöpfung.
Da Bruder Russell in dem Werk der Verkündigung der guten Botschaft eine solch prominente Rolle gespielt hatte, wurde er von vielen Bibelforschern sehr vermißt. „Als ich der Bethelfamilie am nächsten Morgen das Telegramm über seinen Tod vorlas“, berichtete A. H. Macmillan, „brach überall im Speisesaal ein Wehklagen aus.“ Unter Gottes Volk im allgemeinen waren die Reaktionen verschieden. Arden Pate, der zufällig Ordner im Majestic Theatre in San Antonio war, als C. T. Russell seinen letzten öffentlichen Vortrag hielt, bemerkt: „Einige sagten: ‚Das ist das Ende‘, und für sie war es das Ende, weil sie nicht erkannten, daß Jehova sein Volk führte, sondern zu sehr auf einen Menschen blickten.“ Bei Russells Beerdigungsfeier, die am Sonntag, den 5. November 1916 im Tempel in New York stattfand, sprachen eine Anzahl seiner engen Mitverbundenen über den großen Verlust, den sie erlitten hatten. Doch einige Redner ermahnten zur Treue. In der Carnegie Music Hall in Pittsburgh (Allegheny, Pennsylvanien) fand eine separate Beerdigungsfeier statt. Sie begann am 6. November um 14 Uhr, und am Abend jenes Tages wurde Russell auf den Vereinigten Rosemont-Friedhöfen in Allegheny auf dem Grundstück der Bethelfamilie bestattet.
Bei der Beerdigungsfeier am Vormittag in New York erzählte A. H. Macmillan von der Besprechung, die Bruder Russell kurz vor seinem Tod mit ihm gehabt hatte, und er erwähnte auch bestimmte Schritte, die Russell in Verbindung mit der Arbeit im Hauptbüro der Gesellschaft unternommen hatte. Dann erklärte Macmillan unter anderem: „Das vor uns liegende Werk ist groß, aber Gott wird uns die nötige Gnade und Kraft verleihen, um es auszuführen. ... einige mattherzige Arbeiter könnten denken, daß jetzt die Zeit gekommen sei, unsere Erntewerkzeuge hinzulegen und zu warten, bis der Herr uns heimrufe. Jetzt ist nicht die Zeit, auf solche zu hören, die matt sind. Jetzt ist eine Zeit zum Handeln, zu einem entschiedeneren Handeln denn je zuvor.“
Gegen Ende seiner Ansprache bei der Feier am Abend sagte J. F. Rutherford: „Meine geliebten Brüder — sowohl wir, die wir hier sind, als auch alle anderen auf der Erde —, was sollen wir tun? Sollen wir in unserem Eifer für die Sache unseres Herrn und Königs nachlassen? Nein! Mit seiner Gnade wollen wir unseren Eifer und unsere Energie vergrößern, um unseren Lauf mit Freuden zu beenden. Wir wollen uns nicht fürchten, noch wollen wir straucheln, sondern wir wollen Schulter an Schulter stehen, kämpfend für den Glauben, und uns unseres Vorrechtes erfreuen, die Botschaft von seinem Königreiche zu verkündigen.“
Beachtenswert waren auch die Bemerkungen des Sekretär-Kassierers der Gesellschaft, W. E. Van Amburgh. Bei Russells Beerdigungsfeier erklärte er: „Dieses große, weltweite Werk ist nicht das einer Person. Dafür ist es viel zu groß. Es ist Gottes Werk und unterliegt keinem Wechsel. Gott hat viele Diener in der Vergangenheit gebraucht, und er wird es auch in der Zukunft tun. Wir haben uns nicht einem Menschen oder dem Werk eines Menschen geweiht, sondern dazu, den Willen Gottes zu tun, wie er ihn uns durch sein Wort und durch seine göttlich vorsehende Führung offenbaren wird. Gott steht noch am Steuer.“
Für Gottes Diener waren dies wirklich schwere Tage. Doch sie schauten zu Jehova um Hilfe auf (Ps. 121:1-3). Gott würde anderen größere Verantwortung in seiner Organisation übertragen. Das Predigtwerk würde weitergehen.
Jehovas Diener waren gerade durch eine prüfungsreiche Zeit gegangen, aber es lagen noch kritische Jahre vor ihnen. Mit dem Tode C. T. Russells am 31. Oktober 1916 fehlte der Watch Tower Society ein Präsident. Bis zur Jahresversammlung am 6. Januar 1917 verwaltete ein Exekutivkomitee die Angelegenheiten der Gesellschaft. In dieser Zeit kam natürlich die Frage auf, wer der nächste Präsident sein würde. Eines Tages fragte Bruder Van Amburgh A. H. Macmillan: „Bruder, wie denkst du darüber?“ „Es gibt nur einen, ob es dir gefällt oder nicht“, erwiderte Macmillan. „Es gibt nur einen Mann, der jetzt die Verantwortung für dieses Werk übernehmen kann, und das ist Bruder Rutherford.“ Darauf ergriff Bruder Van Amburgh Macmillans Hand und sagte: „Ich bin auf deiner Seite.“ J. F. Rutherford wußte nichts davon und warb auch nicht um Stimmen. Aber auf der Jahresversammlung am 6. Januar 1917 wurde er zum Präsidenten der Watch Tower Society vorgeschlagen und gewählt.
Demütig nahm Bruder Rutherford seine neue Verantwortung an und hielt bei dieser Angelegenheit eine kurze Ansprache. Unter anderem sagte er: „Ich bedarf eurer vereinten Gebete, eurer tiefen Sympathie und uneingeschränkten Mitarbeit.“ Dann versicherte er ihnen: „Er, der uns bis hierher geführt hat, wird uns auch weiterführen. Laßt uns mutige Herzen haben, eine bereite Gesinnung und willige Hände sowie unbedingtes Vertrauen zu dem Herrn, indem wir zu ihm um Leitung aufblicken. Er wird uns sicher zum Siege führen. Indem wir heute unseren Bund mit ihm erneuern, miteinander verbunden in dem heiligen Bande christlicher Liebe, können wir vorwärtsschreiten und der Welt verkündigen: ,Das Königreich der Himmel ist nahe herbeigekommen!‘ “
RUTHERFORDS VERGANGENHEIT
Rutherford selbst war ein mutiger Kämpfer für die Wahrheit. Er wurde am 8. November 1869 im Verwaltungsbezirk Morgan (Missouri) geboren. Seine Eltern waren Baptisten. A. D. Schroeder berichtet uns, was er von Schwester Ross, der älteren Schwester Joseph Franklin Rutherfords, erfuhr: „Ihr Vater war ein frommer Baptist draußen in Missouri, wo die Familie lebte. Ihr jüngerer Bruder Joseph konnte nie an die Lehre der Baptisten über das ,Höllenfeuer‘ glauben. Schon bevor sie von der Wahrheit erfuhren, führte dies zu vielen hitzigen Debatten in der Familie. Ihr Bruder hatte schon immer feste Ansichten und ein tiefes Gerechtigkeitsempfinden. Von Jugend an wollte er Rechtsanwalt und Richter werden. Der Vater wollte, daß er auf der Farm blieb und kein College besuchte, um Jura zu studieren. Joseph mußte einen Freund finden, der ihm Geld lieh, damit er nicht nur eine Hilfskraft für die Farm seines Vaters bezahlen, sondern auch sein Jurastudium finanzieren konnte.“
Joseph Rutherford finanzierte seine Ausbildung selbst. Unter anderem wurde er ein Experte in Kurzschrift, und diese Fähigkeit kam ihm in späteren Jahren sehr zugute, denn sie ermöglichte es ihm, die Gedanken, die ihm für biblische Artikel und anderen Stoff in den Sinn kamen, schnell niederzuschreiben. Noch während seines Studiums wurde Joseph Rutherford Gerichtsstenograph. Das ermöglichte es ihm, seine Ausbildung bis zu Ende zu finanzieren, und er erlangte gleichzeitig praktische Erfahrung. Nach vollendeter akademischer Ausbildung arbeitete er zwei Jahre unter der Aufsicht von Richter E. L. Edwards. Mit zwanzig Jahren wurde Joseph Rutherford amtlicher Berichterstatter für die Gerichte des Vierzehnten Gerichtskreises in Missouri. Mit zweiundzwanzig wurde er im Staate Missouri als Anwalt zugelassen. Nach den Aufzeichnungen des Kreisgerichts in Cooper erhielt er seine Zulassung als Anwalt in jenem Staat am 5. Mai 1892. Rutherford begann in Boonville (Missouri) als Anwalt zu praktizieren, und zwar als Prozeßanwalt des Anwaltsbüros Draffen and Wright.
J. F. Rutherford diente später vier Jahre als Staatsanwalt in Boonville (Missouri). Noch später wurde er Sonderrichter in demselben Vierzehnten Gerichtsdistrikt von Missouri. In dieser Eigenschaft amtierte Rutherford als stellvertretender Richter, wenn der reguläre Richter nicht persönlich erscheinen konnte. Gerichtsprotokolle beweisen seine Ernennung zum Sonderrichter bei mehr als einer Gelegenheit. Daher wurde er als „Richter“ Rutherford bekannt.
Hazelle und Helen Krull erinnern sich daran, daß J. F. Rutherford einmal erzählte, wie sein Interesse an der von Jehovas Dienern verkündigten Wahrheit geweckt wurde. Sie erzählen uns: „Bei einem seiner Besuche schlug uns Bruder Rutherford vor, im Mondschein aufs Land hinaus zu spazieren. Während wir gingen, redete er, erzählte von seiner frühen Jugend und wie er begonnen habe, sich für die Wahrheit zu interessieren. Er wurde auf einer Farm aufgezogen, wollte aber Jura studieren. Sein Vater meinte, seine Hilfe würde auf der Farm benötigt, war aber schließlich einverstanden, ihn gehen zu lassen, wenn er seine Ausbildung selbst finanziere sowie eine Hilfskraft bezahle, die seinen Platz auf der Farm einnehmen sollte. Während der Semesterferien im Sommer verkaufte er Bücher, um seine Vereinbarung einzuhalten. ... Er faßte den Entschluß, wenn er praktizierender Rechtsanwalt werden würde und jemand in sein Büro käme, um Bücher zu verkaufen, würde er sie kaufen. Dieser Tag kam [im Jahre 1894], aber sein Kompagnon sprach mit dem Besucher. Es war eine ,Kolporteurin‘ — Schwester Elizabeth Hettenbaugh —, und sie bot drei Bände der Schriftstudien an. Sein Kompagnon war nicht daran interessiert und schickte sie [und ihre Mitkolporteurin, Schwester Beeler] fort. Bruder Rutherford, der gehört hatte, daß von Büchern die Rede war, und sich an seinen Entschluß erinnerte, kam aus seinem Privatbüro, rief sie zurück, nahm die Bücher und stellte sie zu Hause in seine Bibliothek, wo sie eine Zeitlang blieben. Als er sich eines Tages von einer Krankheit erholte, öffnete er eines der Bücher und fing an zu lesen. Das war der Beginn eines lebenslänglichen Interesses und eines nie aufhörenden Eifers und Dienstes für seinen Gott.“
In der unmittelbaren Nachbarschaft der Rutherfords hatten die Bibelforscher damals noch keine Zusammenkünfte. Clarence B. Beaty erzählt jedoch: „Von 1904 an wurden in unserer Wohnung Zusammenkünfte abgehalten. Schwester Rutherford und Richter Rutherford kamen aus Boonville (Missouri) zum Gedächtnismahl [zur Erinnerung an Christi Tod]. ... In unserer Wohnung nahm er zum erstenmal am Gedächtnismahl teil, und dort hielt er auch seine erste Ansprache als Pilgerbruder an die Brüder. Außer ihnen selbst war sonst niemand in Boonville in der Wahrheit.“
Aber wie wurde J. F. Rutherford veranlaßt, die gute Botschaft zu predigen? Nun, A. H. Macmillan war hauptsächlich dafür verantwortlich. Macmillan traf Rutherford im Jahre 1905 in Kansas City, als er sich mit Bruder Russell auf einer Vortragsreise durch die Vereinigten Staaten befand. Ein wenig später unterbrach Bruder Macmillan seine Reise, um Richter Rutherford für ein oder zwei Tage zu besuchen. Die Unterhaltung zwischen ihnen verlief etwa wie folgt:
„Herr Richter, Sie sollten hier die Wahrheit predigen.“
„Ich bin kein Prediger. Ich bin Jurist.“
„Nun, Herr Richter, ich werde Ihnen sagen, was Sie tun können. Sie nehmen die Bibel, laden einige Leute ein und sprechen dann zu ihnen über das Leben, den Tod und das Jenseits. Zeigen Sie ihnen, von wem wir das Leben erhalten haben, warum wir sterben müssen und was der Tod bedeutet. Führen Sie die Bibel als Zeugen an, und schließen Sie dann mit den Worten ab: ,Das ist alles, was ich zu sagen habe’, wie Sie es bei einer Gerichtsverhandlung vor den Geschworenen tun würden.“
„Das hört sich gar nicht schlecht an.“
Was geschah danach? Befolgte Rutherford diesen Rat? Bruder Macmillan berichtete: „Auf einer kleinen Farm am Stadtrand, unweit von seiner Stadtwohnung, arbeitete ein Farbiger, den er kannte. Etwa fünfzehn bis zwanzig Farbige waren auf dieser Farm beschäftigt. Dahin ging er eines Tages und hielt diesen Leuten eine Predigt über das Thema ,Leben, Tod und das Jenseits‘. Während seiner Ausführungen unterbrachen ihn seine Zuhörer immer wieder mit den Worten: ,Der Herr sei gepriesen! Woher wissen Sie das alles, Herr Richter?‘ Er erlebte dort viel Freude. Das war sein erster biblischer Vortrag.“
Nicht lange danach, im Jahre 1906, symbolisierte J. F. Rutherford seine Hingabe an Jehova Gott. Bruder Macmillan schrieb: „Ich hatte das Vorrecht, ihn in Saint Paul (Minnesota) zu taufen. Er war eine der 144 Personen, die ich an jenem Tag persönlich im Wasser taufte. Als er Präsident der Gesellschaft wurde, war ich daher besonders erfreut.“
Im Jahre 1907 wurde Rutherford Rechtsberater der Watch Tower Society und begann seinen Dienst im Hauptbüro in Pittsburgh. Er hatte das Vorrecht, die Verhandlungen zu führen, als die Gesellschaft im Jahre 1909 ihre Tätigkeit nach Brooklyn (New York) verlegte. Um dies tun zu können, beantragte er, im Bundesstaat New York als Rechtsanwalt zugelassen zu werden, und so wurde er in jenem Staat ein anerkannter Rechtsanwalt. Am 24. Mai des gleichen Jahres wurde Rutherford als Anwalt am Obersten Bundesgericht der Vereinigten Staaten zugelassen.
J. F. Rutherford hielt häufig Ansprachen als Pilgerbruder und reisender Vertreter der Watch Tower Society. Oft reiste er als Vortragsredner durch die Vereinigten Staaten und sprach auf Wunsch in vielen Colleges und Universitäten, und er hielt auch in ganz Europa vor großen Zuhörermengen Vorträge. Rutherford besuchte Ägypten und Palästina und reiste mit seiner Frau im Jahre 1913 nach Deutschland, wo er zu insgesamt 18 000 Zuhörern sprach.
SEIN CHARAKTER
Jesus Christus sagte, alle seine Nachfolger seien „Brüder“ und ‘der Größte unter ihnen solle ihr Diener sein’ (Matth. 23:8-12). Daher mißt kein wahrer Christ irgendeinem Mitgläubigen ungebührliche Bedeutung zu. Aber in der Bibel wird der Charakter verschiedener Diener Gottes beschrieben. Moses zum Beispiel war für seine Sanftmut bekannt, Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, für ihre feurige Begeisterung (4. Mose 12:3; Mark. 3:17; Luk. 9:54). Da Joseph F. Rutherford in Gottes irdischer Organisation mit viel Verantwortung betraut war, ist es interessant, seinen Charakter und seine Eigenschaften etwas näher zu beleuchten.
„Rutherford bekundete immer eine tiefe christliche Liebe zu seinen Gefährten“, sagte A. H. Macmillan, „und er war sehr gutherzig; aber er hatte von Natur aus nicht ein so sanftes, ruhiges Wesen wie Russell. Er war direkt und offen und verbarg seine Gefühle nicht. Seine Offenheit, selbst wenn er in Güte sprach, wurde manchmal mißverstanden. Aber er war erst kurze Zeit Präsident, als es offensichtlich wurde, daß der Herr den rechten Mann für diese Stelle erwählt hatte.“
Einen weiteren Einblick in die Persönlichkeit Rutherfords erhalten wir, wenn wir erfahren, was sich im alten „London Tabernacle“ der Bibelforscher ereignete, als er dort am 18. April 1924 die Gedächtnismahlansprache hielt. Darüber schreibt Schwester W. P. Heath: „Das Tabernacle war eine alte Episkopalkirche, die die Gesellschaft billig gekauft hatte, und sie wurde für die Sonntagszusammenkünfte benutzt, wie wir heute einen Königreichssaal benutzen. ... Der Platz für den Redner befand sich oben unter der Decke, etwa 6 Meter über dem Boden. Wenn er zur Zuhörerschaft sprach, war nur der Kopf zu sehen. Vielleicht bezeichnete Bruder Rutherford deshalb die Kanzel als ‚Pferdetrog‘. Er weigerte sich, von dort zu sprechen; ja, er schockierte die Brüder, indem er herunterkam und mit ihnen auf einer Ebene stand.“
Als Bruder Rutherford das Amt des Präsidenten der Watch Tower Society übernahm, benötigte er Mut, Treue und Entschlossenheit. Er besaß diese Eigenschaften. Zum Beispiel erinnert sich Esther I. Morris an eine Ansprache, die Rutherford als Pilgerbruder in dem damals größten Theater in Boise (Idaho) vor einer großen Zuhörerschaft hielt. Sie erzählt: „Durch seine Bloßstellung der falschen Religion wurde der Zorn mehrerer örtlicher Geistlicher erregt, die versuchten, die Ansprache zu unterbrechen und ihn herauszufordern. Aber er rief energisch: ,Setzen Sie sich! Ich fordere den Schutz des Gesetzes!‘ Und so konnte er den Vortrag fortsetzen. Bibelforscher aus anliegenden Städten kamen herbei, und wir mieteten einen Saal und veranstalteten so einen kleinen Kongreß. Er ließ äußerst nachdrücklich bekanntwerden, daß diese Botschaft und dieser Dienst nichts Geringes seien.“
Eine recht rührende Erinnerung an Bruder Rutherfords Wesen hat Anna Elsdon. Über ein Erlebnis in ihrer Jugend schreibt sie: „Wir wurden oft von Bruder Rutherford besucht. Bei einer Gelegenheit waren mehrere von uns jüngeren Leuten versammelt, und Bruder Rutherford kam zu uns herüber. Wir stellten ihm viele Fragen über die Schule, den Fahnengruß usw., und er unterhielt sich eine lange Zeit mit uns. Als er sich dann von uns verabschiedete, hielt er ganz liebevoll die Hände von uns fünf in seinen zwei großen Händen, und er hatte Tränen in seinen Augen. Er war so glücklich und gerührt darüber, daß wir trotz unserer Jugend über die tiefen Dinge der Wahrheit sprachen. Ich habe es nie vergessen. Genauso, wie Bruder Russell liebevoll war, spürten wir auch die Liebe dieses großen Bruders Rutherford.“
VORAN MIT DEM WERK!
Bruder Rutherford war entschlossen, mit dem Werk der Königreichsverkündigung voranzudrängen. Jahrelang hatten die Bibelforscher unter der Leitung des heiligen Geistes Jehovas einen bemerkenswert großen Feldzug zur Verkündigung des Wortes Gottes durchgeführt. Tatsächlich hatten sie in den Jahren 1870 bis 1913 228 255 719 Traktate und Flugschriften verbreitet und 6 950 292 gebundene Bücher. Allein in dem bedeutsamen Jahr 1914 verbreiteten Jehovas Diener 71 285 037 Traktate und Flugschriften und 992 845 gebundene Bücher. In den Jahren 1915 und 1916 jedoch ging die Tätigkeit zurück, weil sich der Erste Weltkrieg immer weiter ausbreitete und die Nachrichtenwege abgeschnitten wurden. Im Jahre 1917 zeigte das Werk allerdings wieder einen Aufwärtstrend. Warum?
Der neue Präsident der Gesellschaft reorganisierte sogleich das Brooklyner Hauptbüro. Außerdem unternahm er Anstrengungen, um das Predigtwerk wiederzubeleben. Diese Änderungen jedoch sowie die Programme, die er aufstellte, waren lediglich eine Fortsetzung dessen, was C. T. Russell schon begonnen hatte. Die Zahl der reisenden Vertreter der Gesellschaft, der Pilgerbrüder, wurde von 69 auf 93 erhöht. Außerdem wurden vermehrt kostenlose Traktate an gewissen Sonntagen vor Kirchen sowie regelmäßig von Haus zu Haus verbreitet. Ein neues vierseitiges Traktat, Der Schriftforscher, wurde veröffentlicht, und allein im Jahre 1917 wurden 28 665 000 Gratisexemplare verbreitet.
Auch wurde eine neue Tätigkeit verstärkt durchgeführt, die bereits vor C. T. Russells Tod begonnen hatte. Sie wurde „pastorales Werk“ genannt und war der Vorläufer der Rückbesuche, die Jehovas christliche Zeugen heute tätigen. Zur Zeit Russells war diese Tätigkeit auf etwa 500 Versammlungen beschränkt gewesen, die ihn freiwillig zu ihrem Pastor gewählt hatten. In einem Brief an diese Versammlungen hatte er dieses Werk als ein „wichtiges Werk“ beschrieben, „das geschehen kann in Verbindung mit Adressen, die bei öffentlichen Versammlungen, Photo-Drama-Vorführungen, aus Kolporteurlisten usw. erlangt werden können. Es sind Adressen von Personen, die vermutlich einiges Interesse an religiösen Dingen haben und wahrscheinlich für die Wahrheit mehr oder weniger zugänglich sein werden.“
Frauen in der Versammlung, die sich für die Teilnahme an diesem Werk interessierten, sollten jemanden aus ihrer Gruppe dazu bestimmen, die Leitung zu übernehmen, ferner jemanden für das Amt eines Sekretär-Kassierers. Eine Stadt wurde in Gebiete aufgeteilt, die den einzelnen Schwestern zugeteilt wurden, damit sie bei all denen vorsprächen, die als Interessierte bekannt waren. Die Schwestern liehen Bücher aus, die von den Interessierten gelesen und studiert werden sollten. „So konnte sich niemand damit entschuldigen, er habe kein Geld, denn die Bücher wurden kostenlos verliehen“, erklärt Esther I. Morris. Am Schluß des Besuches wurde dem Wohnungsinhaber mitgeteilt, daß in diesem Gebiet bald ein Karten-Vortrag über den „Göttlichen Plan“ gehalten würde, und wer Interesse zeigte, wurde dazu eingeladen. Danach wurden bei allen, die den Vortrag besuchten, Rückbesuche gemacht, in dem Bestreben, ein Studium anhand des ersten Bandes der Schriftstudien, betitelt Der Göttliche Plan der Zeitalter, einzurichten. Der Zweck dieses Programms bestand also darin, Personen in „Klassen“ zusammenzubringen, damit sie zuerst „Karten-Vorträge“ anhören und später geordnete Gruppen werden konnten, die „Beröer-Klassen“ genannt wurden (Apg. 17:10, 11).
Der neue Präsident der Gesellschaft, J. F. Rutherford, unternahm weitere Schritte, um das Predigtwerk wiederzubeleben. Der Kolporteurdienst wurde ausgedehnt. Dadurch stieg die Zahl der Kolporteure von 373 auf 461. Um ihnen zu helfen, begann die Gesellschaft im Jahre 1917, ein Blatt zu veröffentlichen, das „Bulletin“ genannt wurde. Es enthielt regelmäßig Dienstanweisungen aus dem Hauptbüro. Nach dem Oktober 1922 wurde das Bulletin allen Bibelforschern monatlich zugesandt. (Später wurde es Instruktor genannt, dann Informator und schließlich Königreichsdienst.) Schwester H. Gambill erläutert: „Es enthielt vorbereitete Zeugnisse, die wir ,Werbezeugnisse‘ nannten, und wir wurden ermuntert, sie uns einzuprägen und im Predigtdienst zu verwenden. Meine Schwägerin ... folgte mir dann immer auf Schritt und Tritt von Zimmer zu Zimmer und versuchte, jedes Wort genau mitzubekommen. So sehr wünschte sie, es genau auswendig zu lernen.“ Hinsichtlich der Tatsache, daß das Bulletin vorbereitete Zeugnisse enthielt, äußert sich Elizabeth Elrod: „Ich war dafür dankbar, denn wir hatten damals keine Vorkehrung, wie wir sie heute haben, daß jemand mit einem anderen zusammen ging, um ihn zu schulen und ihm zu helfen, ein produktiver Verkündiger zu werden. Auf diese Weise wurde die Botschaft, die verkündigt wurde, einheitlich gepredigt.“
Während der Auffrischungsfeldzug fortgesetzt wurde, unternahm die neue Verwaltung der Gesellschaft damals, im Jahre 1917, weitere Schritte. Zum Beispiel wurde eine Anzahl regionaler Kongresse abgehalten. Diese sollten dazu dienen, die Bibelforscher zu ermuntern, ihr Werk fortzusetzen und im Gutestun nicht müde zu werden.
Kurz vor 1914 hatte Russell besonders Nachdruck auf ein Programm öffentlicher Vorträge gelegt. Jetzt war es an der Zeit, dafür zu sorgen, daß weitere befähigte Redner die Watch Tower Society auf dem öffentlichen Podium vertreten konnten. Wie geschah dies? Man benutzte dazu ein besonderes Programm, die V. D. M.-Fragen. Diese Buchstaben sind eine Abkürzung der lateinischen Worte Verbi Dei Minister, was „Diener des Wortes Gottes“ bedeutet. Das Programm bestand aus einem Fragebogen, der sowohl Männern als auch Frauen, die mit den Versammlungen der Bibelforscher verbunden waren, zur Verfügung stand.
Hier folgen einige der Fragen, die auf dem V. D. M.-Fragebogen erschienen. Wie gut könntest du sie beantworten? 1. Was war die erste schöpferische Tätigkeit Gottes? 4. Welches ist die göttliche Strafe der Sünde für die Sünder, und wer sind die Sünder? 6. Welche Natur hatte der Mensch Christus Jesus von seiner Kindheit an bis zu seinem Tode? 7. Welche Natur hat Jesus seit seiner Auferstehung, und welches ist sein Amt bei Jehova? 13. Welches wird die Belohnung oder Segnung für die Welt für Gehorsam im Königreiche des Messias sein? 16. Hast Du Dich von der Sünde abgewandt, um dem lebendigen Gott zu dienen? 17. Hast Du Dein Leben, all Deine Kräfte und Talente dem Herrn und seinem Dienste geweiht? 18. Hast Du diese Weihung durch die Wassertaufe symbolisiert? 22. Glaubst Du, so viel und gründliche Kenntnis der Bibel zu haben, daß sie Dich während des Restes Deines Lebens mehr geeignet macht, ein Diener Gottes zu sein, als es vorher sein konnte?
Wer seine Antworten an die V. D. M.-Abteilung der Gesellschaft einsandte, erhielt eine Antwort zusammen mit „einigen freundlichen Ratschlägen und Hinweisen“ bezüglich seiner Antworten. Unter anderem wurde gewünscht, daß jeder die Fragen mit eigenen Worten beantwortete.
George E. Hannan gibt noch eingehendere Erläuterungen und schreibt: „Diese Fragen sollten als Anleitung dienen, um festzustellen, wie gut jemand die Grundlehren der Bibel verstand. Jede Gott hingegebene Person, die 85 Prozent der Fragen richtig beantwortete, wurde als lehrfähig betrachtet. All solche Brüder waren geeignet, öffentliche Vorträge und Karten-Vorträge zu halten. Durch diese Fragen wurden alle, die mit der Gesellschaft verbunden waren, ermuntert, die sechs Bände der Schriftstudien zu lesen und alle angeführten Schriftstellen nachzuschlagen.“
So kam es, daß J. F. Rutherford als neuer Präsident der Watch Tower Society unmittelbar Schritte unternahm, um das Werk der Verkündigung der guten Botschaft von Gottes Königreich zu beschleunigen. Gott segnete diese Bemühungen. Das Jahr 1917 erlebte eine vermehrte Predigttätigkeit zum Preise Jehovas Gottes.
„LASST EUCH DAS, WAS UNTER EUCH BRENNT ..., NICHT BEFREMDEN“
Doch nicht jeder innerhalb der Organisation zeigte sich erfreut, als J. F. Rutherford zum Präsidenten gewählt wurde. Einige suchten sogar — von Anfang des Jahres 1917 an —, die Verfügungsgewalt über die Gesellschaft ehrgeizig an sich zu reißen. Sie weigerten sich, weiterhin mitzuarbeiten; so begann eine Zeit der feurigen Erprobung. Christen erwarten zwar, von weltlichen Feinden bekämpft und verfolgt zu werden; doch Prüfungen, die in der christlichen Organisation ihren Ursprung haben, werden oft nicht erwartet und sind schwerer zu ertragen. Aber mit Gottes Hilfe können alle Schwierigkeiten von solcher Art ertragen werden. Petrus sagte seinen Mitgläubigen: „Geliebte, laßt euch das, was unter euch brennt und was euch als Prüfung widerfährt, nicht befremden, als ob euch etwas Befremdendes zustoße. Im Gegenteil, freut euch weiterhin, insofern ihr der Leiden des Christus teilhaftig seid“ (1. Petr. 4:12, 13).
Jehova und sein „Bote des Bundes“, Jesus Christus, kamen im Jahre 1918 u. Z., um den geistigen Tempel zu inspizieren. Darauf begann das Gericht am „Hause Gottes“, und eine Zeit der Läuterung und Reinigung setzte ein (Mal. 3:1-3; 1. Petr. 4:17). Noch etwas anderes geschah. Menschen, die die Merkmale eines „übelgesinnten Sklaven“ aufwiesen, traten hervor und begannen in sinnbildlicher Weise, ihre Mitsklaven zu „schlagen“. Jesus Christus hatte vorausgesagt, wie mit solchen Personen verfahren werden würde. Zugleich zeigte er, daß eine Klasse eines „treuen und verständigen Sklaven“, der geistige Speise austeilt, deutlich sichtbar sein würde (Matth. 24:45-51).
Man war damals sehr daran interessiert zu wissen, wer der „treue und verständige Sklave“ oder „treue und kluge Knecht“ (Elberfelder Bibel) sei. Lange zuvor, im Jahre 1881, hatte C. T. Russell geschrieben: „Wir glauben, daß jedes Glied dieses Leibes Christi entweder direkt oder indirekt an dem gesegneten Werke teilhat, dem Haushalt des Glaubens Speise zur rechten Zeit auszuteilen. ,Wer ist nun der treue und kluge Knecht, den sein Herr über sein Gesinde gesetzt hat, um ihnen Speise zu geben zur rechten Zeit?‘ Ist es nicht diese ‚kleine Herde‘ geweihter Diener, die ihre Weihegelübde treu erfüllen — der Leib Christi —, und ist es nicht der ganze Leib, als einzelne und als Gesamtheit, der dem Haushalt des Glaubens — der großen Menge der Gläubigen — Speise zur rechten Zeit austeilt?“
Demnach verstand man, daß der „Knecht“, den Gott gebrauchte, um geistige Speise auszuteilen, eine Gruppe war. Im Laufe der Zeit jedoch vertraten viele die Ansicht, daß C. T. Russell selbst der „treue und kluge Knecht“ sei. Dadurch gerieten einige in die Schlinge der Menschenverehrung. Sie dachten, jegliche Wahrheit, die Gott seinem Volke offenbaren wolle, wäre durch Bruder Russell gegeben worden und daß nichts darüber hinaus vorgebracht werden könne. Annie Poggensee schreibt: „Dies verursachte eine große Aussonderung derer, die mit den Werken Russells zurückbleiben wollten.“ Mit der verkehrten Ansicht, daß Russell selbst der „kluge und treue Knecht“ sei, wurde im Februar 1927 aufgeräumt.
Kurz nachdem Bruder Rutherford Präsident der Watch Tower Society geworden war, entwickelte sich eine regelrechte Verschwörung. Der Same der Rebellion war gesät worden, und nun breiteten sich die Schwierigkeiten aus, so, wie es im folgenden berichtet werden soll.
C. T. Russell hatte erkannt, daß es nötig war, jemand vom Hauptbüro nach Großbritannien zu schicken, um die Bibelforscher dort nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges zu stärken. Er hatte vor, Paul S. L. Johnson zu schicken, einen Juden, der die jüdische Religion aufgegeben hatte und ein lutherischer Geistlicher geworden war, bevor er die Wahrheit Gottes erkannt hatte. Johnson hatte als einer der reisenden Vortragsredner der Gesellschaft gedient und war wegen seiner Fähigkeiten sehr bekannt. Aus Achtung gegenüber dem Wunsch Russells sandte das Exekutivkomitee, das für kurze Zeit vor der Wahl Rutherfords zum Präsidenten diente, Johnson nach England, wobei ihm Papiere mitgegeben wurden, die ihm den Eintritt in das Land erleichtern würden. Er sollte soviel über das Werk in England zu erfahren suchen, wie er konnte, und dann einen ausführlichen Bericht an die Gesellschaft senden, aber er sollte keinerlei Änderungen in bezug auf die personelle Besetzung im englischen Zweigbüro vornehmen. Die Art und Weise jedoch, wie er im November 1916 in England empfangen worden war, schien sein Urteilsvermögen und schließlich auch seinen Verstand nachteilig beeinflußt zu haben, „bis“, wie A. H. Macmillan es feststellte, „er zu dem lächerlichen Schluß kam, daß er der ,Verwalter‘ im Gleichnis Jesu vom Groschen sei. Später dachte er, er sei der Hohepriester für die Welt.“ In Ansprachen vor Bibelforschern in ganz England bezeichnete sich Johnson selbst als Russells Nachfolger, wobei er behauptete, daß der Mantel Pastor Russells ihm zugefallen sei, ebenso, wie der Umhang (das „Amtsgewand“) Elias Elisa zugefallen sei (2. Kö. 2:11-14).
Offensichtlich hatte sich Johnsons Trachten sogar schon viel eher entwickelt, denn Edythe Kessler erinnert sich: „Ich verließ das Bethel im Jahre 1915, und vor meiner Heimfahrt nach Arizona besuchte ich ein paar alte Freunde, die ich schon seit Jahren kannte, und während ich dort war, hatten sie einen der Pilgerbrüder zu Gast, dessen Name P. S. L. Johnson war. Satan zeigte bereits seine häßlichen hinterhältigen Methoden, um die Gewalt an sich zu reißen, egal wie. Johnson sagte: ,Ich möchte gern mal mit dir reden. Wir wollen uns ins Wohnzimmer setzen.‘ Das taten wir. Er begann folgendermaßen: ,Schwester, wir wissen, daß Bruder Russell jeden Augenblick sterben kann, doch die Freunde brauchen sich nicht zu fürchten, wenn das eintritt. Ich kann seinen Platz ausfüllen und sofort alles übernehmen, ohne daß das Werk im geringsten unterbrochen würde.‘ “
Johnson versuchte während seines Aufenthalts in England, das Werk in Großbritannien völlig in seine Gewalt zu bringen, wobei er sogar versuchte, ohne dazu ermächtigt zu sein, einige der Glieder des Mitarbeiterstabes im Zweigbüro London zu entlassen. Dabei entstand so viel Verwirrung, daß sich der Zweigaufseher bei Bruder Rutherford beschwerte. Daraufhin ernannte Rutherford eine Kommission, bestehend aus einigen Brüdern in London, die nicht zum Mitarbeiterstab des Zweigbüros gehörten. Sie setzten sich zusammen, hörten sich die Tatsachen an, prüften sie und empfahlen dann, daß Johnson zurückgerufen werde. Rutherford wies Johnson an zurückzukehren. Doch statt dessen schickte Johnson Briefe und Telegramme, in denen er das Komitee der Voreingenommenheit bezichtigte und auch versuchte, seine Handlungsweise zu rechtfertigen. Um sich in Großbritannien unabkömmlich zu machen, mißbrauchte er die Vollmachten, mit denen die Gesellschaft ihn ausgestattet hatte, und ließ das Geld der Gesellschaft bei der Londoner Bank sperren. Später mußte man gerichtlich vorgehen, um diese Gelder wieder freizubekommen.
Schließlich kehrte Johnson nach New York zurück, wo er beharrlich versuchte, J. F. Rutherford dazu zu überreden, ihn nach England zurückzuschicken, doch ohne Erfolg. Johnson war der Überzeugung, daß er selbst Präsident der Gesellschaft sein sollte; er dachte, daß Rutherford nicht der geeignete Mann dafür sei. Er suchte den Vorstand zu beeinflussen. Johnson überredete 4 der 7 Vorstandsmitglieder, sich auf seine Seite zu stellen, indem er den Anschein erweckte, Bruder Rutherford sei als Präsident ungeeignet. Die vier gegnerisch gesinnten Vorstandsmitglieder widersetzten sich dem Präsidenten der Gesellschaft, dem Vizepräsidenten und dem Sekretär-Kassierer und versuchten, dem Präsidenten die Leitung aus den Händen zu reißen.
J. F. Rutherford hielt Zusammenkünfte mit den sich Widersetzenden ab und versuchte, vernünftig mit ihnen zu reden. A. H. Macmillan sagt, daß Rutherford „sogar zu einigen von uns kam und fragte: ,Soll ich als Präsident zurücktreten und die Gegner alles übernehmen lassen?‘ Wir alle antworteten: ,Bruder, der Herr hat dich dort hingestellt, wo du bist, und zurückzutreten oder aufzuhören wäre Untreue gegenüber dem Herrn.‘ Darüber hinaus drohte die Belegschaft des Büros damit, daß sie die Arbeit niederlegen würde, wenn diese Männer die Gewalt innehätten.“
Während einer verlängerten Sitzung der Jahresversammlung der Gesellschaft für das Jahr 1917 versuchten die vier andersdenkenden Vorstandsmitglieder, eine Resolution vorzulegen, die die Satzung der Gesellschaft verändert hätte. Ihr Ziel dabei war, die Gewalt in die Hände des Vorstands zu legen. Da dies sowohl der organisatorischen Handhabung widersprach, die während der Präsidentschaft Bruder Russells üblich war, als auch den Wünschen der Teilhaber, wies Rutherford diesen Antrag zurück, und der Plan war gescheitert. Danach wurde der Widerstand stärker, doch es traten einige Entwicklungen ein, die die Gegner nicht erwartet hatten.
„DAS VOLLENDETE GEHEIMNIS“
Während seiner gesamten Zeit als Präsident der Gesellschaft hatte Bruder Russell zusammen mit dem Vizepräsidenten und dem Sekretär-Kassierer die Entscheidungen über neue Publikationen getroffen. Der Vorstand war als Gruppe nicht zu Rate gezogen worden. Rutherford verfuhr ebenso. Daher trafen die drei Beamten der Gesellschaft bald eine weitreichende Entscheidung.
Charles Taze Russell hatte sechs Bände des Millennium-Tagesanbruchs oder der Schriftstudien geschrieben, doch er hatte oft davon gesprochen, einen siebenten Band zu schreiben. „Wann immer ich den Schlüssel finde“, sagte er, „werde ich den siebenten Band schreiben; und wenn der Herr den Schlüssel einem anderen gibt, kann er ihn schreiben.“ Die Beamten der Gesellschaft trafen Vorkehrungen, daß zwei Bibelforscher, Clayton J. Woodworth und George H. Fisher, ein Buch zusammenstellen sollten, das aus Kommentaren zur Offenbarung, zum Hohenlied und zu Hesekiel bestehen sollte. Diese gemeinsamen Herausgeber trugen Material aus Bruder Russells Schriften zusammen, das unter dem Titel Das vollendete Geheimnis als der siebente Band der Schriftstudien veröffentlicht wurde. Da dieser Band größtenteils die Gedanken und Kommentare C. T. Russells enthielt, wurde er als „hinterlassenes Werk Pastor Russells“ bezeichnet.
Mitte des Jahres 1917 war die Zeit zur Veröffentlichung des neuen Buches gekommen. Man schrieb den 17. Juli. „Ich hatte gerade Dienst im Eßsaal (des Brooklyner Bethels), als das Telefon läutete“, sagt Martin O. Bowin. „Wir bereiteten gerade alles für die Mittagsmahlzeit vor. Da ich dem Telefon am nächsten war, hob ich ab. Am anderen Ende war Bruder Rutherford. ,Wer ist bei dir?‘ fragte er. Ich antwortete: ,Louis.‘ Er sagte, wir sollten schnell in sein Arbeitszimmer kommen, und fügte hinzu: ,Ihr braucht nicht anzuklopfen.‘ Wir bekamen einen Stapel Bücher mit dem Auftrag, eines auf jeden Platz zu legen und damit fertig zu sein, bevor die Familie zur Mittagsmahlzeit einträfe.“ Schon bald war der Eßsaal mit den Gliedern der Bethelfamilie gefüllt.
„Wie sonst auch“, so fährt Bruder Bowin fort, „wurde ein Gebet gesprochen. Doch dann ging es los! ... Angeführt von ... P. S. L. Johnson, ... begann die Demonstration gegen unseren lieben Bruder Rutherford. Lauthals boshafte Beschuldigungen ausstoßend, gingen sie auf und ab und hielten nur vor Bruder Rutherfords Tisch an, um ihm mit der Faust zu drohen und ihn noch mehr zu beschimpfen. ... So ging es ungefähr fünf Stunden lang. Dann standen alle auf. Das Geschirr und eine Menge unberührter Speisen standen immer noch auf dem Tisch, und die Brüder, die alles abräumen mußten, hatten nicht mehr viel Kraft, dies zu tun.“
Dieser Vorfall zeigte, daß einige Glieder der Bethelfamilie mit den Gegnern sympathisierten. Hätte dieser Widerstand angehalten, so wäre schließlich die gesamte Arbeit im Bethel unmöglich geworden. Daher handelte J. F. Rutherford, um die Angelegenheit zu bereinigen. Obwohl er selbst mit dem gesetzlichen Aufbau der Gesellschaft völlig vertraut war, hatte Rutherford einen bekannten Anwalt in Philadelphia (Pennsylvanien) wegen der Rechtsstellung des Vorstands der Gesellschaft um Rat gefragt. Das schriftliche Gutachten, das er daraufhin erhielt, offenbarte, daß diese vier Abtrünnigen keine gesetzlichen Glieder des Vorstands waren. Weshalb nicht?
C. T. Russell hatte diese Männer als Vorstandsmitglieder ernannt, doch die Satzung der Gesellschaft forderte, daß Vorstandsmitglieder durch eine Abstimmung der Teilhaber gewählt würden. Rutherford hatte Russell gesagt, daß die Ernannten durch eine Abstimmung während der nächsten Jahresversammlung in ihrem Amt bestätigt werden müßten, doch Russell hatte dies niemals getan. Daher waren nur die Beamten, die während der Jahresversammlung in Pittsburgh gewählt worden waren, rechtmäßige Mitglieder des Vorstands. Die vier Ernannten waren keine gesetzlichen Glieder dieses Vorstands. Rutherford wußte dies während der ganzen Zeit, doch er hatte es nicht erwähnt, da er hoffte, daß diese Mitglieder des Vorstands ihren Widerstand aufgeben würden. Ihre Haltung zeigte jedoch, daß sie nicht als Vorstandsmitglieder geeignet waren. Sie wurden daher zu Recht von Rutherford entlassen, und an ihrer Stelle wurden vier neue Mitglieder des Vorstands ernannt, deren Ernennung Anfang des Jahres 1918 bei der nächsten Jahresversammlung der Gesellschaft bestätigt werden konnte.
Bruder Rutherford verstieß die früheren Vorstandsmitglieder aber nicht einfach aus der christlichen Organisation. Statt dessen bot er ihnen Stellungen als Pilgerbrüder an. Sie lehnten dies ab, verließen von sich aus das Bethel und begannen, ihre Opposition in einem ausgedehnten Feldzug durch Reden und Briefe überall in den Vereinigten Staaten sowie in Kanada und Europa auszubreiten. Als Ergebnis bestanden nach dem Sommer des Jahres 1917 viele Versammlungen der Bibelforscher aus zwei Parteien — aus denen, die gegenüber Jehovas Organisation loyal waren, und anderen, die geistig schläfrig geworden und den glatten Reden der Gegner zum Opfer gefallen waren. Die letzteren weigerten sich zusammenzuarbeiten und wollten sich nicht an dem Werk des Predigens der guten Botschaft vom Königreich beteiligen.
LETZTE VERGEBLICHE VERSUCHE, DIE LEITUNG AN SICH ZU REISSEN
Die Oppositionsgruppe, die kurz zuvor das Bethel verlassen hatte, dachte, sie könnte die Leitung des Kongresses der Bibelforscher, der in Boston (Massachusetts) im August 1917 abgehalten wurde, an sich reißen. Mary Hannan, die bei diesem Kongreß mit dabei war, berichtet: „Da Bruder Rutherford wußte, was sie wollten, paßte er auf und gab ihnen keine Gelegenheit, während des Programms auf die Bühne zu kommen. Er diente während der ganzen Zeit als Vorsitzender.“ Der Kongreß war ein voller Erfolg zum Ruhme Jehovas, und die Gegner waren nicht in der Lage, ihn zu stören.
J. F. Rutherford wußte, daß die Jahresversammlung der Gesellschaft am 5. Januar 1918 den Abtrünnigen eine weitere Gelegenheit geben würde, die Gewalt an sich zu reißen. Er war sich ziemlich sicher, daß die Bibelforscher im allgemeinen einen solchen Schritt nicht befürworteten; doch würden sie keine Gelegenheit haben, ihre Meinung bei der Wahl kundzutun, da diese ausschließlich Sache der Mitglieder der gesetzlich eingetragenen Körperschaft, der Watch Tower Bible and Tract Society, war. Was konnte Rutherford daher tun? Er konnte allen Jehova hingegebenen Dienern eine Gelegenheit geben, ihrer Meinung Ausdruck zu verleihen. Daher schlug Der Wacht-Turm von 1. November 1917 (engl.) vor, daß in allen Versammlungen eine allgemeine Abstimmung durchgeführt werden sollte. Bis zum 15. Dezember hatten 813 Versammlungen ihre Stimmen eingesandt, und die Abstimmung zeigte, daß von 11 421 Stimmen insgesamt 10 869 für J. F. Rutherford als Präsidenten der Gesellschaft abgegeben worden waren. Unter anderem zeigte diese allgemeine Abstimmung auch, daß alle treuen Mitglieder des Vorstands, die nach der Umbesetzung im Juli 1917 dazugehörten, den Rebellen vorgezogen worden waren, die beanspruchten, Vorstandsmitglieder zu sein.
Die sieben Personen, die während der Jahresversammlung der Teilhaber am Samstag, dem 5. Januar 1918, die höchste Anzahl Stimmen erhielten, waren J. F. Rutherford, C. H. Anderson, W. E. Van Amburgh, A. H. Macmillan, W. E. Spill, J. A. Bohnet und George H. Fisher. Nicht einer der Gegner konnte sich einen Platz im Vorstand sichern. Aus den Reihen der rechtmäßig gewählten Vorstandsmitglieder wurden dann die Beamten der Gesellschaft gewählt, wobei J. F. Rutherford alle Stimmen für die Stellung des Präsidenten erhielt, Charles H. Anderson alle für die des Vizepräsidenten und W. E. Van Amburgh alle Stimmen für das Amt des Sekretär-Kassierers. Diese Männer waren daher ordnungsgemäß als Beamte der Gesellschaft gewählt worden. Der letzte Versuch der Gegner, die Leitung an sich zu reißen, war vollständig vereitelt worden.
Für die Treuen und die Gegner bestand jetzt keine Möglichkeit der Versöhnung mehr. Die Oppositionsgruppe bildete eine völlig getrennte Organisation, die von einem „Siebener-Komitee“ geleitet wurde. Mit Sicherheit war die Trennung am 26. März 1918 vollständig, als die Gegner das Gedächtnismahl zur Erinnerung an den Tod Christi getrennt von den treuen Versammlungen des Volkes Gottes feierten. Die Einheit innerhalb der Oppositionsgruppe war jedoch nur von kurzer Dauer, denn auf ihrem Kongreß im Sommer 1918 entstanden Meinungsverschiedenheiten, die zu einer Spaltung führten. P. S. L. Johnson organisierte eine Gruppe, die ihr Hauptbüro in Philadelphia (Pennsylvanien) hatte, wo er The Present Truth and Herald of Christ’s Epiphany (Die gegenwärtige Wahrheit und der Verkündiger der Epiphanie Christi) herausbrachte. Dort blieb er bis zu seinem Tode, sich selbst als „der Erde großer Hoherpriester“ bezeichnend. Weitere Zwistigkeiten führten von 1918 an zu Spaltungen, bis die ursprüngliche Gruppe, die sich von der Watch Tower Society getrennt hatte, in eine Anzahl sich neu zersplitternder Sekten zerfiel.
Viele, die sich in den Jahren nach dem Tode C. T. Russells zurückzogen, leisteten ihren vorherigen christlichen Mitverbundenen keinen aktiven Widerstand. Einige kehrten zurück, bereuten ihre Taten und schlossen sich Gottes Volk wieder an. Dies war eine Zeit schwerer Prüfungen, wie es der Bericht von Mabel P. M. Philbrick zeigt: „Ich war sehr besorgt, als ich erkannte, daß mein eigener Vater und meine von mir sehr geliebte Stiefmutter, die die Hoffnung des himmlischen Erbes hatten, abfielen. Es kostete mich viel Anstrengung und viele Tränen, meine Fassung wiederzufinden, denn ich wußte sehr gut, daß jemand, der seine Krone verloren hatte, kein Leben zu erwarten hatte — nirgendwo. Der Gedanke, daß sie in den zweiten Tod gehen würden, war für mich unerträglich. Eines Tages jedoch tröstete mich Jehova im Gebet sehr, als ich voll und ganz zu wünschen begann, daß nur sein Wille allein geschehen sollte. Auf einmal verstand ich, daß seine Liebe und Gerechtigkeit weit großartiger waren als meine eigene und daß, wenn er sie nicht für würdig erachtete, Leben zu erlangen, ich ebenfalls nicht mehr auf ihrer Seite stehen konnte. Schließlich waren mein Vater und meine Mutter nicht anders als die Väter und Mütter anderer. Diese Erkenntnis half mir, meine innere Ruhe wiederzuerlangen.“
Diejenigen, die sich in jenen Tagen von Jehovas Dienern trennten, bildeten nicht nur Sekten, sondern in den meisten Fällen nahmen sie auch an Zahl ab, und ihre Tätigkeit wurde entweder bedeutungslos oder hörte völlig auf. Sie erfüllten sicher nicht den Auftrag Jesu, den er seinen Nachfolgern gegeben hatte, die gute Botschaft auf der ganze Erde zu predigen und Jünger zu machen (Matth. 24:14; 28:19, 20).
Wie viele verließen das wahre Christentum während der kritischen Jahre 1917 und 1918? Gemäß einem unvollständigen weltweiten Bericht besuchten am 5. April 1917 insgesamt 21 274 Personen das Gedächtnismahl zur Erinnerung an den Tod Jesu Christi. (Wegen der Schwierigkeiten innerhalb und außerhalb der Organisation im Jahre 1918 wurden in jenem Jahr keine Anwesendenzahlen gesammelt.) Ein Teilbericht für die Gedächtnismahlfeier am 13. April 1919 zeigte eine Anwesendenzahl von 17 961. Wenn diese Zahlen auch unvollständig sind, so zeigen sie doch, daß weit weniger als 4 000 Personen aufgehört hatten, mit ihren früheren Mitverbundenen im Dienste Gottes zu wandeln.
CHRISTEN IN DER FEUERPROBE
Von 1917 bis 1919 waren die Bibelforscher auch der Gegenstand einer internationalen Verschwörung, die insbesondere von der Geistlichkeit der Christenheit geschürt wurde. Das vollendete Geheimnis, der siebente Band der Schriftstudien, erweckte den Zorn der Kirche. Innerhalb von sieben Monaten nach der Herausgabe erfreute sich dieses Buch einer Verbreitung, die ohnegleichen war. Die Vertragsfirmen der Gesellschaft hatten viel zu tun, um die Auflage von 850 000 Exemplaren zu drucken. Ende des Jahres 1917 gab es das Buch auch in Schwedisch und Französisch, und die Übersetzung in weitere Sprachen war begonnen worden.
Am 30. Dezember 1917 wurde mit der Massenverbreitung von 10 000 000 Exemplaren einer neuen Ausgabe des vierseitigen Traktates in kleinem Zeitungsformat Der Schriftforscher begonnen. Es trug den Titel „Der Fall Babylons“ und hatte die Unterthemen „Das alte Babylon ein Vorbild“, „Mystisch-Babylon das Gegenbild“, „Warum die Christenheit jetzt leiden muß“, „Das Endergebnis“. Darin enthalten waren Auszüge aus dem siebenten Band mit einigen scharfen Hinweisen auf die Geistlichkeit. Auf der Rückseite erschien eine satirische Zeichnung, in der eine einstürzende Wand dargestellt wurde. Auf einige ihrer Steine waren Wörter geschrieben wie „Protestantismus“, „Höllenqualtheorie“, „Dreieinigkeitslehre“, „Apostolische Nachfolge“ und „Fegefeuer“. Das Traktat zeigte mit Belegen aus der Bibel, daß die große Mehrzahl der Geistlichen „untreue, illoyale, ungerechte Männer gewesen sind“, die mehr Verantwortung für den Krieg, der damals gerade im Gange war, und die großen Schwierigkeiten, die ihm folgen würden, trugen als irgendeine andere Gruppe von Menschen auf der Erde. In Verbindung mit dieser Traktat-Verteilungsaktion wurden am gleichen Tag weit und breit angekündigte öffentliche Vorträge über dasselbe Thema gehalten.
Was würdest du davon halten, ein Traktat wie dieses zu verbreiten? C. B. Tvedt räumt ein, daß er diesen Tag nie vergessen wird, und sagt dann: „Es war ein äußerst rauher, kalter Tag. Doch die Botschaft, die ich verbreitete, war ohne Zweifel glühend heiß. ... Ich mußte 1 000 von diesen Traktaten unter die Wohnungstüren schieben und gelegentlich auch direkt an Einzelpersonen, die ich traf, verteilen. Ich kann nicht leugnen, daß es mir lieber war, die Traktate unter die Tür zu schieben, denn ich erkannte, daß dies eine feurige Botschaft war und wie eine Bombe einschlagen würde.“
Ende des Jahres 1917 und Anfang des Jahres 1918 stieg die Verbreitung des Vollendeten Geheimnisses ständig an. Die verärgerte Geistlichkeit stellte die falsche Behauptung auf, daß einige Aussagen des Buches aufrührerisch seien. Sie war darauf aus, die Watch Tower Society zu „fassen“, und wie die jüdischen religiösen Führer zur Zeit Jesu wollte sie, daß der Staat das Werk für sie tue. (Vergleiche Matthäus 27:1, 2, 20.) Sowohl katholische wie auch protestantische Geistliche stellten die Bibelforscher so hin, als ständen sie im Dienste der deutschen Regierung. So sagte zum Beispiel ein Dr. Case von der Theologischen Fakultät der Universität Chicago über das Werk der International Bible Students Association, einer gesetzlichen Körperschaft des Volkes Gottes, in einer Veröffentlichung folgendes: „Um ihre Lehre zu verbreiten, werden wöchentlich zweitausend Dollar ausgegeben. Es ist nicht bekannt, woher das Geld kommt; doch es bestehen starke Verdachtsmomente, daß es aus deutschen Quellen stammt. Meines Erachtens würde es sich für die Regierung lohnen, der Herkunft dieses Geldbetrages nachzugehen.“
„Diese und ähnliche Beschuldigungen von anderen Geistlichen trugen offensichtlich ihren Teil dazu bei, daß Vertreter des Geheimdienstes der Armee die Bücher des Kassierers der Gesellschaft beschlagnahmten“ stand im Wacht-Turm (engl.) vom 15. April 1918. Weiter hieß es: „Die Behörden nahmen zweifellos an, sie würden Beweise finden, die die Anklage untermauern würden, daß unsere Gesellschaft für die deutsche Regierung arbeite. Natürlich enthielten die Bücher nichts Derartiges. Das gesamte Geld der Gesellschaft stammt von Personen, die daran interessiert sind, das Evangelium über Jesus Christus und sein Königreich zu verkündigen, und an nichts sonst.“ Zeitungsberichte, die im ganzen Land über die Beschlagnahme der Bücher der Gesellschaft erschienen, trugen dazu bei, Argwohn zu erregen.
Der 12. Februar 1918 war ein besonderes Datum für Gottes Volk in Kanada. An jenem Tage wurde die Watch Tower Society im ganzen Land verboten. In einer Pressemeldung hieß es: „Das Innenministerium hat gemäß der Pressezensur verordnet, Verfügungen zu erlassen, die in Kanada den Besitz einer Anzahl Publikationen verbieten, darunter das von der International Bible Students Association herausgegebene Buch, betitelt ,SCHRIFTSTUDIEN — Das vollendete Geheimnis‘, das allgemein als eine posthume Publikation Pastor Russells bekannt ist. Auch die Verbreitung des Schriftforschers, ebenfalls von dieser Vereinigung herausgegeben, und zwar von ihrem Büro in Brooklyn (New York), ist in Kanada verboten. Wer im Besitz irgendwelcher verbotener Bücher angetroffen wird, hat eine Höchststrafe von 5 000 Dollar und fünf Jahren Gefängnis zu gewärtigen.“
Warum das Verbot? Die in Winnipeg (Manitoba) erscheinende Tribune hellte die Angelegenheit durch folgenden Kommentar auf: „Von den verbotenen Publikationen wird gesagt, sie enthielten aufrührerische Äußerungen gegen den Krieg. Ehrwürden Charles G. Paterson, Pastor der St.-Stephen’s-Kirche, griff vor wenigen Wochen von der Kanzel herab gewisse Ausführungen aus einer der neuesten Ausgaben des Schriftforschers heftig an. Darauf ersuchte Staatsanwalt Johnson Pastor Paterson um ein Exemplar der Publikation. Man glaubt, die Verfügung der Zensur sei die direkte Folge davon.“
Der internationale Charakter der Verschwörung wurde kurz nach dem von der Geistlichkeit in Kanada angestifteten Verbot offenbar. Im Februar 1918 begann der Geheimdienst der Armee in New York eine Durchsuchung des Hauptbüros der Gesellschaft. Man hatte ihm nicht nur fälschlich mitgeteilt, daß die Gesellschaft mit dem Feind in Deutschland in Verbindung stand, sondern man hatte der Regierung der Vereinigten Staaten auch lügnerisch berichtet, daß das Hauptbüro der Gesellschaft in Brooklyn eine Zentrale zur Nachrichtenübermittlung an das Regime in Deutschland sei. Schließlich erschienen in der Presse Berichte, daß Regierungsbeauftragte einen Funkapparat beschlagnahmt hätten, der im Bethel aufgebaut und betriebsbereit gewesen sei. Was waren jedoch die Tatsachen?
Im Jahre 1915 hatte C. T. Russell ein kleines Empfangsgerät geschenkt bekommen. Er selbst war daran nicht allzu interessiert, doch man brachte eine kleine Antenne auf dem Dach des Bethels an und gab jüngeren Brüdern die Gelegenheit, den Gebrauch der Anlage zu erlernen. Sie waren jedoch nicht sehr erfolgreich im Auffangen von Botschaften. Kurz bevor die Vereinigten Staaten in den Krieg eintraten, wurde verfügt, daß alle Funkgeräte abgebaut werden sollten. So montierte man die Antenne ab, zersägte die Masten und verwendete sie für andere Zwecke, während der Apparat selbst sorgfältig verpackt im Atelier der Gesellschaft abgestellt wurde. Zu der Zeit, als ein Glied der Bethelfamilie zwei Angehörigen des Armee-Nachrichtendienstes in einem Gespräch von dem Gerät erzählte, war der Apparat schon über zwei Jahre lang überhaupt nicht mehr benutzt worden. Man führte die Männer auf das Dach und zeigte ihnen, wo er vorher aufgebaut worden war. Dann zeigte man ihnen das Gerät selbst, das verpackt weggestellt worden war. Da man es im Bethel nicht gebrauchen konnte, war man damit einverstanden, daß die Männer es mitnahmen. Bei dem Apparat handelte es sich lediglich um einen Empfänger, nicht um ein Sendegerät. Es gab niemals ein Sendegerät. Daher war es unmöglich, irgendwohin eine Nachricht zu senden.
Der Widerstand und Druck gegen Gottes Volk wuchsen weiterhin. J. F. Rutherford hielt am 24. Februar 1918 einen öffentlichen Vortrag in Los Angeles (Kalifornien) vor einer Zuhörerschaft von 3 500 Personen. Am Tag danach brachte die in Los Angeles erscheinende Tribune einen Bericht von einer vollen Seite über den Vortrag. Dies verärgerte die dortigen Geistlichen. Am Montagmorgen hielt ihre Predigervereinigung eine Zusammenkunft ab und sandte daraufhin ihren Präsidenten zur Geschäftsleitung der Zeitung, wo er eine Erklärung dafür forderte, daß so viel über den Vortrag veröffentlicht worden sei. Am folgenden Donnerstag ließ der Geheimdienst der Armee die Zweigstelle der Bibelforscher in Los Angeles besetzen, wobei auch viele der Publikationen der Gesellschaft beschlagnahmt wurden.
Am Montag, dem 4. März 1918, wurden Clayton J. Woodworth (der beim Zusammenstellen des Buches Das vollendete Geheimnis mitgewirkt hatte) und einige andere Brüder in Scranton (Pennsylvanien) verhaftet. Sie wurden fälschlich der Verschwörung angeklagt und mußten sich gegen Bürgschaft verpflichten, im Mai vor Gericht zu erscheinen. Während der Druck auf die Gesellschaft von außen stetig zunahm, wurden darüber hinaus mehr als zwanzig Bibelforscher in Armeelagern und Militärgefängnissen festgehalten, weil man ihnen die Freistellung vom Militär versagte. Einige von ihnen wurden vor Kriegsgerichte gestellt und zu vielen Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Am 14. März 1918 erklärte das Justizministerium der Vereinigten Staaten, daß die Verbreitung des Buches Das vollendete Geheimnis eine Verletzung des Spionagegesetzes darstelle.
Eine Gegenoffensive durch Gottes Volk war eine Notwendigkeit. Der von der Geistlichkeit hervorgerufene Widerstand gegen das christliche Werk der Bibelforscher mußte bloßgestellt werden. Daher veröffentlichte die Watch Tower Society am 15. März 1918 ein zweiseitiges Traktat in der Größe einer Zeitung, betitelt Königreichs-Nachrichten Nr. 1. Es trug die auffällige Überschrift „Religiöse Unduldsamkeit — Pastor Russells Anhänger verfolgt, weil sie den Menschen die Wahrheit sagen — Die Behandlung der Bibelforscher riecht nach dem ,finsteren Mittelalter’“. In diesem Traktat wurde die von der Geistlichkeit veranlaßte Verfolgung der christlichen Zeugen Jehovas in Deutschland, Kanada und den Vereinigten Staaten gründlich bloßgestellt. Millionen von Exemplaren wurden davon verbreitet.
Interessanterweise hieß es in diesem Traktat: „Wir anerkennen, daß die Regierung der Vereinigten Staaten als politische und wirtschaftliche Institution gemäß der Verfassung die Macht und Autorität besitzt, einen Krieg zu erklären und ihre Bürger zum Militärdienst einzuberufen. Wir haben nicht die Absicht, der Aushebung oder dem Krieg in irgendeiner Weise entgegenzuarbeiten. Die Tatsache, daß einige unserer Mitglieder den Schutz des Gesetzes in Anspruch zu nehmen suchten, ist als ein weiterer Anlaß zur Verfolgung benutzt worden.“
Am 15. April 1918 erschienen die Königreichs-Nachrichten Nr. 2, deren eindrucksvolle Schlagzeile „Das vollendete Geheimnis, weshalb unterdrückt“ lautete. Unter der Unterüberschrift „Geistliche haben dazu beigetragen“ zeigte dieses Traktat, daß die Regierungsstellen von der Geistlichkeit angetrieben wurden, gegen die Gesellschaft vorzugehen, Verhaftungen vorzunehmen, gegen Das vollendete Geheimnis Einwände zu erheben und auf die Bibelforscher Druck auszuüben, bestimmte Seiten (247—253) aus dem Buch zu entfernen. Dieses Traktat erklärte auch, warum die Geistlichkeit gegen Jehovas Diener kämpfte, und es zeigte deutlich, wie seine Diener gegenüber dem Krieg eingestellt waren und was sie bezüglich der wahren Kirche glaubten.
In Verbindung mit der Verbreitung dieser Ausgabe der Königreichs-Nachrichten wurde eine Petition in Umlauf gesetzt. Sie war an den Präsidenten der Vereinigten Staaten, Wilson, gerichtet und lautete: „Wir, die unterzeichneten Amerikaner, vertreten die Auffassung, daß irgendein Eingreifen der Geistlichkeit in das unabhängige Bibelstudium ein unamerikanischer, unchristlicher Akt der Unduldsamkeit ist und daß jeder Versuch, die Kirche mit dem Staat zu verbinden, von Grund auf verkehrt ist. Im Interesse der Freiheit der Bürger und der Religion protestieren wir feierlich gegen die Unterdrückung des Buches Das vollendete Geheimnis und ersuchen die Regierung, alle Einschränkungen in bezug auf seine Verwendung zu beseitigen, damit es den Menschen gestattet sei, dieses Hilfsmittel zum Bibelstudium ohne Einmischung oder Belästigung zu kaufen, zu verkaufen, zu besitzen und zu lesen.“
Gerade sechs Wochen nach den ersten Königreichs-Nachrichten wurden am 1. Mai 1918 die Königreichs-Nachrichten Nr. 3 veröffentlicht. Sie trugen die Überschrift: „Zwei große Schlachten toben — Sturz der Autokratie gewiß“ und die Unterüberschrift: „Satans Strategie zum Scheitern verurteilt“. Diese Ausgabe handelte von dem Samen der Verheißung, der sich gegen den Samen Satans stellt (1. Mose 3:15). Sie verfolgte die Entwicklung des Antichristen von seiner Geburt bis zu den damals verübten Taten der katholischen und protestantischen Geistlichkeit. Unerschrocken zeigte dieses Traktat, wie der Teufel diese Personengruppen jetzt gebrauchte, den Überrest der gesalbten Nachfolger Jesu Christi auf der Erde zu vernichten.
Um die Ausgaben der Königreichs-Nachrichten, die damals veröffentlicht wurden, zu verbreiten, war Mut nötig. Manche Bibelforscher wurden eingesperrt. Es kam vor, daß größere Mengen der Königreichs-Nachrichten für kurze Zeit beschlagnahmt wurden. Obwohl Jehovas Diener sich durch die Opposition und die Verfolgung auf eine Feuerprobe gestellt sahen, erhielten sie doch ihre Treue gegenüber Gott aufrecht und fuhren in ihrem christlichen Werk fort.
GREUELTATEN, DIE BEGANGEN WURDEN
Mit wachsendem Widerstand der Geistlichen und der Laien gegen Jehovas Diener wurden auch Greueltaten an ihnen verübt. Eine spätere Veröffentlichung der Watch Tower Society gibt einen teilweisen Bericht der unglaublichen Verfolgungen, die die Bibelforscher erdulden mußten:
„Am 12. April 1918 wurde E. P. Taliaferro in Medford (Oregon) von einer Pöbelrotte überfallen und aus der Stadt gejagt, weil er das Evangelium gepredigt hatte, und George R. Maynard wurde ausgezogen, mit Farbe angemalt und aus der Stadt getrieben, weil er zugelassen hatte, daß in seinem Haus die Bibel studiert wurde. ...
Am 17. April 1918 wurden in Shawnee (Oklahoma) G. N. Fenn, George M. Brown, L. S. Rogers, W. F. Glass, E. T. Grier und J. T. Tull eingesperrt. Während der Verhandlung sagte der Staatsanwalt: ,In die Hölle mit eurer Bibel! Man sollte euch das Rückgrat brechen und euch in die Hölle schicken. Erhängen sollte man euch!’ Als G. F. Wilson von Oklahoma City als Rechtsverteidiger zu amtieren suchte, wurde auch er verhaftet. Jeder wurde zu 55 Dollar und den Gerichtskosten verurteilt. Vergehen: Verbreitung protestantischer Schriften. Der Richter ermunterte nach der Verhandlung zu einer Pöbelaktion, aber diese wurde vereitelt.
Am 22. April 1918 wurden in Kingsville (Texas) L. L. Davis und Daniel Toole von einer Pöbelrotte gejagt, die vom Bürgermeister und vom Kreisrichter angeführt wurde, und darauf gefaßt und ohne Berechtigung ins Gefängnis geworfen. Davis wurde von seiner Arbeitsstelle vertrieben. Im Mai 1918 wurde in Tecumseh (Oklahoma) J. J. May auf Befehl eines Richters ergriffen und für dreizehn Monate in einer Nervenheilanstalt eingesperrt, nachdem man ihn bedroht und beschimpft hatte. Seine Familie erhielt keinerlei Nachricht darüber, was man mit ihm getan hatte. ...
Am 17. März 1918 löste eine Pöbelrotte in Grand Junction (Colorado) eine Zusammenkunft zum Bibelstudium auf. Die Pöbelrotte bestand aus dem Bürgermeister, führenden Zeitungsleuten und anderen bekannten Geschäftsleuten. ...
Am 22. April 1918 wurde in Wynnewood (Oklahoma) Claud Watson zuerst eingesperrt und darauf vorsätzlich einer Pöbelrotte ausgeliefert, die aus Predigern, Geschäftsleuten und einigen weiteren Personen bestand. Man schlug ihn nieder, veranlaßte einen Neger, ihn auszupeitschen und, als er sich etwas erholt hatte, ihn von neuem zu schlagen. Dann überschüttete man ihn mit Teer und Federn, wobei man den Teer in seine Haare und in seine Kopfhaut einrieb. Am 29. April 1918 wurden in Walnut Ridge (Arkansas) W. B. Duncan, 61jährig, Edward French, Charles Franke, ein Herr Griffin und eine Frau D. Van Hoesen eingesperrt. In das Gefängnis brach eine Pöbelrotte ein, die sich der gemeinsten obszönen Sprache bediente und die Insassen mit Peitschen schlug, teerte, federte und dann aus der Stadt hinaustrieb. Duncan war gezwungen, über vierzig Kilometer weit bis zu seiner Wohnung zu Fuß zu gehen, und erholte sich kaum wieder. Griffin wurde buchstäblich blind und starb zufolge der Mißhandlungen einige Monate später.“
Sogar heute erinnert sich T. H. Siebenlist noch gut daran, was seinem Vater in Shattuck (Oklahoma) zugestoßen war. Er schreibt:
„Im September 1917 kam ich in die Schule. Alles ging gut, bis um den März herum von allen Schulkindern verlangt wurde, eine Rote-Kreuz-Anstecknadel zu kaufen. Mittags nahm ich den Zettel mit nach Hause. Vater war zur Arbeit, und Mutter konnte zu jener Zeit nur Deutsch lesen. Bruder Howlett jedoch, ein Pilgerbruder, besuchte gerade die ,Klasse‘ und nahm sich der Sache an. Es wurde keine Anstecknadel gekauft!
Nicht viel später holten Beamte meinen Vater an seinem Arbeitsplatz ab und versuchten, ihn zu zwingen, auf dem Buch Das vollendete Geheimnis stehend, die Fahne zu grüßen, und das mitten auf der Hauptstraße von Shattuck. Er wurde ins Gefängnis gebracht ...
Kurz darauf wurde Vater wieder abgeholt und für weitere drei Tage festgehalten. Man gab ihm sehr wenig zu essen. Seine Freilassung verlief diesmal jedoch anders. Etwa um Mitternacht täuschten drei Männer einen Gefängnis,einbruch‘ vor. Sie zogen einen Sack über den Kopf meines Vaters und ließen ihn barfuß zum westlichen Ende der Stadt marschieren. Der Boden war dort rauh und voller klettenartiger Pflanzen. Hier entblößten sie ihm den Oberkörper und schlugen ihn mit einer Reitpeitsche, die in einen Draht auslief. Danach übergossen sie ihn mit heißem Teer und federten ihn, worauf sie ihn als tot zurückließen. Er brachte es fertig, aufzustehen und sich teils laufend, teils kriechend um die Stadt herum nach Südosten zu schleppen. Er hatte vor, sich nach Norden zu wenden und nach Hause zu gehen. Einer seiner Freunde fand ihn aber und brachte ihn nach Hause. Ich habe ihn an jenem Abend nicht zu Gesicht bekommen, doch für meine Mutter war sein Anblick ein schrecklicher Schock, besonders da sie gerade ein Neugeborenes im Hause hatte; und Oma Siebenlist wurde ohnmächtig, als sie ihn sah. Mein Bruder John war nur wenige Tage vor diesen Ereignissen geboren worden. Meine Mutter jedoch hielt unter all der Belastung sehr gut durch, da sie sich stets die schützende Macht Jehovas vor Augen hielt. ...
Oma und Tante Katie, die Halbschwester meines Vaters, brachten durch ihre Pflege wieder Leben in ihn. Der Teer und die Federn hatten sich in sein Fleisch eingegraben. Sie benutzten daher Gänsefett, um die Wunden zum Heilen zu bringen, und nach und nach löste sich der Teer ab. ... Vater hatte ihre Gesichter nicht sehen können, doch er hatte ihre Stimmen erkannt und wußte, wer seine Angreifer gewesen waren. Er sagte es ihnen nie. Es war sogar schwierig, ihn dazu zu bewegen, überhaupt darüber zu reden. Er hatte diese Narben bis zu seinem Tode.“
„VORSICHTIG WIE SCHLANGEN“
Durch das Verbot des Buches Das vollendete Geheimnis und einiger anderer christlicher Veröffentlichungen sahen sich Jehovas Diener in einer schwierigen Situation. Doch Gott hatte ihnen ein Werk aufgetragen, und sie führten es weiterhin aus, wobei sie sich als „vorsichtig wie Schlangen und doch unschuldig wie Tauben“ erwiesen (Matth. 10:16) Darum wurden Bibelstudienhilfsmittel manchmal an verschiedenen Plätzen versteckt: vielleicht auf einem Dachboden oder in der Kohlenkiste, unter den Bodenbrettern oder in Möbelstücken.
Bruder C. W. Miller erzählt uns folgendes: „Da unser Haus zu jener Zeit das Zentrum der Bibelforscher am Ort war, kamen die Brüder um Mitternacht mit einem Lastwagen angefahren, um die Literatur zu bringen, und wir versteckten die Bücherkartons in einem Hühnergehege, getarnt mit Rhodeländer Hühnern und Laub.“
Bruder D. D. Reusch erinnert sich an ein Vorkommnis aus jenen Tagen und schreibt: „Bei der Familie Reed waren die Bücher hinter dem Haus gestapelt, wo sie außer Sicht waren. Als die Polizei kam, stockte den Brüdern der Atem, als sie sich dem Versteck näherten. Doch gerade dann fiel eine große Schneewehe vom Dach und bedeckte diesen Bereich vollständig.“
‘DURCH VERORDNUNG UNHEIL GESCHMIEDET’
Vor Jahrhunderten stellte der Psalmist die Frage: „Wird der Thron, der Widerwärtigkeiten verursacht, mit dir verbündet sein, während er durch Verordnung Unheil schmiedet?“ (Ps. 94:20). Jehovas Diener gehorchen stets allen Gesetzen der Nationen, die mit den Gesetzen Gottes nicht im Widerspruch stehen. Wenn allerdings ein Konflikt zwischen den Forderungen sterblicher Menschen und den Gesetzen Gottes besteht, ist nichts anderes zu erwarten, als daß Christen den Standpunkt der Apostel einnehmen und „Gott, dem Herrscher, mehr gehorchen als den Menschen“ (Apg. 5:29). Um ihre Tätigkeit zu unterbinden, werden bisweilen gute Gesetze mißbraucht. In anderen Fällen können die Feinde Verordnungen durchbringen, die sich zum Schaden für Gottes Volk auswirken.
Am 15. Juni 1917 verabschiedete der Kongreß der Vereinigten Staaten das Wehrpflichtgesetz. Darin wurde die Aushebung von Kriegspersonal geregelt, doch auch die Freistellung von Männern, die aus Glaubensgründen nicht am Krieg teilnehmen konnten. Viele junge Männer aus dem ganzen Land schrieben an die Watch Tower Society und fragten Richter Rutherford, was sie tun sollten. Später sagte er darüber: „Viele junge Männer im Lande fragten mich, was sie nun tun sollten. Mein Rat, den ich denen gab, die mich darum baten, lief in jedem Fall auf folgendes hinaus: ,Wenn du dich aus Gewissensgründen nicht am Krieg beteiligen kannst, dann gibt dir der Paragraph 3 des Wehrpflichtgesetzes die Möglichkeit, einen Antrag auf Freistellung zu stellen. Du solltest dich erfassen lassen und deinen Antrag auf Freistellung mit Angabe der Gründe einreichen, und dann wird der Musterungsausschuß den Antrag weiterleiten.‘ Ich habe ihnen stets nur geraten, sich das Gesetz des Kongresses zunutze zu machen. Ich habe immer darauf gedrungen, daß jeder Bürger dem Gesetz des Landes gehorchen sollte, solange dieses Gesetz nicht im Widerspruch zu Gottes Gesetz stand.“
Damals, zur Zeit des Ersten Weltkrieges, wurde eine ganz klare Verschwörung gegen Jehovas Diener deutlich sichtbar. In Philadelphia (Pennsylvanien) hielten viele Geistliche 1917 eine Konferenz ab, um diese Verschwörung voranzutreiben. Sie ernannten dort ein Komitee, das in der Landeshauptstadt Washington (D. C.) vorstellig werden und auf eine Änderung des Wehrpflichtgesetzes und des Spionagegesetzes dringen sollte. Das Komitee sprach beim Justizministerium vor. Auf Ersuchen der Geistlichen wurde John Lord O’Brian, ein Beamter des Ministeriums, ausgewählt, einen Zusatz zum Spionagegesetz auszuarbeiten und ihn im Senat der Vereinigten Staaten einzubringen. Dieser Zusatz sah vor, daß alle Vergehen gegen das Spionagegesetz vor Militärgerichten behandelt werden sollten und daß diejenigen, die schuldig gesprochen wurden, mit dem Tode bestraft werden sollten. Dieser Gesetzesantrag wurde jedoch nicht verabschiedet.
Während der Kongreß den Zusatz zum Spionagegesetz behandelte, wurde eine Bestimmung eingebracht, die als „France Amendment“ bekannt wurde. Dieser Gesetzeszusatz sah vor, daß jeder, der „wahrheitsgemäß mit aufrichtigen Beweggründen und mit Absichten, die zu rechtfertigen sind“, Äußerungen macht, nicht unter die Bestimmungen des Gesetzes falle.
Am 4. Mai 1918 jedoch ließ Senator Overman eine Denkschrift des Justizministers in die Kongreßprotokolle (Congressional Record, 4. Mai 1918, Seite 6052, 6053) aufnehmen. Darin wurde auszugsweise festgestellt:
„Die Ansicht des militärischen Geheimdienstes steht völlig im Gegensatz zu dem Zusatz zum Spionagegesetz, der besagt, daß Paragraph 3 Absatz I nicht auf diejenigen angewendet werden soll, die Äußerungen ,wahrheitsgemäß mit aufrichtigen Beweggründen und mit Absichten, die zu rechtfertigen sind‘, machen.
Die Erfahrung lehrt, daß ein solcher Zusatz den Wert des Gesetzes zu einem großen Teil zunichte machen und jeden Prozeß zu einer akademischen Debatte über unlösbare Fragen darüber, was nun eigentlich wahrheitsgemäß sei, machen würde. Die Beweggründe eines Menschen sind zu kompliziert, als daß man sie erörtern könnte, und der Ausdruck ,Absichten, die zu rechtfertigen sind‘ erweist sich im praktischen Gebrauch als zu dehnbar. ...
Eines der gefährlichsten Beispiele dieser Art von Propaganda ist das Buch Das vollendete Geheimnis, welches in einer extrem religiösen Sprache verfaßt wurde und in riesigen Mengen verbreitet wird. Das einzige, was dieses Buch bewirkt, ist, daß es die Soldaten dazu führt, nicht mehr an unsere Sache zu glauben, und daß es in der Heimat eine feindselige Einstellung gegenüber der Einziehung zum Wehrdienst weckt.
Die Herausgeber der Königreichs-Nachrichten in Brooklyn drucken eine Petition, die fordert, daß alle Einschränkungen, die dem Buch Das vollendete Geheimnis und ähnlichen Werken auferlegt wurden, beseitigt werden sollten, ,damit es den Menschen gestattet sei, dieses Hilfsmittel zum Bibelstudium ohne Einmischung oder Belästigung zu kaufen, zu verkaufen, zu besitzen und zu lesen‘. Der Absatz in diesem Gesetzeszusatz würde unsere Kasernen diesem zersetzenden Einfluß wieder zugänglich machen.
Die International Bible Students’ Association gibt vor, rein religiöse Motive zu haben, doch wir haben herausgefunden, daß ihrem Hauptbüro schon seit langem nachgesagt wird, daß dort deutsche Agenten ein- und ausgehen. ...
Dieser Absatz des Änderungsantrages würde die Leistungsfähigkeit Amerikas bedeutend schwächen und niemand als nur dem Feind nützen. Im Krieg zählen Ergebnisse und keine Beweggründe, weshalb das Gesetz und diejenigen, die es ausführen, darum besorgt sein sollten, wünschenswerte Ergebnisse zu erzielen und gefährliche zu vermeiden. Die Beweggründe sollten sie der Barmherzigkeit der Richter oder der Beurteilung durch die Geschichtsforscher überlassen.“
Das Ergebnis dieser Bemühungen des Justizministeriums war, daß das geänderte Spionagegesetz am 16. Mai 1918 ohne den fraglichen Zusatz verabschiedet wurde.
„WIR WISSEN, WIE WIR EUCH FASSEN KÖNNEN UND WIR WERDEN EUCH FASSEN!“
Um diese Zeit herum waren einige junge Männer, die mit den Bibelforschern verbunden waren, zum Militärdienst einberufen worden und als Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen nach Camp Upton auf Long Island (New York) gebracht worden. Das Lager stand unter der Aufsicht von General James Franklin Bell. Er besuchte J. F. Rutherford in seinem Büro und versuchte, ihn zu veranlassen, daß er diesen Männern Anweisung gebe, jeglichen Dienst zu leisten, den Bell ihnen zuteilen würde, sei es in Übersee oder sonstwo. Rutherford weigerte sich, dies zu tun. Der General war beharrlich, und schließlich schrieb Rutherford einen Brief, in dem es im wesentlichen hieß: „Jeder von Euch muß selbst entscheiden, ob er sich am aktiven Militärdienst beteiligt oder nicht. Tut das, was Ihr als Eure Pflicht anseht und was in den Augen des allmächtigen Gottes recht ist.“ Bell war mit diesem Brief ganz und gar nicht zufriedengestellt.
Wenige Tage darauf besuchten J. F. Rutherford und W. E. Van Amburgh General Bell im Camp Upton. Bell erzählte Rutherford in Gegenwart seines Adjutanten und Van Amburghs von der Konferenz der Geistlichen in Philadelphia. Er erwähnte, daß sie John Lord O’Brian ausgewählt hatten, um die Angelegenheit dem Senat vorzulegen, worauf dieser einen Gesetzesantrag eingebracht hatte, nach dem alle Fälle in Verbindung mit dem Spionagegesetz vor Kriegsgerichten verhandelt werden und die Todesstrafe nach sich ziehen sollten. General Bell „zeigte sich ziemlich wütend“, sagte Rutherford, der weiter berichtete: „Vor ihm auf seinem Tisch lag ein Stapel Papiere, auf die er mit seinem Zeigefinger pochte, und in großer Erregung richtete er die Worte an mich: ,Der Gesetzentwurf ist nicht verabschiedet worden, weil Wilson es verhindert hat; aber wir wissen, wie wir euch fassen können, und wir werden euch fassen!‘ Darauf antwortete ich: ,Herr General, Sie wissen, wo Sie mich finden.‘ “
TODESSTOSS FÜR DIE „ZWEI ZEUGEN“
Von Anfang Oktober 1914 an verkündeten die gesalbten Nachfolger Christi, daß die Heidenzeiten geendet hatten und daß die Nationen sich ihrer Vernichtung in Harmagedon näherten (Luk. 21:24; Offb. 16:14-16). Die sinnbildlichen „zwei Zeugen“ verkündeten diese Trauerbotschaft den Nationen 1 260 Tage lang, während dreieinhalb Jahren (4./5. Oktober 1914 bis 26./27. März 1918). Danach führte das einem wilden Tier gleiche politische System des Teufels Krieg gegen Gottes „zwei Zeugen“ und ‘tötete’ sie schließlich, was ihr Werk des Prophezeiens — „mit Sacktuch bekleidet“ — betraf, sehr zur Erleichterung ihrer Feinde unter den Geistlichen, den Politikern, den Militärs und den Richtern (Offb. 11:3-7; 13:1). So lautete die Prophezeiung, und sie erfüllte sich. Doch wie?
Am 7. Mai 1918 gab das US-Bezirksgericht für den östlichen Bezirk der Stadt New York einen Haftbefehl zur Verhaftung einer Anzahl Diener heraus, die in verantwortlichen Stellungen der Watch Tower Society dienten. Dazu gehörten der Präsident J. F. Rutherford, der Sekretär-Kassierer W. E. Van Amburgh, Clayton J. Woodworth und George H. Fisher (die Das vollendete Geheimnis zusammengestellt hatten), F. H. Robison (Mitherausgeber des Wachtturms), A. H. Macmillan, R. J. Martin und Giovanni DeCecca.
Gleich am Tag darauf, am 8. Mai 1918, wurden diejenigen von dieser Gruppe, die im Bethel Brooklyn waren, verhaftet. Innerhalb kurzer Zeit befanden sich alle in Haft. Kurz darauf wurden sie dem Bundesgericht vorgeführt. Richter Garvin hatte den Vorsitz. Sie alle sahen sich einer Anklage gegenüber, die kurz vorher von der Anklagejury fertiggestellt worden war und in der ihnen vorgeworfen wurde:
„(1, 3) Das Vergehen der ungesetzlichen, böswilligen und willentlichen Anstiftung zur Insubordination, Untreue und Verweigerung der Dienstpflicht in den Militär- und Flottenstreitkräften der Vereinigten Staaten von Amerika, und zwar durch persönliche Aufforderungen, Briefe, öffentliche Reden und die öffentliche Verbreitung eines gewissen Buches, betitelt ,Band 7 — Schriftstudien — Das vollendete Geheimnis‘, überall in den Vereinigten Staaten von Amerika und durch die öffentliche Verbreitung gewisser Artikel, die in Druckschriften, betitelt Schriftforscher, Der Wacht-Turm, Königreichs-Nachrichten, und in anderen, nicht genannten Flugschriften erschienen sind, überall in den Vereinigten Staaten.
(2, 4) Das Vergehen der ungesetzlichen, böswilligen und willentlichen Behinderung der Aushebung und Anwerbung von Soldaten durch die Vereinigten Staaten, zu einer Zeit, als die Vereinigten Staaten sich im Kriegszustand befanden.“
Die Anklage stützte sich vor allem auf einen Absatz in dem Buch Das vollendete Geheimnis. Dieser lautete: „Nirgendwo im Neuen Testament wird der Patriotismus (ein engstirniger Haß gegen andere Völker) unterstützt. Stets und überall wird Mord in jeder Form verboten; und dennoch verlangen die Regierungen der Erde unter dem Deckmantel des Patriotismus von friedliebenden Menschen, daß sie sich selbst und ihre Lieben opfern und ihre Mitmenschen hinschlachten, wobei sie dies noch als eine Pflicht preisen, die das Gesetz des Himmels fordert.“
Die Brüder Rutherford, Van Amburgh, Macmillan und Martin sahen sich einer zweiten Anklage gegenüber. Gestützt auf die Behauptung, daß die Beamten der Gesellschaft 500 Dollar an den Leiter des Schweizer Zweiges der Gesellschaft in Zürich gesandt hatten, warf man ihnen vor, sie hätten mit dem Feind Handel getrieben. Die Gerichtsverfahren aller Brüder, die dem Richter vorgeführt worden waren, wurden unter der Bedingung aufgeschoben, daß sie für jede Anklage eine Kaution von 2 500 Dollar leisteten. Sie wurden gegen Kaution freigelassen und erschienen am 15. Mai 1918 vor Gericht. Die Verhandlung wurde auf den 3. Juni 1918 vor dem US-Bezirksgericht für den östlichen Bezirk der Stadt New York festgesetzt. Die Brüder bekannten sich in bezug auf beide Anklageschriften als „nicht schuldig“ und betrachteten sich als völlig unschuldig in bezug auf alle Anklagepunkte.
Weil Richter Garvin bei den ersten Verhören eine sehr gefühlsbetonte Haltung in dem Fall gezeigt hatte, gaben die Verteidiger eidesstattliche Erklärungen ab, in denen sie zeigten, warum sie der Ansicht waren, daß der Richter gegen sie voreingenommen war. Nach einer Weile ließ man den US-Bezirksrichter Harland B. Howe kommen, der bei dem Prozeß den Vorsitz einnehmen sollte. Wie A. H. Macmillan sagte, wußte die Regierung, daß er „ein besonderes Vorurteil zugunsten der Strafverfolgungsbehörden und gegen die Angeklagten hatte, denen vorgeworfen wurde, das Gesetz verletzt zu haben“, wovon sie jedoch nichts wußten. Macmillan sagte auch: „Aber man ließ uns nicht lange im ungewissen. Seine Feindseligkeit zeigte sich von seiner ersten Besprechung an, die er mit den Anwälten vor dem Prozeß in seinem Richterzimmer hatte. Er ließ wissen: ,Die Angeklagten werden von mir das bekommen, was ihnen zusteht.‘ Jetzt war es jedoch zu spät für unsere Anwälte, einen Antrag wegen Befangenheit des Richters zu stellen.“
Macmillan sagte, daß es in der Anklageschrift ursprünglich hieß, die Angeklagten hätten zwischen dem 6. April 1917, als die Vereinigten Staaten den Krieg erklärt hatten, und dem 6. Mai 1918 mit ihrer Verschwörung begonnen. Auf Antrag gab die Regierung an, daß das Datum des angeblichen Vergehens zwischen dem 15. Juni 1917 und dem 6. Mai 1918 gelegen hätte.
VORGÄNGE IM GERICHTSSAAL
Da sich die Vereinigten Staaten im Krieg befanden, zog ein Gerichtsverfahren gegen die Bibelforscher wegen der Anklage der Aufwiegelei große Aufmerksamkeit auf sich. Wie stand die Öffentlichkeit dazu? Sie unterstützte alles, was den Krieg vorantreiben würde. Draußen vor dem Gerichtssaal spielten Kapellen, und auf dem nahe gelegenen Rathausplatz exerzierten Soldaten. Im Gerichtssaal schleppte sich der Prozeß fünfzehn Tage lang hin, wobei ein wahrer Berg von Zeugenaussagen aufgehäuft wurde. Wir wollen einmal hineingehen und den Prozeßablauf verfolgen.
A. H. Macmillan, einer der Angeklagten, vermittelt uns einen Eindruck von der Atmosphäre, denn später schrieb er: „Während des Verfahrens sagte die Regierung, wenn jemand an der Straßenecke stehen und das Vaterunser mit der Absicht aufsagen würde, andere davon abzuhalten, zum Militär zu gehen, dann könne er dafür ins Zuchthaus geschickt werden. Daraus erkennt man, wie einfach man es sich machte, Beweggründe auszulegen. Sie meinten, sie wüßten, was eine andere Person denke, und auf dieser Grundlage ging man gegen uns vor, obwohl wir bezeugten, daß wir uns nie verschworen hatten, irgend etwas zu tun, was gegen den Kriegsdienst gerichtet war, und daß wir niemanden jemals ermutigt hatten, sich dagegenzustellen. Doch es half alles nichts. Ein paar religiöse Führer der Christenheit und ihre politischen Verbündeten waren entschlossen, uns zu fassen. Die Staatsanwaltschaft war mit Richter Howes Zustimmung auf unsere Verurteilung aus und blieb bei der Meinung, daß unsere Beweggründe unwichtig seien; man solle aus unseren Handlungen auf unsere Absichten schließen. Ich wurde allein deshalb schuldig gesprochen, weil ich einen Scheck gegengezeichnet hatte, dessen Zweck man nicht erkennen konnte, und weil ich eine Erklärung unterschrieben hatte, die Bruder Rutherford bei einer Vorstandssitzung vorgelesen hatte. Doch sie konnten noch nicht einmal beweisen, daß es meine Unterschrift war. Diese Ungerechtigkeit machte es uns später in der Berufung leichter.“
Einmal wurde ein ehemaliger Beamter der Gesellschaft als Zeuge vereidigt. Nachdem er sich ein Beweisstück angesehen hatte, das zwei Unterschriften trug, sagte er, daß er eine davon als die von W. E. Van Amburgh wiedererkenne. Die Protokollniederschrift sagt an dieser Stelle:
„Frage: Ich lege Ihnen Beweisstück Nr. 31 zur Identifikation vor und bitte Sie, sich die zwei Unterschriften oder angeblichen Unterschriften von MacMillan und Va[n] Amburgh anzusehen. Ich frage Sie als erstes bezüglich der Unterschrift Van Amburghs, ob dies Ihrer Meinung nach seine Unterschrift ist. Antwort: Ich glaube, ja. Ich erkenne sie wieder.
Frage: Und Mr. MacMillans? Antwort: Mr. MacMillans ist nicht so leicht zu erkennen, aber ich glaube, es ist seine Unterschrift.“
Bruder Macmillan schrieb später, was die Angeklagten zu ihrer Verteidigung vorbrachten:
„Nachdem die Regierung ihre Darlegung beendet hatte, brachten wir unsere Verteidigung vor. Im wesentlichen wiesen wir darauf hin, daß die Gesellschaft durch und durch eine religiöse Organisation ist; daß ihre Mitglieder die Heilige Schrift als Grundlage ihres Glaubens anerkennen, so, wie sie von Charles T. Russell erklärt wurde; daß C. T. Russell während seines Lebens sechs Bände der Schriftstudien geschrieben und veröffentlicht hatte und schon im Jahre 1896 einen siebenten Band versprochen hatte, der Hesekiel und die Offenbarung behandeln würde; daß er kurz vor seinem Tode gesagt hatte, daß jemand anders den siebenten Band schreiben würde; daß kurz nach seinem Tod C. J. Woodworth und George H. Fisher vom Exekutivkomitee der Gesellschaft bevollmächtigt wurden, das Manuskript zu schreiben und zur Begutachtung einzureichen, ohne daß irgendein Versprechen in bezug auf die Veröffentlichung gemacht worden wäre; daß das Manuskript für die Offenbarung fertiggestellt worden war, bevor die Vereinigten Staaten in den Krieg eintraten, und daß alle Manuskripte des gesamten Buches (außer einem Kapitel über den Tempel) bereits in der Druckerei waren, bevor das Spionagegesetz erlassen wurde; daher war es gar nicht möglich, das Gesetz durch eine Verschwörung zu verletzen, wie dies behauptet wurde.
Wir sagten aus, daß wir uns zu keiner Zeit zusammengesetzt, geeinigt oder verschworen hätten, irgend etwas zu tun, was den Kriegsdienst beeinflußt oder die Kriegsbemühungen der Regierung behindert hätte, auch hätten wir niemals daran gedacht, etwas Derartiges zu tun; wir hätten nie die Absicht gehabt, uns irgendwie in den Krieg einzumischen; unser Werk sei gänzlich religiöser und überhaupt nicht politischer Natur; wir würden keine Mitglieder werben und hätten niemals jemandem dazu geraten oder irgend jemanden ermuntert, sich der Einberufung zu widersetzen; die Briefe, die geschrieben worden seien, seien an Personen gerichtet gewesen, von denen wir gewußt hätten, daß sie Gott hingegebene Christen seien, die einen rechtmäßigen Anspruch auf Rat hätten; wir sagten, daß wir nicht dagegen seien, daß das Land in den Krieg ziehe, doch als Gott hingegebene Christen könnten wir uns nicht an fleischlichen Kämpfen beteiligen.“
Aber nicht alles, was während des Prozesses gesagt und getan wurde, war offen und ehrlich. Macmillan berichtete später: „Einige Brüder, die dem Verfahren beigewohnt hatten, erzählten mir später, daß einer der Staatsanwälte auf den Gang hinausgegangen war, wo er sich flüsternd mit einigen von der Oppositionsgruppe innerhalb der Gesellschaft unterhalten hatte. Sie hatten gesagt: ,Laßt den Kerl [Macmillan] nicht laufen; er ist der schlimmste von allen. Wenn ihr ihn nicht mit den andern kriegt, dann wird er alles fortsetzen.‘ “ Man erinnere sich, daß genau zu dieser Zeit ehrgeizige Männer versuchten, die Leitung der Watch Tower Society an sich zu reißen. Es ist daher nicht verwunderlich, daß Rutherford später die Brüder, denen die Obhut des Bethels anvertraut worden war, warnte: „Wir sind benachrichtigt worden, daß sieben Personen, die im vergangenen Jahr der Gesellschaft und ihrem Werke Widerstand entgegengebracht hatten, bei der Verhandlung zugegen waren und unseren Anklägern Hilfe leisteten. Wir warnen Euch, liebe Brüder, vor den schlauen Bemühungen einiger von ihnen, die Euch jetzt umschmeicheln, in der Absicht, sich der Gesellschaft zu bemächtigen.“
Nach dem langen Prozeß kam schließlich der erwartete Tag der Entscheidung. Am 20. Juni 1918, gegen 17 Uhr wurde der Fall den Geschworenen übergeben. Später erinnerte sich J. F. Rutherford: „Die Geschworenen zögerten lange, bevor sie eine Entscheidung fällten. Doch schließlich ließ ihnen Richter Howe sagen, daß ihre Entscheidung ,Schuldig‘ lauten müsse, wie uns dies einer der Geschworenen später selbst sagte.“ Um 21.40 Uhr, nach über viereinhalbstündiger Beratung, kamen die Geschworenen mit ihrer Entscheidung zurück: „Schuldig.“
Das Urteil wurde am 21. Juni gefällt. Der Gerichtssaal war voll. Auf die Frage, ob sie noch irgend etwas zu sagen hätten, reagierten die Angeklagten nicht. Darauf folgte das Urteil Richter Howes. Zornig sagte er: „Die religiöse Propaganda dieser Männer ist gefährlicher als eine Division deutscher Soldaten. Sie haben nicht nur die Tätigkeit des Staatsanwalts und des Geheimdienstes der Armee in Frage gezogen, sondern auch die Geistlichkeit aller Konfessionen öffentlich bloßgestellt. Dafür sollten sie schwer bestraft werden.“
Das wurden sie auch. Sieben der Angeklagten wurden zu achtzig Jahren Zuchthaus verurteilt (je zwanzig Jahre für vier verschiedene Anklagepunkte, die gleichzeitig liefen). Die Verurteilung von Giovanni DeCecca wurde verschoben, doch er erhielt schließlich vierzig Jahre, je zehn Jahre für jeden derselben vier Anklagepunkte. Die Angeklagten sollten ihre Strafe im Bundesgefängnis von Atlanta (Georgia) verbüßen.
Der Prozeß hatte fünfzehn Tage gedauert. Man hatte umfangreiches Zeugnismaterial gesammelt, und das Verfahren war oft ungerecht gewesen. Es wurde später sogar nachgewiesen, daß die Verhandlung mehr als 125 Fehler enthalten hatte. Nur einige wenige brauchten schließlich vor dem Berufungsrichter angeführt zu werden, um zu bewirken, daß das gesamte Verfahren als parteiisch verworfen wurde.
„Ich habe mit den Brüdern die ganze Zeit gelitten, als man sie dieser ungerechten Prüfung unterzog“, erklärt James Gwin Zea, der als Zuschauer dabeigewesen war. Er fährt fort: „Ich sehe immer noch, wie der Richter Bruder Rutherford die Möglichkeit entzog, sich zu verteidigen. ,Vor diesem Gericht gilt die Bibel nicht‘, lautete sein Kommentar. Ich blieb damals über Nacht bei Bruder M. A. Howlett im Bethel, und etwa um 10 Uhr hieß es, daß sie schuldig gesprochen worden seien. Am nächsten Tag wurden sie verurteilt.“
Bruder Rutherford und die Brüder, die bei ihm waren, blieben trotz ihres ungerechten Schuldspruches und der schweren Strafe, die sie erhalten hatten, furchtlos und unerschrocken. Es ist interessant, zu lesen, was die New York Tribune vom 22. Juni 1918 berichtete: „Joseph F. Rutherford und sechs andere ,Russelliten‘, der Übertretung des Spionagegesetzes für schuldig erklärt, wurden gestern durch Richter Howe zu zwanzig Jahren Haft verurteilt, die sie in der Strafanstalt Atlanta verbüßen werden. Mr. Rutherford sagte auf dem Weg vom Gerichtshof zum Gefängnis: ,Dies ist der glücklichste Tag meines Lebens. Eine irdische Strafe für seine Glaubensüberzeugung zu erhalten ist eines der größten Vorrechte, die ein Mensch haben kann.‘ Eine der seltsamsten Kundgebungen, die man je erlebt hat, fand im Gebäude des Brooklyner Bundesgerichts statt, bald nachdem die Gefangenen in den Saal der Anklagejury geführt worden waren. Die Familienangehörigen und die vertrauten Freunde der als schuldig Befundenen stimmten nämlich ein Lied an, so daß das alte Gebäude von den Klängen des Liedes ,Gesegnet Band, das bind’t’ widerhallte. ,Das alles ist Gottes Wille‘, so sagten sie sich gegenseitig mit fast strahlendem Gesicht. ,Der Tag wird kommen, an dem die Welt erkennen wird, was all dies bedeutet. Inzwischen wollen wir dankbar sein für die Gnade Gottes, die uns durch unsere Prüfungen hindurch aufrechterhalten hat, und wir wollen dem großen Tag entgegensehen, der kommen wird.‘ “
Während der Fall in der Berufung schwebte, versuchten die Brüder zweimal, gegen Kaution freizukommen, wurden aber abgewiesen, zuerst von Richter Howe und später von Richter Martin T. Manton. In der Zwischenzeit hielt man sie zuerst im Gefängnis in der Raymond Street in Brooklyn fest, nach A. H. Macmillan „das schmutzigste Loch, in das ich je kam“. Clayton J. Woodworth nannte es scherzhaft das „Hotel de Raymondie“. Nach einer Woche unangenehmen Aufenthalts kamen sie eine weitere Woche in das Stadtgefängnis von Long Island. Am 4. Juli, dem Unabhängigkeitstag der Vereinigten Staaten, brachte man die ungerechterweise verurteilten Männer mit der Bahn zur Strafanstalt in Atlanta (Georgia).
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Vereinigte Staaten von Amerika (Teil 2)Jahrbuch der Zeugen Jehovas 1975
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Vereinigte Staaten von Amerika (Teil 2)
DIE FEINDE JUBELN
Die Einkerkerung dieser christlichen Zeugen Jehovas war ein sinnbildlicher Todesstoß, der ihren Feinden Freude und Erleichterung brachte. Die Worte aus Offenbarung 11:10 hatten sich erfüllt: „Und die, die auf der Erde wohnen, freuen sich über sie und sind froh, und sie werden einander Gaben senden, weil diese zwei Propheten die, die auf der Erde wohnen, quälten.“ Die Feinde der „zwei Zeugen“ unter den Geistlichen, Richtern, Militärs und Politikern haben wirklich ‘einander Gaben gesandt’, indem sie sich gegenseitig zu dem Anteil beglückwünschten, den sie am Besiegen ihrer Peiniger gehabt hatten.
In seinem Buch Preachers Present Arms untersucht Ray H. Abrams den Prozeß gegen J. F. Rutherford und seine Mitangeklagten und bemerkt dazu:
„Eine Untersuchung des ganzen Falles führt zu dem Schluß, daß ursprünglich die Kirchen und die Geistlichen hinter dieser Maßnahme standen, um die Russelliten auszurotten. ...
Als die Herausgeber der Kirchenzeitungen davon erfuhren, daß die Angeklagten zu zwanzig Jahren verurteilt worden waren, jubelten sie praktisch alle, ob klein oder groß, über das Ereignis. Ich konnte nicht ein einziges Wort der Anteilnahme in irgendeinem orthodoxen religiösen Blatt finden. ,Es kann kein Zweifel darüber bestehen‘, schloß Upton Sinclair, daß ,die Verfolgung ... zum Teil daher kam, daß sie sich den Haß der „orthodoxen“ Religionen zugezogen haben‘. Was die Kirchen in ihren gemeinsamen Anstrengungen nicht erreichen konnten, schien jetzt die Regierung für sie erfolgreich getan zu haben — die ewige Vernichtung der ,Propheten des Baals‘.“
OPTIMISMUS TROTZ „BABYLONISCHER GEFANGENSCHAFT“
In den Jahren 607 bis 537 v. u. Z. waren die Juden im alten Babylon in Gefangenschaft. In ähnlicher Weise wurden treue Anbeter Jehovas, die mit seinem heiligen Geist gesalbt worden waren, während der Zeit des Ersten Weltkrieges, von 1914 bis 1918, in eine babylonische Gefangenschaft und ins Exil gebracht. Wie bedrückend dieser Zustand war, wurde den acht treuen Brüdern des Hauptbüros der Gesellschaft besonders bewußt, als sie ins Bundesgefängnis von Atlanta (Georgia) eingesperrt wurden.
Während dieser gesamten Zeit der Schwierigkeiten fiel jedoch nicht eine einzige Ausgabe des Wacht-Turms aus. Ein Herausgeberkomitee, das ernannt worden war, hielt die Zeitschrift in Umlauf. Auch die Einstellung, die die treuen Bibelforscher trotz der Schwierigkeiten jener Tage offenbarten, war beispielhaft. Bruder T. J. Sullivan bemerkte dazu: „Ich hatte das Vorrecht, das Bethel Brooklyn im Spätsommer des Jahres 1918 zu besuchen, während die Brüder eingekerkert waren. Die Brüder, die die Verantwortung für die Arbeit im Bethel hatten, waren in keiner Weise furchtsam oder niedergeschlagen. Es war sogar das Gegenteil der Fall. Sie waren optimistisch und zuversichtlich, daß Jehova letzten Endes seinem Volk den Sieg geben wird. Am Montagmorgen hatte ich das Vorrecht, am Frühstückstisch mit dabeizusein, als die Brüder, die während des Wochenendes auf Reisen gewesen waren, ihren Bericht gaben. So konnte man sich ein gutes Bild von der Lage machen. Die Brüder waren alle zuversichtlich und blickten weiterhin zu Jehova um Leitung auf.“
Interessanterweise rief Bruder Rutherford kurz nach dem Prozeß gegen ihn und die anderen Brüder eines Morgens bei R. H. Barber an und bat ihn, zur Pennsylvania Station zu kommen, wo die Brüder einige Stunden auf den Schnellzug nach Atlanta warteten. Bruder Barber und einige andere eilten zum Bahnhof. Dort sagte Bruder Rutherford, daß, falls die Brüder im Hauptbüro zu sehr von der Polizei belästigt werden sollten, sie das Bethel und das Brooklyn Tabernacle verkaufen und entweder nach Philadelphia, Harrisburg oder Pittsburgh umziehen sollten, da die Watch Tower Society eine in Pennsylvanien eingetragene Gesellschaft war. Als Preisidee wurden 60 000 Dollar für das Bethel und 25 000 Dollar für das Tabernacle vorgeschlagen.
Und wie ging es dann aus? Die Brüder, die damals die Verantwortung für die Gesellschaft hatten, sahen sich tatsächlich vielen Problemen gegenüber. Zum Beispiel herrschte Papier- und Kohlenknappheit. Der Patriotismus schlug hohe Wogen, und viele betrachteten Jehovas christliche Zeugen als Verräter, obwohl dies nicht stimmte. In Brooklyn war man der Gesellschaft gegenüber sehr feindlich eingestellt, und es schien unmöglich, die Arbeit dort fortzusetzen. Daher besprach sich das Exekutivkomitee, das damals im Hauptbüro die Verantwortung trug, mit anderen Brüdern, und man beschloß, daß es das beste sei, das Brooklyn Tabernacle zu verkaufen und das Bethel zu schließen. Man verkaufte schließlich das Tabernacle für 16 000 Dollar, erinnert sich R. H. Barber. Später wurden alle notwendigen Vorbereitungen getroffen, das Bethel an die Regierung zu verkaufen; es mußte nur noch die Übergabe des Geldes stattfinden. Doch etwas kam dazwischen — der Waffenstillstand. So wurde der Verkauf niemals ganz vollzogen.
Am 26. August 1918 hatte jedoch der Umzug des Hauptbüros der Gesellschaft von Brooklyn (New York) nach Pittsburgh (Pennsylvanien) begonnen. „Wenn ich so zurückblicke“, erklärt Hazel Erickson, „kann ich erkennen, daß die Bibelforscher niemals zu predigen aufhörten, obwohl die Inhaftierung der Brüder sie niedergeschmettert hatte. Sie waren vielleicht nur ein wenig vorsichtiger.“ Schwester H. M. S. Dixon erinnert sich, daß „der Glaube der Freunde stark blieb und daß sie die Zusammenkünfte regelmäßig abhielten“. Jehovas christliche Zeugen zeigten weiterhin Glauben an Gott. Es stimmt zwar, daß sie durch die Entbehrungen und die Verfolgung auf eine Feuerprobe gestellt wurden, doch Gottes heiliger Geist war auf ihnen. Wenn sie nur ausharrten, würde der Allmächtige sie sicher vor ihren Verfolgern bewahren und sie aus ihrem Zustand der „babylonischen Gefangenschaft“ befreien.
DIE MONATE IM GEFÄNGNIS
Mitte 1918 waren J. F. Rutherford und die sieben anderen Brüder in der Bundesstrafanstalt von Atlanta (Georgia). Ein Brief, den A. H. Macmillan am 30. August 1918 schrieb, versetzt uns in die Lage, hinter jene Gefängnismauern zu blicken. Die Abschrift, die wir von Melvin P. Sargent erhielten, lautet auszugsweise:
„Sicher möchtet Ihr etwas darüber hören, wie es uns im Gefängnis geht. Ich will Euch kurz etwas über unser Leben hier erzählen. Bruder Woodworth und ich haben zusammen eine Zelle. Unsere Zelle ist sehr sauber, mit viel Licht und Luft. Sie ist ungefähr 3 × 1,8 × 2,1 Meter groß, hat zwei Betten mit Strohmatratzen, zwei Bettlaken, Decken und Kissen, zwei Stühle, einen Tisch und reichlich saubere Handtücher und Seife. Wir haben auch ein kleines Schränkchen, in dem wir unsere Toilettensachen aufbewahren können. ...
Alle Brüder arbeiten zusammen in der Schneiderei. Sie ist gut gelüftet, hat gutes Licht und ist ungefähr 18 × 12 Meter groß. Bruder Woodworth und ich machen Knopflöcher und nähen Knöpfe an Hemden und Gefängnisanzüge. Die Brüder Van Amburgh, Robison, Fisher, Martin und Rutherford fertigen Gefängnisjacken und -hosen an, oder besser gesagt, sie bemühen sich, sie anzufertigen. Insgesamt arbeiten etwa einhundert Männer in dieser Abteilung. Von meinem Arbeitsplatz aus kann ich alle Brüder sehen, und ich sage Euch, es ist interessant, Bruder Van Amburgh an der Nähmaschine zuzusehen, wie er Säume näht, die die linken und rechten Hälften der Hosen miteinander verbinden. ... Bruder Rutherford hat die Hoffnung schon fast aufgegeben, daß er jemals lernen würde, wie man eine Jacke zusammennäht. Ich glaube nicht, daß er bis jetzt eine einzige fertig hat, obwohl er seit etwa drei Wochen daran arbeitet. Wenn ich zu ihm hinübersehe, scheint er beschäftigt zu sein, doch ich glaube, daß er in Wirklichkeit den größten Teil der Zeit versucht, den Faden einzufädeln. [Eine Wache behandelte ihn so flegelhaft, daß einige andere Gefangene die Jacke nahmen und sie fertigstellten. Schließlich wurde Bruder Rutherford an einen Arbeitsplatz versetzt, wo er sich mehr „zu Hause“ fühlte — in die Bücherei.] ...
Wenn wir nach dem Abendessen auf unsere Zellen kommen, lesen wir als erstes die Spätausgaben der Zeitungen. Von sechs bis sieben kann dann jeder, der will, auf irgendeinem Musikinstrument spielen, das er hat. Es herrscht eine solche Verschiedenartigkeit, daß ich glaube, man spielt hier auf jedem Instrument, das es gibt, außer der Maultrommel, und ich habe vor, mir eine zu besorgen, denn das ist das einzige, was ich spielen kann, außer der zehnsaitigen Harfe. Während dieser Musik, die Bruder Woodworth ,Dantes Inferno‘ nennt, spielen wir Domino. Danach lesen wir die Schriftstudien oder die Bibel bis um zehn Uhr, wenn die Lichter ausgemacht werden. Der nächste Tag läuft genauso ab, und so geht es weiter bis zum Samstag. Am Samstagnachmittag gehen alle Insassen hinaus in den Hof. Dort findet ein Baseballspiel statt, das ganz ordentlich ist und an dem die Männer starkes Interesse haben. Ich spiele gewöhnlich den Nachmittag über Tennis. Die anderen Brüder gehen spazieren und unterhalten sich. Die verschiedenen Arten der Gefangenen finden sich in kleinen Gruppen zusammen — Anarchisten, Sozialisten, Banknotenfälscher, Schnapsbrenner, Deutschfreundliche, Bankkassierer, Rechtsanwälte, Apotheker, Ärzte, Bahnräuber, Einbrecher, Prediger (von denen es hier eine ganze Menge gibt) usw., usw., usw. Während des Nachmittags spielt die Gefängniskapelle verschiedene Stücke.“
Die acht eingekerkerten Bibelforscher hatten Gelegenheit, den anderen Insassen die gute Botschaft von Gottes Königreich zu predigen. Alle Gefangenen mußten sonntags morgens dem Gottesdienst beiwohnen, und wer wollte, konnte danach zur Sonntagsschule dableiben. Die acht Brüder bildeten eine eigene Gruppe zum Studium und zur Gemeinschaft. Mit der Zeit schlossen sich ihnen andere Insassen an, und die Brüder wechselten sich im Unterrichten der Gruppe ab. Sogar einige Wärter kamen, um zuzuhören. Das Interesse nahm zu, bis schließlich neunzig Personen anwesend waren.
Die umwandelnde Kraft der Wahrheit Gottes übte eine tiefgreifende Wirkung auf einige der Insassen aus. Einer bemerkte zum Beispiel: „Ich bin zweiundsiebzig Jahre alt, und ich mußte erst hinter Gitter kommen, um die Wahrheit zu hören. Deshalb bin ich so froh, daß ich ins Zuchthaus gekommen bin. Siebenundfünfzig Jahre lang habe ich Geistlichen Fragen gestellt, doch nie konnte ich zufriedenstellende Antworten bekommen. Jede Frage jedoch, die ich diesen Männern [den gefangenen Bibelforschern] gestellt habe, wurde bisher zu meiner Zufriedenheit beantwortet.“
Dann wütete die „spanische Grippe“, und das bedeutete das Ende der Sonntagsschulklassen. Kurz bevor jedoch die acht Bibelforscher aus dem Gefängnis von Atlanta freigelassen wurden, rief man alle Gruppen, denen sie Unterricht gegeben hatten, zusammen, und J. F. Rutherford sprach etwa fünfundvierzig Minuten zu den Versammelten. Einige der Gefängnisbeamten waren dabei, und viele Insassen vergossen Tränen der Freude wegen der Hoffnung auf Befreiung, die durch die Königreichsherrschaft für die Menschheit kommen soll. Bei ihrer Freilassung ließen die Bibelforscher eine kleine Gruppe im Gefängnis zurück, die treu blieb.
AUSDRUCK DER ZUVERSICHT
Am 11. November 1918 wurde der Waffenstillstandsvertrag unterzeichnet. Der Erste Weltkrieg war zu Ende; doch die acht Bibelforscher waren immer noch im Gefängnis. Sie blieben auch dort, während ihre Mitgläubigen in Pittsburgh (Pennsylvanien) vom 2. bis 5. Januar 1919 einen Kongreß abhielten. Dieser Kongreß wurde verbunden mit der sehr bedeutenden Jahresversammlung der Watch Tower Bible and Tract Society am Samstag, dem 4. Januar 1919.
J. F. Rutherford erkannte, daß die Gegner innerhalb der Organisation bei dieser Sitzung der Gesellschaft versuchen würden, ihn und die anderen Beamten der Gesellschaft durch Männer ihrer Wahl zu ersetzen. An jenem Samstag, dem 4. Januar, spielte A. H. Macmillan gerade Tennis im Hof des Gefängnisses. Rutherford ging zu ihm hin, und dann spielte sich nach Aussagen Macmillans folgendes ab:
„Rutherford sagte: ,Mac, ich möchte mit dir reden.‘
,Worüber willst du mit mir reden?‘
,Ich möchte mich mit dir darüber unterhalten, was in Pittsburgh los ist.‘
,Ich möchte lieber erst das Turnier hier zu Ende spielen.‘
,Interessierst du dich denn gar nicht für das, was dort los ist? Weißt du nicht, daß heute die Beamten gewählt werden? Man könnte über dich hinweggehen und dich fallenlassen, und dann bleiben wir hier für immer.‘
‚Bruder Rutherford‘, sagte ich, ,ich will dir etwas sagen, woran du vielleicht noch nicht gedacht hast. Dies ist das erste Mal, seitdem die Gesellschaft gesetzlich eingetragen ist, daß deutlich werden kann, wen Jehova Gott als Präsidenten haben möchte.‘
,Was meinst du damit?’
,Damit meine ich, daß Bruder Russell die Stimmenmehrheit hatte und die verschiedenen Beamten ernannte. Jetzt, da wir scheinbar nichts mehr ausrichten können, ist die Sache anders. Wenn wir jetzt jedoch früh genug herauskämen, um bei dem Kongreß an der Sitzung teilzunehmen, würden wir dort ankommen und Bruder Russells Platz mit derselben Ehre, die er empfing, einnehmen. Dann könnte es so aussehen, als wäre es nicht das Werk Gottes, sondern das eines Menschen.‘
Rutherford schaute nur nachdenklich drein und ging weg.“
Es war ein ereignisreicher Tag in Pittsburgh. „Als die Stunde für die Sitzung herankam, war die Spannung groß“, erinnert sich Mary Hannan. „Wir sahen, daß einige der Gegner anwesend waren, die hofften, ihren Mann ins Amt zu setzen.“
Man verlas einen Brief von Bruder Rutherford an die Zuhörerschaft. Darin sandte er herzliche Grüße an alle und warnte vor Satans hauptsächlichen Waffen: Stolz, Ehrgeiz und Furcht. Da er den Wunsch hatte, sich Jehovas Willen unterzuordnen, schlug er sogar demütig geeignete Männer vor für den Fall, daß andere Beamte der Gesellschaft gewählt werden sollten.
Nachdem die Debatte eine ganze Zeit lang angedauert hatte, ergriff Bruder E. D. Sexton das Wort:
„Ich bin gerade angekommen. Mein Zug hatte wegen der schweren Schneefälle achtundvierzig Stunden Verspätung. Ich habe etwas zu sagen, und mir ist leichter, wenn ich es gleich sage. Liebe Brüder, wie auch die meisten unter euch habe ich mir Gedanken über das Für und Wider bei dieser Wahl gemacht. Ohne unseren eigenen Rechtsanwälten zu nahe zu treten, möchte ich sagen, daß wir auch mit anderen Anwälten Kontakt aufgenommen haben. Ich habe herausgefunden, daß sie den Ärzten sehr ähnlich sind. Sie haben nicht immer dieselben Ansichten. Doch ich nehme an, daß ich jetzt alles genauso wiedergebe, wie sie es mir gesagt haben. Es besteht kein gesetzlicher Hinderungsgrund, unsere Brüder, die jetzt im Süden sind, für Stellungen wiederzuwählen, die ihnen rechtmäßig offenstehen. Ich bin mir keiner negativen Auswirkung bewußt — und daran hat auch mein Gespräch mit den Anwälten nichts geändert —, die eine solche Wahl auf die Lage ihres Falles vor dem Bundesgericht oder in der Öffentlichkeit haben könnte.
Ich glaube, das größte Kompliment, das wir unserem lieben Bruder Rutherford machen können, besteht darin, ihn als Präsidenten der Watch Tower Bible and Tract Society wiederzuwählen. Ich glaube nicht, daß in der Öffentlichkeit Unklarheiten über unseren Standpunkt in dieser Angelegenheit bestehen. Wenn auch unsere Brüder auf irgendeine Weise formell gegen ein Gesetz, dessen Einzelheiten sie nicht verstanden, verstoßen haben mögen, wissen wir doch, daß ihre Beweggründe gut waren; und vor dem allmächtigen Gott haben sie sich weder gegen sein Gesetz noch gegen ein menschliches Gesetz vergangen. Wir können ihnen das größte Vertrauen dadurch bezeugen, daß wir Bruder Rutherford als Präsidenten der Vereinigung wiederwählen.
Ich bin kein Rechtsgelehrter, aber wenn es um die Gesetzlichkeit der Angelegenheit geht, so weiß ich etwas vom Gesetz der Loyalität. Loyalität ist das, was Gott verlangt. Ich kann mir nicht vorstellen, wie wir Bruder Rutherford gegenüber unser Vertrauen noch besser bekunden könnten als durch eine Wahl, bei der wir Bruder Rutherford als Präsidenten wiederwählen.“
Darauf wurden Kandidaten aufgestellt, und die Abstimmung fand statt. J. F. Rutherford wurde zum Präsidenten gewählt, C. A. Wise zum Vizepräsidenten und W. E. Van Amburgh zum Sekretär-Kassierer. Zurückblickend sagt Anna K. Gardner: „Nach dieser Sitzung waren wir alle sehr glücklich, Jehovas sichtbare Leitung für sein Volk wieder zu sehen.“
Doch zurück zur Strafanstalt in Atlanta. Wir schreiben Sonntag, den 5. Januar 1919. J. F. Rutherford klopft an die Wand von Bruder Macmillans Zelle und sagt: „Strecke deine Hand aus.“ Damit überreicht er Macmillan ein Telegramm. Was steht darin? Rutherford wurde zum Präsidenten wiedergewählt. Später an diesem Tage sagt Bruder Rutherford zu A. H. Macmillan: „Ich möchte dir etwas sagen. Gestern hast du etwas geäußert, was mir im Kopf herumgeht. Es dreht sich darum, daß man uns wie Bruder Russell behandelt hätte und wir die Wahl beeinflußt hätten, wären wir in Pittsburgh gewesen, und daß dann der Herr keine Gelegenheit gehabt hätte, zu zeigen, wen er im Amt haben wollte. Ich sage dir, Bruder, wenn ich jemals hier herauskomme, werde ich mit Gottes Hilfe dieser ganzen Menschenverehrung ein Ende bereiten. Noch mehr, ich werde den Dolch der Wahrheit nehmen und das Innere aus dem alten Babylon herausreißen. Man hat uns jetzt zwar eingesperrt, aber wir kommen heraus.“ Rutherford war es Ernst. Von seiner Freilassung bis hin zu seinem Tode Anfang des Jahres 1942 erfüllte er dieses Versprechen, indem er die Schlechtigkeit der falschen Religion bloßstellte.
BEMÜHUNGEN UM FREILASSUNG
Im Februar 1919 begannen einige Zeitungen im ganzen Land eine Aktion, die die Freilassung J. F. Rutherfords und seiner mit ihm eingekerkerten Verbundenen herbeiführen sollte. Die Bibelforscher schrieben Tausende von Briefen an Herausgeber von Zeitungen, Kongreßabgeordnete, Senatoren und Gouverneure, in denen sie darauf drängten, daß etwas für die acht gefangenen Christen getan werde. Viele, die eine solche Bittschrift erhielten, äußerten sich zugunsten der Freilassung und sagten, sie würden etwas tun, um zu helfen.
Ein Brief des Kongreßabgeordneten E. W. Saunders von Virginia lautete beispielsweise: „Ich bin im Besitz Ihres Briefes über die Angelegenheit der Bibelforscher, die sich jetzt in Atlanta in Haft befinden. Ich erlaube mir zu sagen, daß ich die Begnadigung dieser Männer befürworte und daß ich mich mit Freuden einer diesbezüglichen Empfehlung anschließen werde. Es handelt sich hier nicht um Verbrecher im üblichen Sinn des Wortes, auch wenn sie eines formellen Vergehens gegen das Gesetz schuldig gewesen sein mögen. Doch nun ist der Krieg zu Ende, und wir sollten versuchen, ihn so schnell wie möglich hinter uns zu bringen.“ Der Bürgermeister von Saint Louis (Missouri), Henry W. Kiel, schrieb an den Präsidenten der Vereinigten Staaten, Woodrow Wilson: „Gestatten Sie mir bitte, mich den Gesuchen anzuschließen, die Ihnen bereits übermittelt wurden, in denen darum gebeten wurde, daß man die Herren Rutherford et al. von der International Bible Students Association gegen Kaution freiläßt, bis eine endgültige Entscheidung ihres Falles vor höheren Instanzen getroffen wird, und daß, wenn möglich, in ihrem Falle eine Begnadigung gewährt wird.“
Im März 1919 wurden neue Anstrengungen unternommen, um die Freilassung Bruder Rutherfords und seiner Mitarbeiter zu erreichen. Man setzte im ganzen Land eine Petition in Umlauf, und innerhalb kurzer Zeit bekam man 700 000 Unterschriften. Dies war die größte Petition jener Zeit. Doch sie wurde Präsident Wilson oder der Regierung niemals vorgelegt, da vorher bereits Maßnahmen getroffen wurden, die acht Bibelforscher freizulassen. Dessenungeachtet war die Petition ein hervorragendes Zeugnis.
Schwester A. L. Claus sagt über die Arbeit in Verbindung mit dieser Petition: „Die Reaktion der Leute war natürlich unterschiedlich. Manche unterschrieben bereitwillig, und wir konnten ihnen ein Zeugnis geben, während andere eine feindselige Haltung einnahmen und sagten: ,Sollen sie doch dort bleiben und verfaulen.’ Normalerweise hätte man dies als eine erniedrigende Tätigkeit betrachtet, doch wir spürten, daß Jehovas Geist uns leitete; deshalb waren wir alle mit Freude dabei und setzten das Werk bis zum Abschluß fort.“
FREILASSUNG AUS DEM GEFÄNGNIS
Am 2. März 1919 sandte Bundesrichter Harland B. Howe, der das Verfahren geleitet hatte, ein Telegramm an den Justizminister Gregory in Washington (D. C.), in dem er „unverzügliche Strafmilderung“ für die acht gefangengehaltenen Bibelforscher empfahl. Gregory hatte Howe ein Telegramm gesandt, in dem er ihn zu diesem Schritt aufgefordert hatte. Es sieht so aus, als habe man dies getan, weil die eingekerkerten Brüder Berufung eingelegt hatten, und weder der Justizminister noch Howe waren daran interessiert, daß dieser Fall vor höhere Instanzen gezogen wurde. (Die acht Brüder waren nur deshalb im Gefängnis — während ihr Berufungsverfahren schwebte —, weil Howe und später Richter Manton ihnen die Gewährung einer Kaution versagt hatten.) Es ist sehr aufschlußreich zu lesen, was Richter Howe in einem Brief vom 3. März 1919 an den Justizminister schrieb:
„An den Herrn Justizminister
Washington (D. C.)
Sehr geehrter Herr Justizminister!
In Beantwortung Ihres Telegramms vom 1. d. M. habe ich Ihnen an jenem Abend folgendes telegrafiert:
,Empfehle unverzügliche Strafmilderung für Joseph Rutherford, William E. Van Amburgh, Robert J. Martin, Fred H. Robison, George H. Fisher, Clayton J. Woodworth, Giovanni DeCecca, A. Hugh Macmillan. Sie alle waren in derselben Sache beim östlichen Bezirksgericht von New York angeklagt. Meines Erachtens sollte man jetzt großzügig verfahren, da der Krieg vorbei ist. Sie haben durch das Predigen und Veröffentlichen ihrer religiösen Lehren viel Schaden angerichtet.‘
Alle Angeklagten erhielten die schwere Strafe von zwanzig Jahren, außer DeCecca, der zehn Jahre erhielt. Es war vor allem meine Absicht, als Warnung an andere ein Exempel zu statuieren, und ich war der Ansicht, daß der Präsident ihnen nach dem Krieg Erleichterungen geben würde. Wie ich bereits in meinem Telegramm gesagt habe, haben sie viel Schaden angerichtet, und man kann sehr wohl fordern, daß sie nicht zu schnell freigesetzt werden. Da sie jetzt jedoch keinen Schaden mehr anrichten können, bin ich dafür, im Bemessen der Strafe ebenso nachsichtig zu sein, wie ich vorher streng war. Ich glaube, daß die meisten von ihnen, wenn nicht sogar alle, aufrichtig waren, und ich bin nicht dafür, solche Leute inhaftiert zu halten, nachdem sie keine Gelegenheit mehr haben, Schwierigkeiten zu machen. Der Fall wurde noch nicht vor dem Kreisberufungsgericht verhandelt.
Hochachtungsvoll
[gez.] HARLAND B. HOWE
US-Bezirksrichter“
Am 21. März 1919 verfügte Louis D. Brandeis, Richter am Obersten Bundesgericht der Vereinigten Staaten, die Gewährung der Kaution für die acht Brüder im Gefängnis und gab Anweisung, daß ihnen das Recht zu einem Berufungsverfahren am 14. April jenes Jahres gegeben werden sollte. Sie wurden unverzüglich freigelassen und verließen die Strafanstalt von Atlanta am Dienstag, dem 25. März, mit der Bahn. Nach ihrer Ankunft in Brooklyn am 26. März 1919 ließen die Bundesbehörden die Brüder gegen eine Kaution von je 10 000 Dollar bis zur weiteren Verhandlung frei.
GLÜCKLICHE HEIMKEHR
„Die Brüder freuten sich sehr, als sie von ihrer Freilassung hörten, und sie kamen, um sie zu begrüßen“, erinnert sich Louise Paasch und fügt hinzu: „Man bereitete schnell ein großes Festmahl im Bethel Brooklyn vor. Ich kann mich entsinnen, daß mein Vater nach Brooklyn ging, um beim Zurechtmachen der Säle zu helfen und sich mit ihnen zu freuen, als sie die Brüder wieder willkommen heißen konnten.“
Was für eine glückliche Zeit war dies doch! Mabel Haslett schreibt: „Ich kann mich erinnern, daß ich hundert Krapfen gebacken hatte, die den Brüdern anscheinend schmeckten ... Ich sehe immer noch, wie Bruder Rutherford zulangte. Wir werden nie vergessen, wie er und die anderen ihre Erfahrungen erzählten. Ich weiß auch noch, wie Bruder DeCecca, der nicht sehr groß war, sich auf einen Stuhl stellte, damit ihn alle sehen und hören konnten.“ Giusto Battaino sagt darüber: „Es gab Hähnchen, und wir waren so viele, daß wir zum Essen stehen mußten. Wie begeisternd war es dann, den Erfahrungen der Brüder zuzuhören! ... Bruder DeCecca sagte u. a.: ,Brüder, je größer die Schwierigkeiten, desto größer der Segen.‘ Und ich konnte wirklich sehen, wie Jehovas reicher Segen auf seinem Volke ruhte.“
Am 1. April 1919 fand abends im Hotel Chatham in Pittsburgh ein weiteres Festessen für die freigelassenen Brüder statt, das die Belegschaft des Büros der Gesellschaft veranstaltete. T. J. Sullivan bemerkte dazu: „Die Freude, die Jehovas Volk bei der Freilassung unserer Brüder aus dem Bundesgefängnis von Atlanta am Dienstag, dem 25. März 1919, empfand, kannte keine Grenzen. ... Daß sie immer noch Jehova hingegeben waren, zeigte sich darin, daß sie sich sofort daranmachten, dem Volke Gottes überall die Befreiung, die Jehova bewirkt hatte, bekanntzumachen, und zwar geschah dies durch den Kongreß, der 1919 in Cedar Point abgehalten wurde.“
VÖLLIGE REHABILITIERUNG
Am 14. April 1919 sollte die Berufungsverhandlung für die acht Bibelforscher stattfinden. Ihre Verhandlung fand vor dem Zweiten Kreisberufungsgericht des Bundes in New York statt. Am 14. Mai 1919 wurden die Fehlurteile umgestoßen. Den Vorsitz führten die Richter Ward, Rogers und Manton. Richter Ward sagte in der Begründung zur Wiederaufnahme des Verfahrens: „Man verfuhr im Prozeß mit den Angeklagten dieses Falles nicht auf die sachliche, unparteiische Weise, auf die sie ein Anrecht hatten, und aus diesem Grunde wird das Urteil aufgehoben.“
Richter Martin T. Manton schloß sich dieser Meinung nicht an. Der katholische Richter hatte am 1. Juli 1918 Rutherford und seinen Mitangeklagten ohne Angabe eines Grundes die Annahme einer Kaution verweigert, weshalb sie neun Monate lang ungerechterweise eingekerkert waren, während ihr Berufungsverfahren anhängig war. Papst Pius XI. schlug Richter Manton übrigens später zu einem „Ordensritter St. Georgs des Großen“. Doch schließlich wurde Mantons Mißachtung der Gerechtigkeit offenbar. Am 3. Juni 1939 wurde er wegen Mißbrauchs seiner hohen Stellung als Bundesrichter durch Annahme von Bestechungsgeldern in Höhe von 186 000 Dollar für sechs Entscheide zur Höchststrafe von zwei Jahren Gefängnis und zu einer Geldstrafe von 10 000 Dollar verurteilt.
Die Aufhebung der Fehlurteile gegen die acht Bibelforscher am 14. Mai 1919 bedeutete, daß sie frei waren, es sei denn, die Regierung hätte sich entschlossen, die Sache gerichtlich weiterzuverfolgen. Der Krieg war jedoch vorüber, und man wußte, daß es angesichts des wirklichen Tatbestandes unmöglich war, eine Verurteilung zu erreichen. Am 5. Mai 1920 gab daher der Staatsanwalt in Brooklyn vor Gericht öffentlich die Widerrufung der Strafverfolgung bekannt. Die Anklagen wurden wegen Einstellung des Verfahrens fallengelassen. So waren jene acht Christen also von der rechtswidrigen Verurteilung völlig freigesprochen.
Daß die Entscheidung gegen J. F. Rutherford und seine sieben Mitarbeiter aufgehoben wurde und man die Anklagen fallenließ, bedeutete ihre völlige Rehabilitierung. Manchmal wurde Richter Rutherford als „ehemaliger Zuchthäusler“ bezeichnet, doch dies geschah ohne jede Grundlage. Die Gerichtsentscheidung vom 14. Mai 1919 stellte einwandfrei fest, daß er und seine Mitarbeiter aufgrund einer rechtswidrigen Verurteilung eingesperrt worden waren. Daß Bruder Rutherford nicht als „ehemaliger Zuchthäusler“ angesehen wurde, wird entscheidend dadurch bewiesen, daß er später vor dem Obersten Bundesgericht der Vereinigten Staaten als Rechtsanwalt fungieren konnte, was einem Vorbestraften unmöglich gewesen wäre. Im Herbst 1939, zwanzig Jahre nach seiner ungerechten Inhaftierung, hörten sich die neun Richter des Obersten Gerichts die Darlegungen an, die Rutherford im Fall Schneider gegen New Jersey vorbrachte. Das Gericht entschied mit acht zu eins zugunsten von Rutherfords Klientin, Clara Schneider, einer christlichen Zeugin Jehovas.
In den kritischen Jahren 1918 und 1919 sah sich Jehovas Volk großen Schwierigkeiten gegenüber. Doch mit Gottes Hilfe harrte es aus (Röm. 5:3-5). Satan war es durch die verschiedensten Mittel nicht gelungen, die Lobpreiser Gottes zum Schweigen zu bringen. Wie passend war doch der Jahrestext der Bibelforscher für das Jahr 1919, der lautete: „Keiner Waffe, die wider dich gebildet wird, soll es gelingen ... Das ist das Erbteil der Knechte Jehovas“ (Jes. 54:17, Elberfelder Bibel).
EINE NEUE AUFFASSUNG
Nach der problemreichen Zeit von 1917 bis 1919 unterzog sich Jehovas Volk einer Selbstprüfung. Da es erkannte, daß seine Handlungsweise nicht Gottes Billigung hatte, bereute es und bat im Gebet um Vergebung. Daher konnte Jehova ihm vergeben und es segnen (Spr. 28:13).
Einer der Kompromisse war das Herausnehmen der Seiten aus dem Buch Das vollendete Geheimnis, was geschehen war, um die Zensurbehörde zufriedenzustellen. Ein anderer wurde sichtbar, als der Wacht-Turm (engl.) vom 1. Juni 1918 sagte: „In Übereinstimmung mit der Kongreßresolution vom 2. April und der Proklamation des Präsidenten der Vereinigten Staaten vom 11. Mai wird vorgeschlagen, daß das Volk des Herrn den 30. Mai überall zu einem Tag des Gebets und der Fürbitte macht.“ In den weiteren Ausführungen wurden die Vereinigten Staaten gepriesen, was sich mit der christlichen Neutralität nicht vereinbaren ließ (Joh. 15:19; Jak. 4:4).
Während des Ersten Weltkrieges waren unter den Bibelforschern Fragen darüber aufgetaucht, wie sie sich hinsichtlich des Militärdienstes verhalten sollten. Manche weigerten sich, in irgendeiner Form am Krieg teilzunehmen, wohingegen andere sich zum waffenlosen Dienst bereit erklärten. Ebenso war vielen unklar, ob sie Kriegsanleihen und Kriegsmarken kaufen sollten. Wer dies nicht tat, wurde manchmal verfolgt, sogar brutal mißhandelt. Wenn Jehovas Diener heute überlegen, ob sie an einem Vorhaben der Nationen teilnehmen sollen, handeln sie in Übereinstimmung mit biblischen Grundsätzen wie dem, der in Jesaja 2:2-4 zum Ausdruck gebracht wird, in dem es abschließend heißt: „Und sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden müssen und ihre Speere zu Winzermessern. Nation wird nicht gegen Nation das Schwert erheben, auch werden sie den Krieg nicht mehr lernen.“
Zu Beginn der 1920er Jahre hatte Jehovas Volk eine neue Auffassung. Es hatte schwierige Jahre hinter sich, doch die gesalbten Nachfolger Jesu, die symbolischen „zwei Zeugen“, waren wieder geistig am Leben und standen zur Tätigkeit bereit. Doch wie kam es dazu? Was war in den Monaten geschehen, die unmittelbar auf die Freilassung Bruder Rutherfords und seiner sieben Mitarbeiter aus dem Gefängnis folgten?
EIN ERFOLGREICHER TEST
Als Bruder Rutherford aus dem Gefängnis entlassen wurde, bewegte ihn eine wichtige Frage: Wieviel Interesse besteht noch an der Königreichsbotschaft? Er war ein kranker Mann, und es wäre nur vernünftig gewesen, wenn er sich zuallererst um seine Gesundheit gekümmert hätte, doch er mußte unbedingt eine Antwort auf diese wichtige Frage finden.
Während der Monate ihrer Haft im Zuchthaus von Atlanta hatten Bruder Rutherford und Bruder Van Amburgh zusammen eine Zelle, bei der wegen eines Schadens am Ventilator die Frischluftzufuhr nicht funktionierte. Da ihr Körper nicht genügend Sauerstoff bekam, sammelten sich im Organismus Giftstoffe an. Während seiner Haft zog sich Rutherford ein Lungenleiden zu, das er für den Rest seines irdischen Lebens beibehielt. Kurz nach seiner Freilassung erkrankte er an Lungenentzündung. Bruder Rutherford wurde so krank, daß es nicht sicher war, ob er überleben würde. Wegen seines körperlichen Zustandes und auch weil seine Familie dort wohnte, ging er nach Kalifornien.
Um herauszufinden, wieviel Interesse an der Königreichsbotschaft wirklich noch vorhanden war, bereitete Bruder Rutherford eine öffentliche Zusammenkunft für Sonntag, den 4. Mai 1919, in Clune’s Auditorium in Los Angeles vor. In umfassenden Bekanntmachungen in den Zeitungen hatte er versprochen, in seinem Vortrag zu erklären, warum die Beamten der Watch Tower Society rechtswidrig verurteilt worden waren.
Die Geistlichkeit dort war der Meinung, daß es mit den Bibelforschern und der Gesellschaft aus und vorbei sei und daß niemand zu dem angekündigten Vortrag „Die Hoffnung für die bedrängte Menschheit“ erscheinen würde. Sie hatte sich aber geirrt. Es kamen 3 500 Leute, und ungefähr 600 mußten wegen Platzmangels abgewiesen werden. Rutherford versprach, am Montagabend zu ihnen zu sprechen. Obwohl er den ganzen Tag über krank war, sprach er doch zu 1 500 Personen. Er war dann jedoch so erschöpft, daß nach etwa einer Stunde ein Mitarbeiter weitersprechen mußte. Der Test in Los Angeles war trotzdem ein Erfolg. Es bestand ein beträchtliches Interesse an der Königreichsbotschaft.
„WERDEN WIR WIEDER EIN BETHEL HABEN?“
Das war eine weitere wichtige Frage. Das Tabernacle in Brooklyn hatte man verkauft, und obwohl das Bethel immer noch der Gesellschaft gehörte, so war es doch praktisch ohne Inventar. Die Tätigkeit des Hauptbüros war nach Pittsburgh verlegt worden. Dort hatten die Brüder wenig Geld, und die Räumlichkeiten in der Federal Street reichten bei weitem nicht für eine Erweiterung aus. Es gab keine Druckerei, und sogar viele der Druckplatten, von denen die Gesellschaft die Literatur drucken ließ, waren vernichtet worden. Die Aussichten waren düster.
Während J. F. Rutherford in Kalifornien war, geschah jedoch im Hauptbüro der Gesellschaft in Pittsburgh etwas Bemerkenswertes. Eines Morgens kam George Butterfield, ein Christ, der ein beträchtliches Vermögen hatte, in das Büro. A. H. Macmillan sprach mit ihm im Empfangszimmer und teilte ihm mit, daß Bruder Rutherford in Kalifornien sei. Was dann geschah, erzählt Macmillan selbst:
„Er sagte: ,Hast du hier auch ein Privatzimmer?‘
,Wir brauchen nur die Tür zuzumachen, dann ist es privat. Was hast du vor, George?‘
Während ich mit ihm sprach, begann er, sein Hemd auszuziehen. Ich dachte, er sei nicht mehr ganz normal. Er sah etwas schmutzig und vom langen Reisen ermüdet aus, obwohl er sonst ein sauberes und sehr gepflegtes Aussehen hatte. Als er sich bis zu seinem Unterhemd ausgezogen hatte, bat er um ein Messer. Dann trennte er einen kleinen Flicken auf, der darauf gesetzt worden war, und nahm ein Geldbündel heraus. Es waren etwa 10 000 Dollar in Scheinen.
Er legte das Geld hin und sagte: ,Das wird euch für den Anfang reichen. Ich wollte keinen Scheck senden, weil ich nicht wußte, wer hier sein würde. Ich bin nicht im Schlafwagen gefahren, weil ich nicht wollte, daß mir irgend jemand zu nahe kommt und mir das Geld wegnimmt; deshalb bin ich die ganze Nacht aufgeblieben. Ich hatte keine Ahnung, wer die Verantwortung für das Werk hat, aber jetzt sehe ich euch Brüder hier; und euch kenne ich, und euch kann ich vertrauen. Ich bin froh, daß ich hierhergekommen bin!‘ ... Das war eine angenehme Überraschung und ganz bestimmt ein Auftrieb für uns.“
Bei seiner Rückkehr in das Hauptbüro der Gesellschaft in Pittsburgh wies Bruder Rutherford den Vizepräsidenten der Gesellschaft, C. A. Wise, an, nach Brooklyn zu gehen und zu ermitteln, ob man das Bethel wiedereröffnen und Räumlichkeiten für eine Druckerei mieten könne. Ihre Unterhaltung verlief folgendermaßen:
„Geh und stell fest, ob es der Wille des Herrn ist, daß wir nach Brooklyn zurückkehren.“
„Wie soll ich denn feststellen, ob der Herr will, daß wir zurückkehren?“
„Wir mußten 1918 von Brooklyn nach Pittsburgh zurück, weil wir keine Kohlen bekommen konnten. Dann sollen jetzt die Kohlen den Ausschlag geben. Du gehst hin und bestellst Kohlen.“ (Ende des Krieges waren Kohlen in New York immer noch rationiert.)
„Was meinst du, wieviel Tonnen ich bestellen soll, damit wir Bescheid wissen?“
„Wir wollen sichergehen; bestelle fünfhundert Tonnen!“
So geschah es. Als Bruder Wise bei der Behörde seinen Antrag stellte, erhielt er eine Bescheinigung zum Bezug von fünfhundert Tonnen Kohle. Er schickte sofort ein Telegramm an J. F. Rutherford. Mit so viel Kohle würde die Gesellschaft für einige Jahre versorgt sein. Doch wohin damit jetzt? Man machte einen großen Teil des Kellers im Bethel zum Kohlenkeller. Den Erfolg dieses Versuches sah man als ein unmißverständliches Zeichen dafür an, daß es Gottes Wille war, nach Brooklyn umzuziehen. Dies geschah am 1. Oktober 1919.
EIN FREUDIGES TREFFEN
Kurz vor der Wiedereröffnung des Bethels erlebte Jehovas Volk als Ganzes ein besonders freudiges Treffen. Bruder Rutherford entschied sich kurz nach seinen erfolgreichen öffentlichen Vorträgen in Los Angeles im Mai 1919, einen großen Kongreß abzuhalten. Man wählte schließlich Cedar Point (Ohio) als Tagungsort. Der Kongreß vom 1. bis 8. September 1919 erwies sich als von ungewöhnlich großem geistigen Wert.
Es gab etwa dreitausend Hotelbetten in Cedar Point, und die Bibelforscher hatten vereinbart, die Einrichtungen aller Hotels um die Mittagszeit des ersten Kongreßtages, Montag, 1. September, zu übernehmen. Sie waren etwas enttäuscht, als zum Eröffnungsvortrag nur 1 000 Anwesende da waren. Doch es kamen laufend weitere Delegierte an, sowohl in Sonderzügen als auch mit anderen Transportmitteln. Bald gab es lange Schlangen freudig gestimmter Delegierter, die auf ihre Unterkunft warteten. Und wer stand an der Anmeldung und hatte alle Hände mit dem Ausgeben der Zimmerzuteilungen zu tun? Niemand anders als zwei ehemalige Insassen des Zuchthauses von Atlanta, A. H. Macmillan und R. J. Martin! Doch jetzt sieh bitte dort hinüber. Dort erleben Bruder Rutherford und viele andere ihre große Stunde als Hotelpagen. Sie schleppen Koffer und helfen den Delegierten, ihre Zimmer zu finden. Bis nach Mitternacht waren alle vollauf beschäftigt.
Immer mehr glückliche Delegierte strömten herbei. Die Zahl der Anwesenden stieg von etwa 3 000 am Abend des ersten Tages bis auf 6 000 am Freitag an. Zum öffentlichen Vortrag am Sonntag waren etwa 7 000 anwesend. Auf diesem freudigen Kongreß symbolisierten mehr als 200 ihre Hingabe an Gott, indem sie sich im Wasser taufen ließen.
Arden Pate schreibt über den öffentlichen Vortrag „Die Hoffnung für die bedrängte Menschheit“: „Der öffentliche Vortrag wurde im Freien gehalten, und Bruder Rutherford diente als Redner. ... Bei dieser kleinen Anzahl konnte man ihn gut hören.“
DIE RÄTSELHAFTEN BUCHSTABEN „GA“
Kaum waren die Kongreßdelegierten in Cedar Point eingetroffen, als ihnen etwas Besonderes auffiel. Ursula C. Serenco erinnert sich: „Wir entdeckten ein großes Transparent, das hinter dem Rednerpult quer über die ganze Bühne gespannt war und auf dem zwei große Buchstaben standen: ,GA‘. Wir waren die ganze Woche über gespannt und rätselten, was die zwei Anfangsbuchstaben bedeuten könnten. Als Bruder Macmillan auf die Bühne kam, erzählte er den Zuhörern in seiner gewohnten Art, daß auch er die ganze Woche gerätselt habe, was ,GA‘ sein könnte. Er war zu folgendem Schluß gelangt: ,Freunde, ich glaube, es heißt „Guess Again“ [„Ratet noch mal“].‘ Alles lachte.“
Die Delegierten wurden von ihrer quälenden Neugier erst am Freitag, dem 5. September, befreit, dem „Mitarbeiter-Tag“. Stell dir vor, du wärest inmitten dieser glücklichen Zuhörer, während J. F. Rutherford den Vortrag „Das Königreich Gottes ankündigen“ hält. Er kündigt darin die Veröffentlichung einer neuen Zeitschrift an: Das Goldene Zeitalter.
Das Geheimnis war gelüftet. Die Buchstaben „GA“ bedeuteten Golden Age (Goldenes Zeitalter). Nach Bruder Rutherford sprach R. J. Martin und umriß eine neue Tätigkeit, das Aufnehmen von Abonnements für Das Goldene Zeitalter. Diese 32seitige Zeitschrift sollte alle 14 Tage erscheinen und viel religiösen Stoff enthalten, der die Ereignisse der Gegenwart im Lichte der göttlichen Prophetie erklären würde. In der ersten Ausgabe (1. Oktober 1919) war etwas über folgende Themen zu finden: Arbeit und Wirtschaft, Bergbau und Industrie, Finanzen, Handel und Transport, Landwirtschaft und Ackerbau, Wissenschaft und Erfindungen sowie Religion, einschließlich eines biblischen Artikels mit dem Thema „Kann man mit den Toten reden?“
Das Goldene Zeitalter wurde von einem der Brüder herausgegeben, die mit Bruder Rutherford gemeinsam im Gefängnis gewesen waren. Es war Clayton J. Woodworth. C. James Woodworth, sein Sohn, vermittelt uns folgende interessante Einzelheiten: „Wir zogen wieder nach Scranton [Pennsylvanien]. Als dann 1919 Das Goldene Zeitalter als Begleitzeitschrift zum Wacht-Turm herauskam, ernannte die Gesellschaft meinen Vater zu ihrem Herausgeber. Da er viel Zeit persönlich in Brooklyn verbringen mußte, traf die Gesellschaft freundlicherweise die Vorkehrung, daß er zwei Wochen in Brooklyn und zwei Wochen zu Hause arbeiten konnte. So ging es eine ganze Anzahl Jahre lang. Ich kann mich noch gut erinnern, daß die Schreibmaschine meines Vaters oft morgens früh um fünf Uhr klapperte, da er Stoff für Das Goldene Zeitalter schrieb oder bearbeitete und ihn dann mit der Frühpost nach Brooklyn schickte.“
Clayton J. Woodworth diente treu als Herausgeber des Goldenen Zeitalters und auch der Zeitschrift Trost, die als dessen Nachfolger vom 6. Oktober 1937 bis einschließlich 31. Juli 1946 veröffentlicht wurde. Wegen seines fortgeschrittenen Alters wurde er von dieser Arbeit entbunden, als die neue Zeitschrift Erwachet! mit der Ausgabe vom 22. August 1946 Trost ersetzte. Bruder Woodworth diente jedoch Gott weiterhin treu in anderen Aufgaben, bis er am 18. Dezember 1951 im Alter von 81 Jahren starb.
„WIR MACHTEN UNS AN DIE ARBEIT“
Der Kongreß in Cedar Point im Jahre 1919 trug dazu bei, daß Gottes Volk sich des weltweiten Ausmaßes des Predigtwerkes, das noch vor ihm lag, besser bewußt wurde. A. H. Macmillan drückte das so aus: „In uns begann sich der Gedanke zu festigen: ,Wir müssen jetzt etwas tun.‘ Wir wollten nicht mehr herumstehen und darauf warten, in den Himmel zu kommen. Wir machten uns an die Arbeit.“
Und wirklich, Gottes Volk machte sich an die Arbeit. Es wurde etwas unternommen, die wahre Anbetung voranzutreiben. Beispielsweise wurde 1919 das Kolporteurwerk wiederaufgenommen. Im Frühling des Jahres waren 150 Personen in diesem Zweig des Dienstes Gottes tätig, im Herbst bereits 507.
Das Werk der Pilgerbrüder wurde ebenfalls wiederbelebt. Die Zahl der Vollzeitprediger, die als reisende Vertreter der Gesellschaft dienten, stieg auf 86 an. Sie wurden in die Versammlungen ausgesandt, um alle diejenigen zusammenzubringen, die durch die Verfolgung während des Krieges zerstreut worden waren. Durch diesen engen Kontakt mit dem Hauptbüro der irdischen Organisation Jehovas erweckten sie auch neues Interesse. Es wurden wieder Fortschritte im Ausbreiten der Interessen der wahren Anbetung erzielt.
AUF INS FELD!
Die Wacht-Turm-Ausgabe Oktober/November 1919 enthielt den zweiteiligen Artikel „Glückselig sind die Furchtlosen“. Er zeigte in klarer Sprache, daß im Dienst Gottes treues und furchtloses Handeln nötig ist. Gottes Volk reagierte auf diesen Aufruf zur furchtlosen Tätigkeit mit Mut und Begeisterung, und voll Eifer machte es sich an das Werk der Bekanntmachung des Königreiches, das ihm jetzt aufgezeigt worden war. Als Jehovas Gesandte wurden sie wieder geistig lebendig in seinem Dienst. Auf diese Weise erfüllte sich das prophetische Bild der Auferstehung der „zwei Zeugen“ Gottes, das in Offenbarung 11:11, 12 beschrieben wird.
Im Jahre 1920 wurde den Teilnehmern am Zeugniswerk noch stärker bewußt, daß sie eine persönliche Verantwortung trugen zu predigen, da sie von da an wöchentlich über ihre Tätigkeit berichteten. Vor dem Jahre 1918 hatten nur die Kolporteure über ihren Predigtdienst Bericht erstattet. Um die Predigttätigkeit zu erleichtern, wurde den Versammlungen auch ein bestimmtes, abgegrenztes Gebiet zugeteilt. Und was waren die Ergebnisse? 1920 gab es 8 052 „Bibelklassen“-Arbeiter und 350 Kolporteure. Im Jahre 1922 waren von den über 1 200 Versammlungen in den Vereinigten Staaten 980 wieder voll organisiert, um am Predigtwerk teilzunehmen. In diesen Versammlungen waren 8 801 Arbeiter tätig, die biblische Literatur bei Wohnungsinhabern gegen einen Beitrag abgaben.
Als das Werk mit dem Goldenen Zeitalter begann, wurde es folgendermaßen umrissen: „Die Tätigkeit mit dem Goldenen Zeitalter ist eine Werbeaktion von Haus zu Haus mit der Königreichsbotschaft, die dazu dient, den Tag der Rache unseres Gottes zu verkündigen und die Trauernden zu trösten. Außerdem soll in jeder Wohnung ein Exemplar des Goldenen Zeitalters zurückgelassen werden, ob nun ein Abonnement aufgenommen worden ist oder nicht. Die Probeexemplare sind gratis. ... Bibelklassen-Arbeiter erhalten ihre Probeexemplare vom Vorsteher.“ Versammlungen, die an dieser Tätigkeit teilnehmen wollten, ließen sich bei der Watch Tower Society als Dienstorganisation eintragen. Daraufhin ernannte die Gesellschaft in der Ortsversammlung jeweils einen der Brüder zum „Erntewerksvorsteher“. Da er ernannt war, war er keiner jährlichen Wahl durch die Ortsversammlung unterworfen, wie dies damals bei den Ältesten der Fall war.
Nimm einmal an, wir würden uns jetzt kurz der Tätigkeit mit dem Goldenen Zeitalter anschließen. Elva Fischer erzählt uns darüber folgendes: „Wir bekamen unsere erste Lieferung der neuen Zeitschrift Das Goldene Zeitalter im Jahre 1919. ... Damals hatte noch keiner von uns ein Auto, weshalb mein Mann und Audie Bradshaw, sein leiblicher Bruder, unseren kleinen einsitzigen Pferdewagen mit den Zeitschriften beluden und dann loszogen, die gute Botschaft mit Pferd und Wagen zu verkündigen. Da wir einen Bauernhof hatten, blieb meine Schwägerin zu Hause, um das Vieh zu versorgen und sich um die Kinder zu kümmern. Zwei volle Tage lang verbreiteten die Männer die Zeitschriften, denn sie sollten ein Goldenes Zeitalter in jedem Haus zurücklassen. Wir alle freuten uns sehr über diese Gelegenheit, einen Anteil am Predigtwerk zu haben.“
„Man rief Freiwillige auf, die Abonnements auf die Zeitschrift aufnehmen sollten“, berichtet Fred Anderson und fügt hinzu: „Ich meldete mich und hatte zum ersten Mal wirklich die Freude, ein tätiges Zeugnis zu geben. Ich habe seither viele Abonnements aufgenommen und Hunderte von Exemplaren der Zeitschrift, die jetzt Erwachet! heißt, abgegeben. Sie hat sich als ein schlagkräftiges Hilfsmittel erwiesen, die Menschen in bezug auf die kritischen Zeiten aufzuwecken, und hat ihnen die wunderbare Hoffnung auf Leben und Frieden auf einer gereinigten Erde gegeben.“
DAS „ZG“-WERK
Am 21. Juni 1920 wurde eine Zeitschriftenausgabe des Buches Das vollendete Geheimnis zur Verbreitung freigegeben. Sie wurde allgemein „ZG“ genannt. („Z“ bedeutete Zion’s Watch Tower, der ursprüngliche Name des Wacht-Turms, und „G“ als siebenter Buchstabe des Alphabets bedeutete den siebenten Band der Schriftstudien.) Man hatte diese Sonderausgabe des Wacht-Turms (engl.) vom 1. März 1918 während des Verbotes gelagert und konnte sie jetzt für 20 Cent pro Exemplar an die Öffentlichkeit abgeben.
Beulah E. Covey erinnert sich an ihre Tätigkeit mit dem „ZG“ und sagt: „Es war ein ganzseitiges Bild darin, das das Innere einer Kirche zeigte, in der ... zwei Prediger zwischen den Bänken entlanggingen, wobei sie in der einen Hand ein Gewehr und in der anderen den Kollektenteller hatten. Um das ,ZG‘ abzugeben, brauchten wir nur dieses Bild zu zeigen, und gewöhnlich gaben wir vierzig oder fünfzig davon pro Tag ab.“
Die Tätigkeit mit dieser Zeitschriftenausgabe des Buches Das vollendete Geheimnis brachte gute Ergebnisse. Annie Poggensee schreibt beispielsweise: „Ich sprach bei einer Dame vor, die das ,ZG‘ nahm und dann die Tür zumachte. Ich ahnte damals nicht, was für Ergebnisse das Abgeben dieser Wacht-Turm-Sonderausgabe haben würde. Einige Wochen darauf wurde ein Handzettel an ihrer Tür zurückgelassen. Sie erkannte, daß er aus derselben Quelle stammte, und so besuchte sie den Vortrag, der darauf angekündigt wurde. Sie kam auch weiterhin zu den Zusammenkünften, und schließlich kamen auch ihr Ehemann und ihre beiden Töchter. Bald war die ganze Familie Andreson in der Wahrheit.“
„GA“ NR. 27
Dann erschien die Nr. 27 des Goldenen Zeitalters (engl.). „Das war die Ausgabe vom 29. September 1920. Sie enthielt einen genauen Bericht über die Verfolgung und Mißhandlung der Brüder und Schwestern während der Zeit des Widerstandes“, schreibt Roy E. Hendrix, der an der Verbreitung dieser Nummer teilgenommen hat. Amelia und Elizabeth Losch fügen folgendes hinzu: „Darin wurde die gottlose Verfolgung bloßgestellt, die die Geistlichen der Christenheit und ihre politischen und militärischen Verbündeten während des Ersten Weltkrieges über die Internationalen Bibelforscher gebracht hatten. ... In der Versammlung waren neun, die sich weigerten, an diesem Werk teilzunehmen, und eine Petition dagegen unterschrieben. Sie glaubten nicht an den ,treuen und verständigen Sklaven‘. Daher verbreiteten wir zusammen mit drei anderen, die im Glauben festblieben, in nur zwei Wochen 25 000 Exemplare. Am Ende des Feldzuges waren wir müde, doch wir waren glücklich, da wir wußten, daß wir treu im Lichte des Wortes Gottes wandelten.“
Diese Ausgabe hatte eine Auflage von vier Millionen Exemplaren, die teils verschenkt, teils gegen einen freiwilligen Beitrag von 10 Cent pro Exemplar abgegeben wurden. Die Verbreitung geschah hauptsächlich von Haus zu Haus.
DAS WERK IM AUSLAND
Es entstand eine immer größere Nachfrage nach biblischer Literatur. Das traf beispielsweise auf Kanada zu, wo die Zensurbeschränkungen, die über die Watch-Tower-Literatur verhängt worden waren, am 1. Januar 1920 aufgehoben wurden. In jenem Land schien die Verfolgung das Volk Gottes zu größerem Eifer im Predigen und Unterstützen der wahren Anbetung angeregt zu haben.
Am 12. August 1920 begaben sich J. F. Rutherford und eine kleine Gruppe von Mitarbeitern auf eine Reise nach Europa. Sie hielten Kongresse in London, Glasgow und anderen britischen Städten ab. Zusammen mit einigen anderen bereiste Rutherford Ägypten und Palästina. Sie besuchten verschiedene Büros und Bibelklassen und stärkten sie geistig. In Ram Allah wurde ein Zweigbüro der Gesellschaft gegründet. Bruder Rutherford ließ in seinem Jahresbericht wissen, daß die Gesellschaft im Begriff war, ein zentraleuropäisches Büro einzurichten, das das Predigtwerk in der Schweiz, in Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Deutschland, Österreich und Italien beaufsichtigen sollte.
DER „MILLIONEN“-FELDZUG
Zu jener Zeit trug auch ein neuer Predigtfeldzug zum Werk des Jüngermachens bei: der „Millionen“-Feldzug. Dazu gehörte die Verbreitung des 128seitigen Buches Millionen jetzt Lebender werden nie sterben!, das an die Öffentlichkeit gegen einen Beitrag von 25 Cent pro Exemplar abgegeben wurde. Man setzte das Buch in Verbindung mit einem Programm von öffentlichen Vorträgen ein, das am 25. September 1920 begann und dessen Mittelpunkt ein Vortrag bildete, den J. F. Rutherford am 24. Februar 1918 in Los Angeles gehalten hatte (ursprünglicher Titel: „Die Welt ist am Ende — Millionen jetzt Lebender mögen nie sterben!“) und der 1920 in dem neuen Buch veröffentlicht worden war.
Zurückblickend sagt Lester L. Roper: „Dann war ich an der Reihe, den Vortrag zu halten über das Thema ,Erhebet ein Panier über die Völker — Millionen jetzt Lebender werden nie sterben!‘ Ich war ja gewohnt, vor Publikum zu sprechen, doch das war etwas anderes. Mir war, als könnte ich jeden Augenblick im Fußboden versinken. Ich glaube, man brauchte allerhand innere Festigkeit, den Leuten zu sagen: ,Millionen jetzt Lebender werden nie sterben‘, wo doch damals erst sehr wenige auf der ganzen Erde in der Wahrheit waren!“
Millionen jetzt Lebender werden nie sterben! wurde später übersetzt und in verschiedenen Sprachen veröffentlicht. Im Gegensatz zum „pastoralen Werk“, bei dem die Bücher ausgeliehen wurden, händigte man die „Millionen“-Bücher gegen einen Beitrag aus, und Interessierte konnten später die Bände der Schriftstudien erhalten. Der „Millionen“-Feldzug dauerte eine ganze Zeit lang an; dadurch wurde ein großes Zeugnis gegeben. Um den Vortrag in der Öffentlichkeit bekanntzumachen, setzte man Annoncen in die Zeitung und verwendete große Plakate, auf denen stand: „Millionen jetzt Lebender werden nie sterben!“ Dieser Feldzug nahm derartige Ausmaße an, daß man sich dieses Schlagwortes noch heute erinnert.
Über die Auswirkungen des „Millionen“-Feldzuges schreibt Rufus Chappell: „Wir boten das Buch Millionen jetzt Lebender werden nie sterben! in und um Zion [Illinois] an und erzielten dabei bemerkenswerte Ergebnisse. Ich kann mich an eine große Leuchtreklame über dem Gebäude der Färberei und Reinigung Waukegan erinnern — acht Kilometer von Zion entfernt, an der Landstraße nach North Sheridan —, die lautete: ,We Dye for the Millions Now Living Who Will Never Die‘ [,Wir färben für die Millionen jetzt Lebender, die nie sterben werden‘]. Damals sprach man viel über dieses Thema, und viele Leute, die den Satz anzweifelten, lernten die Wahrheit durch dieses Buch kennen.“
EIN NEUES BUCH KURBELT DEN FORTSCHRITT AN
Die Bibelforscher hatten die Bände der Schriftstudien Jahre hindurch gelesen und überall verbreitet. Doch 1921 wurde ein neues, von J. F. Rutherford verfaßtes Buch veröffentlicht: Die Harfe Gottes. Es erreichte schließlich eine Auflage von 5 819 037 Exemplaren in 22 Sprachen. „Als Die Harfe Gottes herauskam, war dies wahrhaftig ein Segen. Unsere Gebete waren beantwortet worden“, sagt Carrie Green. Er fährt fort: „Es machte die Wahrheit einfacher; die verschiedenen Teilgebiete der vollständigen Wahrheit wurden alle durch die ,Saiten einer Harfe‘ veranschaulicht.“
In dieser Veröffentlichung wurde das Vorhaben Jehovas als „die zehn Saiten der Harfe Gottes, der Bibel“, erläutert. Die „zehn Saiten“ oder Überschriften des Buches waren: „Die Schöpfung“, „Gerechtigkeit geoffenbart“, Die Abrahamische Verheißung“, „Die Geburt Jesu“, „Das Lösegeld“, „Auferstehung“, „Geheimnis enthüllt“, „Unseres Herrn Wiederkunft“, „Verherrlichung der Kirche“ und „Wiederherstellung“. Da es ein Buch für Anfänger war, enthielt es Fragen zum Selbst- und auch Gruppenstudium. Bei ihrer Tätigkeit von Haus zu Haus boten die Bibelforscher diese Veröffentlichung zusammen mit einem vollständigen Fernkursus an. Der Kursus bestand aus zwölf Fragebogen in Kartenform. Diese wurden mit der Post versandt, jede Woche eine Karte. So kam es vor, daß eine Durchschnittsversammlung in Verbindung mit diesem Kursus jede Woche 400 bis 500 Karten verschicken mußte. Dieses Werk wurde mehrere Jahre lang fortgesetzt und erwies sich als äußerst nützlich. Hazel Burford erzählt: „Wir führten auch Studien in den Wohnungen der Interessierten durch, so ähnlich, wie wir es heute im Heimbibelstudienwerk tun, außer daß eine ganze Gruppe von Verkündigern dabei war, so wie bei unserem Versammlungsbuchstudium.“
GEBÄUDE ZUR FÖRDERUNG DES PREDIGTWERKES
Die Watch Tower Society wollte in dem Jahr nach dem Ersten Weltkrieg eine große Rotationspresse kaufen, um selbst einen Teil der Druckaufträge erledigen zu können. Damals gab es nur wenige davon im Lande, und sie alle waren in Betrieb. Es sah so aus, als ob für viele Monate keine Möglichkeit bestände, eine solche Maschine zu bekommen. Doch Jehovas Hand ist nicht zu kurz, und im Jahre 1920 nahmen Mitarbeiter des Hauptbüros eine große Rotationspresse in Betrieb. Sie wurde liebevoll das „alte Schlachtschiff“ genannt, und im Laufe der Jahre stellte sie Millionen von Zeitschriften, Broschüren und anderen Veröffentlichungen her.
Nach dem Kauf des „alten Schlachtschiffes“ mietete die Gesellschaft Fabrikräume in der Myrtle Avenue 35 in Brooklyn. Nachdem W. L. Pelle und W. W. Kessler am 22. Januar 1920 im Bethel eingetroffen waren, teilte man sie zur Arbeit in diesem Gebäude ein. Bruder Pelle berichtet uns: „Zuerst mußten wir die Wände im Erdgeschoß des Gebäudes in der Myrtle Avenue 35 waschen. Das war die schmutzigste Arbeit, die ich je getan hatte, doch hier war es anders. Wir waren glücklich. Es war das Werk des Herrn, und dafür lohnte es sich. Wir brauchten etwa drei Tage, um alles sauber zu bekommen, und dann konnte die Versandabteilung eingerichtet werden. Unten, im Keller, wurde die Rotationspresse (das ,Schlachtschiff‘) zusammengesetzt, und oben, im ersten Obergeschoß, wurden die Flachpresse sowie die Maschinen zum Falzen und Heften einsatzbereit gemacht.“
Bald lief alles. Bruder Pelle fährt fort: „An der Flachpresse arbeiteten zwei Brüder, die erfahrene Maschinisten und Drucker waren. Bruder Kessler bediente die Falzmaschine und ich die Heftmaschine. Dann kam der aufregende Augenblick, als das allererste Exemplar des Wacht-Turms (Ausgabe vom 1. Februar 1920) auf unserer eigenen Presse gedruckt wurde. Wir waren damals sehr glücklich. Es dauerte nicht lange, und die ,Schlachtschiff-Presse‘ im Keller druckte Nr. 27 des Goldenen Zeitalters. Der Anfang war zwar klein, doch seither ist die Druckerei ständig gewachsen!
Das Predigtwerk befand sich im Vormarsch. Im Jahre 1922 bestand ein erheblich größerer Bedarf an Literatur. Daher verlegte die Gesellschaft ihre Druckerei am 1. März 1922 in ein sechsstöckiges Gebäude an der Concord Street 18 in Brooklyn. Zu Anfang nahm sie vier Stockwerke ein, später alle sechs. Dort druckte die Gesellschaft zum ersten Mal gebundene Bücher. Das Gebäude in der Myrtle Avenue wurde als Lager für Papier und Bücher verwendet.
Der Transport des „alten Schlachtschiffes“ von der Myrtle Avenue zur Concord Street erwies sich als ein beträchtliches Problem. Lloyd Burtch erzählte einmal, wie man es schaffte:
„Am 1. März 1922 verlegten wir unsere Druckerei von der Myrtle Avenue in die erweiterten Räumlichkeiten an der Concord Street 18 in Brooklyn. Den größten Teil der schweren Ausrüstung transportierten wir mit einem kleinen Lastwagen. Als jedoch die großen Zylinder der ,Schlachtschiff‘-Druckpresse an die Reihe kamen, sahen wir, daß sie für den Lastwagen zu schwer waren. Wir wußten nicht mehr weiter. Keiner wußte, wie wir sie in die neue Fabrik hinüberbekommen würden, doch als wir am nächsten Morgen aufwachten, war unser Problem gelöst.
Während der Nacht waren unerwartet fünf Zentimeter Schnee gefallen, und das löste unser Problem. Wir bauten eine Art Schlitten und rollten die Zylinder darauf. Dann spannten wir den Lastwagen vor den Schlitten und zogen ihn an Ort und Stelle, wobei der Schlitten mit Leichtigkeit über den Schnee glitt. In der Concord Street ließen wir dann die Zylinder durch das Kellerfenster hinab. Noch Jahre danach machte es R. J. Martin, dem Leiter des Betriebes, Freude, den Brüdern auf Kongressen von diesem unerwarteten Schneefall zu erzählen, der unser Umzugsproblem löste.“
Bald darauf rollte das „alte Schlachtschiff“ wieder an, diesmal in der Fabrik in der Concord Street. Das alte Haus wackelte so sehr, daß Martin zu sagen pflegte: „Die Engel halten dieses Gebäude zusammen.“
NUR MIT DER HILFE JEHOVAS
„Daß jemand mit nur wenig oder gar keiner Erfahrung mit Erfolg Bücher und Bibeln auf Rotationspressen drucken konnte, ist ein Beweis dafür, daß Jehova sein Werk beaufsichtigt und es durch seinen Geist leitet“, bemerkt Charles J. Fekel. Er ist schon seit 1921 im Bethel. Bruder Fekel hat die Entwicklungen im Hauptbüro der Gesellschaft während eines halben Jahrhunderts miterlebt und versichert uns: „Für alle Aufgaben fand sich stets jemand, so daß wir nichts zweimal oder umsonst zu tun brauchten. Große Vorhaben, die lange vorher geplant waren, wurden trotz des Widerstandes Satans rechtzeitig fertig.“
Als die Gesellschaft damals, im Jahre 1922, ihre Fabrik in die Concord Street 18 in Brooklyn verlegte, kaufte sie eine vollständige Setzerei, Galvanisiereinrichtung, Druckerei und Buchbinderei, das meiste davon neu. Der Präsident einer der großen Druckereien, die viel für die Gesellschaft gedruckt hatten, sah die Ausrüstung und sagte: „Da haben Sie nun eine erstklassige Druckerei und keinen in dem ganzen Ding, der weiß, wie man mit so was umgeht. Sechs Monate und das Ganze ist ein Haufen altes Eisen; dann werden Sie sehen, daß es doch am besten ist, wenn diejenigen für Sie drucken, die es schon immer getan haben und die sich damit auskennen.“
Es stimmt, daß es äußerst schwierige Probleme gab. Doch mit der Hilfe Gottes machten die Brüder wunderbare Fortschritte. Man beachte folgendes Beispiel: Vor einigen Jahren brauchte ein Fachmann aus Deutschland mit mehreren Gehilfen zwei Monate, um eine große Druckpresse aufzustellen, die die Gesellschaft gekauft hatte. Zwei Jahre später baute ein Bruder aus dem Bethel mit seinen Gehilfen eine Presse von derselben Größe und Art in nur drei Wochen auf.
Die Brüder im Hauptbüro der Gesellschaft strengten sich an. Sie lernten hinzu, und es dauerte nicht lange, bis sie Bücher von guter Qualität herstellten. Zuerst konnten sie nur 2 000 pro Tag binden, doch im Jahre 1927 stellten sie jeden Tag 10 000 bis 12 000 Bücher her.
ZURÜCK NACH CEDAR POINT
Kurz nachdem die Gesellschaft die Arbeit in ihrer Fabrik in der Concord Street in Brooklyn (New York) aufgenommen hatte, versammelte sich Gottes Volk vom 5. bis 13. September 1922 zu einem internationalen Kongreß. Und wo? In Cedar Point (Ohio), wo schon im Jahre 1919 die Hauptversammlung der Bibelforscher abgehalten worden war. Inzwischen war die Organisation gewachsen. Zum Kongreß im Jahre 1922 kamen Delegierte aus den Vereinigten Staaten, Kanada und Europa. Täglich waren durchschnittlich 10 000 Personen anwesend, am Sonntag waren es zwischen 18 000 und 20 000. Es wurden 361 Personen getauft. Das Programm wurde zugleich in Englisch und in verschiedenen anderen Sprachen abgehalten; manchmal fanden elf verschiedene Zusammenkünfte zur selben Zeit statt.
Stell dir vor, du wärest in Cedar Point auf dem Kongreß, der geistige Stärkung brachte. Beachte die großen Transparente, die in Holz gearbeiteten kleinen Schilder an den Bäumen und die weißen Plakate an den Stützpfosten und anderswo. Auf allen stehen die Buchstaben „A D V“. Was bedeuten sie? Manche meinen, sie bedeuteten „After Death Victory“ (Nach dem Tod der Sieg), da der gesalbte Überrest immer noch sehr darum besorgt ist, in den Himmel zu kommen. Andere sind der Ansicht, diese Buchstaben würden „Advise the Devil to Vacate“ (Sagt dem Teufel, er soll gehen) bedeuten.
Die Spannung dauerte bis Freitag, den 8. September, der als „Der Tag“ bezeichnet wurde, als Richter Rutherford über das Thema „Das Königreich“ sprach. T. J. Sullivan bemerkte darüber: „Wer bei dieser Zusammenkunft damals mit dabeisein durfte, sieht immer noch Bruder Rutherford vor sich, wie er den paar Unruhigen, die wegen der großen Hitze umherliefen, eindringlich sagte, sich ,HINZUSETZEN‘ und der Ansprache auf jeden Fall ,ZUZUHÖREN‘.“ Bruder Rutherford sprach u. a. über das Ende der Heidenzeiten im Jahre 1914 und zitierte die gotteslästerliche Erklärung des Generalrates der Kirchen Christi, in der der Völkerbund als der „politische Ausdruck des Königreiches Gottes auf Erden“ willkommen geheißen wurde. Stelle dir vor, du säßest in der Zuhörerschaft, während Rutherford sich dem dramatischen Abschluß seines Vortrages nähert. Während du gespannt zuhörst, sagt er:
„... Seit 1914 hat der König der Herrlichkeit seine Macht an sich genommen und herrscht. Er hat die Lippen der Tempelklasse geläutert und sendet sie hinaus mit der Botschaft. Die Wichtigkeit der Botschaft des Königreiches kann nicht stark genug hervorgehoben werden. Es ist die Botschaft aller Botschaften. Es ist die Botschaft des Tages, ja die Botschaft der Stunde. Es ist die Pflicht derer, welche des Herrn sind, sie in alle Welt hinauszurufen. Das Königreich des Himmels ist nahe gekommen; der König regiert; Satans Reich bricht zusammen; Millionen jetzt Lebender werden nie sterben.
Glaubt ihr es? ...
Dann zurück in das Feld, o ihr Söhne des höchsten Gottes! Umgürtet euch mit eurer Waffenrüstung! Seid nüchtern, seid wachsam, seid tätig, seid tapfer! Seid treue und glaubensstarke Zeugen für den Herrn! Geht mutig vorwärts in dem Kampfe, bis jede Spur Babylons wüst und öde gemacht ist! Verkündet die Botschaft weit und breit! Die Welt muß es wissen, daß Jehova Gott ist und daß Jesus Christus König der Könige und Herr der Herren ist! Dies ist der Tag aller Tage. Siehe, der König regiert! Ihr seid seine öffentlichen Verkündiger, um seine Botschaft überallhin bekanntzumachen. Deshalb verkündet, verkündet, verkündet den König und sein Königreich.“
Genau in diesem Augenblick wurde ein dreifarbiges Transparent von zwölf Meter Länge über der Rednertribüne entrollt. Es zeigte in der Mitte ein großes Bild Christi und außerdem die Worte „Advertise the King and Kingdom“ („Verkündet den König und das Königreich“). Nun wußte man es. Die rätselhaften Buchstaben „A D V“ bedeuteten „ADVERTISE“ (verkündet). Was sollte verkündet werden? Das war doch klar: „Verkündet den König und das Königreich“! „Man kann sich die Begeisterung vorstellen“, ruft George D. Gangas aus, „die Freude und die Aufregung, die die Brüder empfanden. So etwas hatten sie in ihrem ganzen Leben noch nicht erlebt. ... Es war etwas, was sich meinem Herzen und meinem Sinn unauslöschlich einprägte, was ich mein ganzes Leben lang nicht vergessen werde.“ C. James Woodworth, der damals als sechzehnjähriger Junge im Kongreßorchester saß, erinnert sich: „Das war ein dramatischer Augenblick. Und wie die Zuhörer klatschten! Der alte Bruder Pfannebecker schwenkte seine Geige über dem Kopf hin und her und rief mir zu: ,Ach ja! Und nau wi du it, no?‘ “
ZUM VERKÜNDIGEN DES KÖNIGREICHES ANGEREGT
Und so geschah es. Seither haben Gottes Diener nie aufgehört, mutig den König und das Königreich zu verkünden. Bei ihrer Abfahrt von Cedar Point waren die Bibelforscher glühend im Geiste, sie brannten vor Begeisterung für das Predigtwerk, das vor ihnen lag. „Man kann mit Worten nicht beschreiben, wie wir spürten, daß es vorwärtsging; wir wollten heim und verkündigen“, erzählt Ora Hetzel. Schwester J. W. Bennecoff sagt noch: „Wir waren wachgerüttelt worden durch die Worte: ,Verkündet, verkündet, verkündet den König und das Königreich‘, und das wollten wir mit größerem Eifer und mehr Liebe in unserem Herzen als je zuvor tun.“
Sogar schon vor ihrer Abfahrt von Cedar Point erhielten die Kongreßteilnehmer eine Gelegenheit, das Königreich zu verkünden. Montag, der 11. September 1922, war der „Tag des Dienstes“. Mehrere hundert Autos mit jeweils fünf oder mehr Insassen waren im Einsatz; alle waren gut mit biblischer Literatur versorgt und standen bereit, den König und das Königreich im Predigtdienst zu verkünden. „Meine Karte mit ,Arbeitsanweisungen‘ trug die Nr. 144“, sagt Dwight T. Kenyon. „Darauf stand: ,Die Autos stellen sich pünktlich um 6.30 Uhr morgens an der Seepromenade (in Cedar Point) auf, und zwar in der Reihenfolge ihrer Nummer auf dem Kühler. Dein Auto hat Nr. 215, du bist Arbeiter Nr. 5 ...‘ Insgesamt waren wir sieben Personen im Wagen. Wir fuhren mit einem Wohnbus, der zwei Kolporteuren gehörte. Uns war Milan (Ohio) zugeteilt, ein paar Meilen weit weg. Ich entsinne mich, daß Bruder Rutherford sogar zu dieser frühen Stunde am Treffpunkt war, um uns zu verabschieden.“
Es stimmt, J. F. Rutherford war dort, um sie zu „verabschieden“. Das war jedoch nicht alles. „Bruder Rutherford saß im ersten Auto, das an diesem Morgen abfuhr“, bemerkt Sara C. Kaelin. John Fenton Mickey fügt hinzu: „Bruder Rutherfords Wagen war der erste. Er hatte meine Frau und mich eingeladen sowie Clara Myers, die Schwester meiner Frau, und Richard Johnson mit seiner Frau. Da unsere kleine Tochter krank wurde, konnte ich nicht mitfahren. ... Der erste Wagen hatte als Gebiet die Landstraße zwischen Cedar Point und Sandusky (Ohio) zugeteilt bekommen. Bruder Rutherford nahm das erste Haus, Clara Myers das nächste, und so ging es weiter bis zum Schluß. Dann kehrten sie zum Kongreß zurück.“
AUFRUFE ZU VERMEHRTEM KÖNIGREICHSDIENST HABEN ERFOLG
Jehovas Zeugen hatten zwar schon jahrelang etwas von Haus zu Haus gepredigt, doch jetzt wurde das Werk beschleunigt. Von Oktober 1922 an wurde das Predigen von Tür zu Tür durch die Informationen sehr erleichtert, die in einem monatlich erscheinenden Dienstanweisungsblatt, betitelt Bulletin, erschienen.
Auch durch ihre Zusammenkünfte wurden die Bibelforscher weiterhin reich mit geistiger Speise versorgt. Als erstes wurden 1922 Gruppenstudien anhand des Wacht-Turms eingerichtet. Als Hilfe zum Studium wurden Fragen gedruckt. Der größere Nachdruck, der auf den Predigtdienst gelegt wurde, wirkte sich auch auf die christlichen Zusammenkünfte aus. Dies betraf besonders die in der Mitte der Woche stattfindenden Gebets-, Lobpreisungs- und Zeugnisversammlungen. Lange hatte man gesungen, Zeugnis abgelegt und gebetet. Doch in den frühen 1920er Jahren änderte sich das mit dem Beginn der Verkündigung des Königreiches von Haus zu Haus. James Gardner schreibt über diese Änderung: „Am 1. Mai 1923 setzte ein bedeutsamer Fortschritt ein. Man legte den ersten Dienstag eines jeden Monats als besonderen Tag des Dienstes fest, damit die ,Bibelklassen‘-Arbeiter mit den von der Gesellschaft ernannten ,Vorstehern‘ am Predigtdienst teilnehmen konnten. Um das Werk in Gang zu bringen und die Brüder noch mehr zu ermuntern, sah man vor, daß von nun an in den Gebetsversammlungen, die jeden Mittwochabend stattfanden, die Hälfte der Zeit dazu verwendet werden sollte, Zeugnisse aus dem Predigtdienst zu berichten.“ T. H. Siebenlist fügt hinzu: „Später wurde in den Zusammenkünften am Mittwochabend auch das von der Gesellschaft herausgegebene Dienstanweisungsblatt, das Bulletin, betrachtet. Als daher der Predigtdienst mehr hervorgehoben wurde, war die Versammlung in Shattuck (Oklahoma) bald eifrig beim Predigen und lernte die Zeugnisse auswendig, sobald sie im Bulletin erschienen.“
Die Gesellschaft begann im Jahre 1923 auch, an mehreren Sonntagen im Jahr ein besonderes „weltweites Zeugnis“ vorzusehen. Dies erforderte gemeinsame Anstrengungen, da auf der ganzen Erde zugleich Zusammenkünfte für die Öffentlichkeit abgehalten werden mußten. Alle Bibelforscher wurden ermuntert, Vorträge wie „Satans Reich fällt — Millionen jetzt Lebender werden nie sterben“ anzukündigen.
Anfang 1927 wurde in den Vereinigten Staaten damit begonnen, jeden Sonntag von Haus zu Haus Bücher und Broschüren gegen einen Beitrag zu verbreiten. „Manche fragten sich, wie es wohl ausgehen würde, da sie wußten, daß die Welt gegen uns war“, sagt James Gardner dazu. Er fährt fort: „In manchen Gegenden wurde dadurch oft tatsächlich eine Welle der Verfolgung hervorgerufen. Doch der ,treue und verständige Sklave‘ hatte dazu aufgerufen. Warum sollten wir deshalb zögern? Wir machten uns freudig ans Werk, und obwohl mancher sich beschwerte, daß wir ,sonntags Bücher verkauften‘ usw., stellte es sich doch bald heraus, daß Jehova sein Volk überall in der Welt leitete. Selbst heute noch ist der Sonntag ein günstiger Tag hinauszugehen, und das tun wir auch regelmäßig.“
AN DER TÜR
Möchtest du gern mit einigen Königreichsverkündigern von damals am Predigtwerk von Tür zu Tür teilnehmen? Myrtle Strain erklärt, wie sie es taten: „Meistens erklärten wir, was in den Büchern stand, und dabei zeigten wir uns auch ganz schön geschäftstüchtig. Doch oft wurden wir in die Wohnung eingeladen, und dann erklärten wir kurz das ganze Vorhaben Gottes, wenn der Wohnungsinhaber Interesse zeigte, wobei wir mit dem Sündenfall begannen und fortfuhren bis zur Wiederherstellung des Menschen. Manchmal blieben wir etwa eine ganze Stunde in einem Haus.“
„In jener Zeit mit Jehovas Volk verbunden gewesen zu sein brachte viele unvergeßliche Erinnerungen“, bemerkt Martha Holmes. „Ich erinnere mich, wie wir zu fünft die verstreuten Ortschaften um Des Moines (Iowa) bearbeiteten. Manchmal sind wir vor Sonnenaufgang losgefahren und bis nach Sonnenuntergang unterwegs gewesen. Das Auto, das wir damals hatten, hatte noch kein festes Verdeck, keinen Bremskraftverstärker, keine Lenkhilfe, auch war es nicht mit einer Heizung oder einer Klimaanlage ausgestattet. Meistens mußten wir auf unbefestigte Landstraßen fahren. Wir blieben im Schlamm stecken und mußten Bretter unter die Räder schieben, um den Wagen wieder freizubekommen. Unser Fahrzeug hatte ausknöpfbare Seitenteile aus Stoff, die man verwendete, wenn es regnete oder schneite. Wir nahmen uns Reiseverpflegung mit und aßen im kalten Wagen. Einmal kam ein heftiger Sturm auf, nachdem wir in Newton (Iowa), etwa 50 Kilometer von Des Moines entfernt, mehrere Stunden im Predigtwerk gestanden hatten. Da der Wind Sturmstärke erreichte, war es schwierig, den Wagen auf der Straße zu halten. Dazu hatte sich noch das Segeltuchverdeck gelöst und schlug dauernd im Wind hin und her. Als wir schließlich wieder in Des Moines ankamen, waren wir alle naß bis auf die Haut. Bestimmt haben die Leute, die uns beobachtet haben, gedacht: ,Was für ein verrückter Haufen!‘ “
Oft wurden ihre Bemühungen jedoch durch ausgezeichnete Ergebnisse belohnt. Julia Wilcox erinnert sich beispielsweise immer noch an den Tag in den 1920er Jahren, an dem sie als neuer Königreichsverkündiger allein von Haus zu Haus in Washington (Nordkarolina) arbeitete. Sie traf eine Frau an, die sich sehr für die Broschüre der Gesellschaft, betitelt Kann man mit den Toten reden?, interessierte und Literatur nahm. Schwester Wilcox sagt:
„Als ich mich verabschieden wollte, um sie nicht zu lange aufzuhalten, ließ sie mich nicht gehen. Ihre Geschichte ging so:
,Ich weiß, der Herr hat Sie heute hierhergeschickt. Sie sind die Antwort auf unsere Gebete. Meine Mutter und ich haben gebetet, daß Gott uns zum Licht führen möge. Unser ganzes Leben lang waren wir Mitglieder der Methodisten-Kirche, doch seit kurzem gehen wir nicht mehr zur Kirche, weil sie uns nichts bietet. Alles, was wir dort hören, ist Geld, Geld und noch mehr Geld. Neulich sah meine Mutter in einer Zeitschrift eine Anzeige, in der von einem Buch die Rede war, das vom Spiritismus und davon, wie man direkt mit Gott sprechen kann, handelte. Sie sagte mir, ich solle das Buch bestellen und feststellen, was wir daraus lernen könnten. Ich habe den Brief mit der Bestellung zwar geschrieben, doch aus irgendeinem Grund vergessen, ihn abzuschicken. [Der Brief wurde auch nie abgeschickt.] Jetzt lese ich erst einmal die Bücher, die ich von Ihnen bekommen habe, und wenn meine Mutter mich wieder besucht, wird sie sie ebenfalls lesen. Versprechen Sie mir bitte, uns bald wieder zu besuchen?‘
Ich habe es natürlich versprochen. Dies sollte mein erster Rückbesuch sein. Das Rückbesuchswerk wurde damals noch nicht so hervorgehoben. Man legte Wert darauf, Gebiete zu bearbeiten und Literatur zurückzulassen. Als ihre Mutter kam, ging ich aber trotzdem wieder dorthin, so, wie ich es versprochen hatte. Sie hatten die Literatur, die ich beim ersten Besuch zurückgelassen hatte, ,verschlungen‘ und wollten mehr haben. Von da an nahmen sie alles, was die Gesellschaft veröffentlicht hatte. ... Ich bin sehr froh, berichten zu können, daß Schwester [Sophia] Carty, bei der ich meinen ersten Rückbesuch machte, bis zu ihrem Tode im Jahre 1963 treu war im Dienst und im Besuch der Zusammenkünfte.“
SIEBEN ENGEL BLASEN IHRE TROMPETE
Damals, in den 1920er Jahren, hatten Jehovas Diener alle Hände voll zu tun, den König und das Königreich zu verkünden, und sie erzielten sehr gute Ergebnisse. Doch darüber hinaus hatte Gottes Volk einen Anteil an der begeisternden Erfüllung von Prophezeiungen der Offenbarung, obwohl sie es damals noch nicht erkannten. Während sieben Engel ihre Trompete bliesen, spielten wahre Christen in dramatischen Ereignissen auf der Erde eine Rolle, und sie haben daran bis in die heutige Zeit hinein einen Anteil (Offb. 8:1 bis 9:21; 11:15-19).
Von der Zeit an, da der erste Engel seine Trompete blies, ist auf die Christenheit ein sinnbildlicher verwüstender Hagel herniedergeprasselt — schwerwiegende Enthüllungen, die sich auf die biblische Wahrheit gründen (Offb. 8:7). Dies begann während des Kongresses der Bibelforscher in Cedar Point im September 1922. Gottes Volk nahm dort begeistert eine Resolution an mit dem Titel „Eine Herausforderung“. Darin wurde die Untreue der Geistlichkeit gegenüber Gott freimütig bloßgestellt, weil sie am Krieg teilgenommen hatte und danach sein messianisches Königreich ablehnte, indem sie für den Völkerbund als den politischen Ausdruck dieses Königreiches eintrat. Vom Oktober des Jahres 1922 an wurden 45 000 000 Exemplare der Resolution und anderen Stoffes, der sie unterstützte, in der ganzen Welt verbreitet. Von jener Zeit an wurde der Anspruch der Christenheit (ihrer katholischen und protestantischen Geistlichkeit sowie ihrer Kirchenmitglieder), die wahren Nachfolger Jesu Christi zu sein, als falsch bloßgestellt.
Unter der Führung des zweiten Engels mit seiner Trompete kamen die Bibelforscher vom 18. bis 26. August 1923 zu einem regionalen Kongreß in Los Angeles (Kalifornien) zusammen. Dort wurde mit überwältigender Mehrheit eine Geschichte machende Resolution, betitelt „Ein Warnruf“, angenommen. Sie stellte das Versagen der Geistlichkeit der Christenheit bloß, bei der Verkündigung der Königreichsbotschaft mitzuwirken, und appellierte an schafähnliche Menschen, sich nicht wie die Geistlichkeit dem Völkerbund, sondern Gottes Königreich als „dem einzigen Heilmittel für alle Übel, sowohl für die Übel einzelner als auch ganzer Nationen“, zuzuwenden. Das Versagen der Geistlichkeit in dieser Beziehung ist einer der Hauptgründe für das Aufkommen radikaler, revolutionärer Elemente, die durch das unruhige „Meer“ dargestellt werden. Die Radikalen können jedoch der Menschheit auch kein Leben geben, ebensowenig wie vergossenes Menschenblut Leben geben kann. Im Dezember 1923 begann man mit dem Druck des Traktates Proklamation — Ein Warnruf an alle Christen, das die Kongreßresolution enthielt. In den Vereinigten Staaten wurden davon 13 478 400 gedruckt, dazu noch Millionen weitere in anderen Ländern. Doch die Massenverbreitung dieser Proklamation war nur der Anfang. Bis zum heutigen Tage haben die gesalbten Nachfolger Jesu viele Proklamationen für Gottes Königreich verfaßt (Offb. 8:8, 9).
Als der dritte Engel seine Trompete blies, wurde ein Drittel der Wasser zu Wermut (Offb. 8:10, 11). Bedeutsamerweise nahm Gottes Volk auf dem Kongreß der Bibelforscher, der vom 20. bis 27. Juli 1924 in Columbus (Ohio) abgehalten wurde, begeistert eine Resolution mit dem Titel „Anklage“ an. Darin wurden die verkehrten und Gott entehrenden Lehren der abgefallenen Geistlichkeit der Christenheit bloßgestellt, und es wurde gezeigt, daß der religiöse Weg, auf dem sie und ihre politischen Verbündeten die Menschen leiten, zum Tode führt. Die Geistlichen ließen die Menschen etwas trinken, was so bitter war wie Wermut und ihren geistigen Tod und schließlich Vernichtung herbeiführen würde. Die Kongreßresolution war in dem Traktat Offene Anklage gegen die Geistlichkeit enthalten, von dem 13 545 000 Exemplare in den Vereinigten Staaten gedruckt wurden. Millionen weitere in anderen Sprachen wurden im Ausland gedruckt, so daß schließlich 50 000 000 Exemplare verbreitet wurden. Auch im Wacht-Turm wurde die Anklage veröffentlicht. Wiederum war dies erst der Anfang. Jehovas Diener fuhren fort, durch das Radio, durch Bücher, Broschüren, Zeitschriften und mündliches Zeugnis darauf hinzuweisen, daß die Lehren der Geistlichkeit der Christenheit keine Wasser des Lebens sind, sondern zum Tode führen.
Im Jahre 1925 stand der vierte Engel bereit, seine Trompete zu blasen. Nachdem dies geschehen war, wurde ein Drittel der Sonne, des Mondes und der Sterne geschlagen und verfinsterte sich (Offb. 8:12). Auf einem regionalen Kongreß in Indianapolis (Indiana), der vom 24. bis 31. August 1925 abgehalten wurde, unterstützte Gottes Volk freudig eine Resolution mit dem Titel „Botschaft der Hoffnung“. Darin waren Äußerungen der Anteilnahme enthalten, doch es wurde auch gezeigt, daß die Menschen innerhalb der Christenheit, die das geistige Licht der Welt zu sein behauptet, in Finsternis geraten sind. Die Resolution wurde im Wacht-Turm und im Goldenen Zeitalter veröffentlicht; darüber hinaus wurden viele Millionen Exemplare in mehreren Sprachen in Form eines Traktates verbreitet. Dadurch wurden die Menschen darüber informiert, daß das Licht der himmlischen Wahrheit und der göttlichen Gunst in der Christenheit nicht scheint.
Als im Frühjahr 1926 der fünfte Engel seine Trompete blies, wurde damit ein Angriff von symbolischen Heuschrecken angekündigt (Offb. 9:1-11). In jenem Jahr hielten die Bibelforscher vom 25. bis 31. Mai einen internationalen Kongreß in London ab. Die Resolution, die sie dort ganzherzig annahmen, hieß „Ein Zeugnis an die Herrscher der Welt“. Darin und auch in dem erläuternden öffentlichen Vortrag „Warum wanken die Weltmächte? — Das Heilmittel“, den Bruder Rutherford am Sonntag, dem 30. Mai, vor einer gewaltigen Zuhörerschaft in der Royal Albert Hall hielt, wurde der satanische Ursprung des Völkerbundes enthüllt und das Versagen der Geistlichkeit gezeigt, Gottes messianisches Königreich zu unterstützen. In dem neuen Buch Befreiung sowie in der Broschüre Das Panier für das Volk wurden ähnliche Gedanken veröffentlicht. Am Montag früh widmete die Londoner Zeitung The Daily News der Resolution und der Zusammenfassung des Vortrages vom Sonntag eine ganze Seite; außerdem war darin eine Ankündigung der Ansprache Rutherfords für Montagabend. Für den Abdruck in der Zeitung war ein beträchtlicher Betrag bezahlt worden, und etwa eine Million oder mehr Exemplare von dieser Ausgabe wurden veröffentlicht.
Im Laufe der Zeit wurden mehr als 50 000 000 Exemplare der Resolution „Ein Zeugnis“ auf der ganzen Erde als Traktat in vielen Sprachen verbreitet. Die Aufdeckung menschlicher Pläne, die im Namen der Religion gegen Gottes Königreich entworfen worden waren, stach wie der Stich des Schwanzes eines Skorpions, und diese Wirkung besteht auch heute noch.
Als der sechste Engel seine Trompete blies, wurden vier symbolische Engel losgebunden, und 200 000 000 symbolische Pferde gingen daran „ein Drittel der Menschen zu töten“. Jene „Pferde“ stellen die Mittel zur Bekanntmachung einer furchterregenden Gerichtsbotschaft dar, besonders in gedruckter Form. Dies begann mit einem bemerkenswerten Ereignis des Jahres 1927: dem internationalen Kongreß der Bibelforscher in Toronto (Ontario) in Kanada (Offb. 9:13-19). Am Sonntag, dem 24. Juli, hörten dort im Kongreßsaal etwa 15 000 Personen zu, als J. F. Rutherford eine Resolution, betitelt „An die Völker der Christenheit“, verlas; die Christenheit macht etwa ein Drittel der Menschheit aus. Aufrichtige Personen wurden dringend aufgefordert, die Christenheit zu verlassen, um nicht mit ihr vernichtet zu werden. Die Menschen wurden aufgefordert, sich Jehova Gott, seinem König und Königreich völlig hinzugeben und nur ihm ergeben zu sein. Rutherford trug der Zuhörerschaft die Resolution nach seiner Ansprache „Freiheit für die Völker“ vor, worauf sich die Zuhörer erhoben, um mit einem donnernden „Ja“ ihre Zustimmung zu der Resolution zu geben. Millionen von Zuhörern konnten diese Vorgänge durch ein internationales Rundfunknetz von 53 Stationen — dem bis dahin umfangreichsten — im Radio verfolgen. „Rutherford spricht über riesiges Rundfunknetz“, schrieb die New Yorker World am Montag, dem 25. Juli 1927. „Größtes Rundfunknetz strahlt Verurteilung der Geistlichkeit in alle Welt aus.“
Durch die „Gluthitze“ einiger Aussagen dieser aufsehenerregenden Resolution müssen die Anhänger der Christenheit sehr gepeinigt worden sein. Zusammen mit dem öffentlichen Vortrag wurde sie in der Broschüre Freiheit für die Völker veröffentlicht. Mit der Zeit erhielten sowohl das Volk als auch die Herrscher Millionen von Exemplaren. Millionen symbolischer Pferde begannen also einen Angriff auf die Christenheit, und dies unter der Aufsicht des gesalbten Überrestes, der „vier Engel“. Hunderte von Millionen solcher christlicher Veröffentlichungen sind im Laufe der Jahre hergestellt worden. Tausende haben günstig darauf reagiert und Babylon die Große, das Weltreich der falschen Religion, verlassen (Offb. 9:13-19; 18:2, 4, 5).
Aufregendes ereignete sich, als der siebente Engel seine Trompete blies. „Es geschahen laute Stimmen im Himmel, die sprachen: ,Das Königreich der Welt ist das Königreich unseres Herrn und seines Christus geworden, und er wird als König regieren für immer und ewig.‘ “ Obwohl das Königtum über die Menschheit rechtmäßig Jehova Gott gehört, ließ er doch vom Jahre 607 v. u. Z. an zu, daß die Königsherrschaft der gesalbten Nachfolger König Davids während „sieben Zeiten“ oder 2 520 Jahren verfiel oder unterbrochen wurde. Diese Zeitspanne lief um den 4./5. Oktober 1914 u. Z. ab. Die Menschen mußten erfahren, daß Jehova durch das messianische Königreich, das damals aufgerichtet wurde, als König regierte, daß er bald ‘die verderben würde, die die Erde verderben’, und daß alle, die seinen Namen fürchten, zusammen mit ihm daran arbeiten würden, die Erde zu einem Paradies umzuwandeln (Offb. 11:15-18).
Wann sollte etwas Derartiges wie durch das Schmettern der Trompete des „siebenten Engels“ weltweit verkündigt werden? Die erdumspannende Bekanntmachung begann im Jahre 1928, als sich die Bibelforscher vom 30. Juli bis 6. August in Detroit (Michigan) zu einem Kongreß versammelten. Bemerkenswert war besonders der Sonntag (5. August), denn an diesem Tage hörten die Kongreßteilnehmer die bewegende Resolution „Öffentliche Erklärung gegen Satan und für Jehova“ sowie den erklärenden Vortrag J. F. Rutherfords „Ein Herrscher für das Volk“. Unter anderem wurde in der Resolution erklärt, daß Jehova — da Satan seine ungerechte Herrschaft über die Menschen nicht aufgibt — durch seinen Sohn Jesus Christus als Vollstrecker gegen den Teufel und seine bösen Mächte vorgehen wird, was zur Folge haben wird, daß Satan vollständig gebunden und seine Organisation restlos gestürzt werden wird. Außerdem zeigte sie, daß Jehova Gott auf der Erde durch Christus Gerechtigkeit schaffen, die Menschheit vom Bösen befreien und für alle Nationen der Erde ewigwährende Segnungen bringen wird. „Darum“, so hieß es in der Resolution abschließend, „ist die rechte Zeit gekommen, daß alle, die Gerechtigkeit lieben, sich auf die Seite Jehovas stellen und ihm reinen Herzens gehorchen und dienen, damit sie der grenzenlosen Segnungen teilhaftig werden mögen, die der allmächtige Gott für sie in Bereitschaft hält.“
Im Goldenen Zeitalter und im Wacht-Turm erschienen diese „Öffentliche Erklärung gegen Satan und für Jehova“ und der erläuternde öffentliche Vortrag. Darüber hinaus wurde die Resolution und die Ansprache auch in Millionen von Exemplaren der Broschüre Des Volkes Freund in mehreren Sprachen verbreitet. So wurde schon vor über vierzig Jahren eine Botschaft, die Gottes Königreich unter Jesus Christus unterstützte und gegen die Weltherrschaft Satans und seiner Werkzeuge gerichtet war, wie mit Trompetenschall bekanntgemacht. Doch seither haben Jehovas Diener diese Botschaft vom Königreich sowohl durch das gedruckte Wort als auch durch öffentliche Vorträge allen Menschen auf der Erde immer lauter erschallen lassen.
EIN WEGBEREITER DES RUNDFUNKS ERHEBT SEINE STIMME
„Rundfunk berichtet: Das Weltmillennium kommt“ stand in der in Philadelphia erscheinenden Zeitung Record vom 17. April 1922, worauf es weiter hieß: „Vortrag Richter Rutherfords aus der Metropolitan Opera übertragen. Spricht in das Übertragungsgerät. Botschaft wird durch kilometerlanges Bell-Telefonkabel zum Sender Howlett übertragen.“ So fing der Zeitungsbericht über J. F. Rutherfords ersten Rundfunkvortrag an, der am Sonntag, dem 16. April 1922, im Metropolitan Opera House in Philadelphia (Pennsylvanien) gehalten wurde. Wie lautete wohl das Thema? „Millionen jetzt Lebender werden nie sterben!“ Im Vergleich zu den schätzungsweise 50 000 Einwohnern Pennsylvaniens, New Jerseys und Delawares, die den Vortrag über einfache Radiogeräte zu Hause verfolgen konnten, war die sichtbare Zuhörerschaft verschwindend klein.
Damals war der Rundfunk in seinen Anfängen. In den USA wurden erst 1920 regelmäßig Rundfunksendungen von kommerziellen Stationen ausgestrahlt: vom Sender KDKA in Pittsburgh und WWJ in Detroit (Michigan). Die Industrie bot damals Kristall-Detektorempfänger mit Kopfhörern an, und erst in den dreißiger Jahren gab es Radios mit eingebauten Lautsprechern und Antennen.
Anfang der zwanziger Jahre gab es verhältnismäßig wenige Diener Jehovas. Im Jahr 1924 gab es in den Vereinigten Staaten durchschnittlich erst 1 064 Bibelforscher, die wöchentlich von Haus zu Haus predigten. Daher erkannte Gottes Volk während jener Zeit die weitreichende Wirkung des Rundfunks und betrachtete ihn als ein ausgezeichnetes Mittel, eine große Zuhörerschaft mit der Königreichsbotschaft zu erreichen.
Im Jahre 1922 unternahmen J. F. Rutherford und einige seiner Fachberater eine erste Besichtigung eines etwa 10 Hektar großen Grundstücks, das die Gesellschaft auf Staten Island im New Yorker Stadtbezirk Richmond gekauft hatte. Wir gehen zurück in jene bedeutsame Zeit und hören uns an, was Lloyd Burtch einmal sagte: „Eines Sonntagnachmittags nahm der Präsident der Gesellschaft, Bruder Rutherford, einige von uns mit nach Staten Island. Nachdem wir auf dem Grundstück, das wir gekauft hatten, angekommen waren, wies er auf einen Platz in der Mitte des Waldes, der sich auf dem Stück Land befand, und sagte: ,So, Jungs! Hier fangen wir an zu graben. Wir werden eine Radiostation auf unserem Land bauen.‘ Und wie wir anfingen zu graben! Den ganzen Sommer über waren wir an jedem Wochenende damit beschäftigt.“ Der Bau schritt während des Winters und bis in den Sommer 1923 hinein schnell voran. An Wochenenden halfen viele junge Männer vom Hauptbüro der Gesellschaft in Brooklyn mit.
Ralph H. Leffler lehrte 1923 Funktechnik an der Oberschule von Alliance (Ohio). Eines Tages erhielt er einen Brief vom Büro des Präsidenten der Watch Tower Society, in dem es hieß: „Wir haben erfahren, daß Du Funktechnik unterrichtest. ... wärst Du bereit, all Deine Zeit im Dienste des Herrn auf diesem Gebiet einzusetzen?“ Bruder Leffler sah darin deutlich die Hand Jehovas und willigte ein. Mitte Oktober traf er im Bethel ein und wurde mit Geschirrspülen beschäftigt. Später schrieb er: „Ich dachte erst: ,Habe ich in der Armee nicht schon genug Geschirr gespült?‘ Aber dann erinnerte ich mich an die Schriftstelle: ,Jehova, euer Gott, stellt euch auf die Probe, um zu erkennen, ob ihr Jehova, euren Gott, mit eurem ganzen Herzen und mit eurer ganzen Seele liebt‘ (5. Mose 13:3). Ich kam zu dem Entschluß, daß dies wohl wieder eine Prüfung sein müsse.“ Einen Monat später indessen begann er mit der Arbeit an der Radiostation. „Wir fanden einen kleinen 500-Watt-Sender in der Stadt und kauften ihn“, erinnert sich Bruder Leffler. Er wurde schnell installiert, und dann stand alles für die erste Sendung bereit.
„Alle waren bis aufs äußerste gespannt“, gesteht Bruder Leffler. „Würde die erste Sendung ein Erfolg sein? Würde uns überhaupt jemand hören? Wir hatten eine Sendegenehmigung von der Regierung erhalten und das Rufzeichen WBBR zugeteilt bekommen. Jetzt war alles zur ersten Rundfunkübertragung bereit. Es war Sonntag, der 24. Februar 1924, abends. Ich hatte das Vorrecht, für jene erste Rundfunksendung den Strom einzuschalten, und dann ging es los. Wir hofften, daß es klappen würde.“
Jene erste Sendung von WBBR dauerte zwei Stunden, von 20.30 Uhr bis 22.30 Uhr. Auf dem Programm standen Klaviermusik, Gesang und als Hauptteil dazwischen der Vortrag des Präsidenten der Gesellschaft, J. F. Rutherford, über das Thema „Radio und göttliche Prophezeiung“. Von da an wurden jeden Abend von 20.30 Uhr bis 22.30 Uhr und an Sonntagen von 15 bis 17 Uhr Sendungen mit guter Musik und belehrenden Vorträgen ausgestrahlt.
Bei WBBR boten sich auch Gelegenheiten zu Hörspielen, wobei Maxwell G. Friend mitwirkte. Er hatte am bekannten Stadttheater von Zürich eine gründliche Ausbildung als Schauspieler erhalten. Viele Jahre später erhielt Bruder Friend von Jehova das unerwartete Vorrecht, biblische Hörspiele zu schreiben und zu inszenieren sowie wirklichkeitsgetreue Wiedergaben von Gerichtsverhandlungen gegen Jehovas christliche Zeugen, die in Amerika von Richtern und Staatsanwälten durchgeführt wurden, die von der Geistlichkeit beeinflußt worden waren und Vorurteile hatten. In diesen Bühnenstücken wurden sie öffentlich bloßgestellt, und zur gleichen Zeit wurden Gottes Diener von falschen Anklagen gereinigt. Die erfahrenen Schauspieler und Musiker, die bei diesen Darstellungen mitwirkten, bildeten „The King’s Theater“ (Die Bühne des Königs).
In South Amboy (New Jersey) wurden 1928 einige Diener Jehovas verhaftet, weil sie die gute Botschaft am Sonntag gepredigt hatten. Damit begann die „Schlacht von New Jersey“, die ein Jahrzehnt lang dauerte. „Die Bühne des Königs“ spielte dabei auch eine Rolle. Die Richter in den Verhandlungen gegen wahre Christen waren oft Katholiken, die ihre Vorurteile im Gerichtssaal offenbar werden ließen, eine grobe Sprache führten und sogar durchblicken ließen, wer ihre kirchlichen Verbündeten waren, die im Hintergrund zu bleiben suchten. Der Redewechsel im Gerichtssaal wurde stenographiert. Erfahrene Schauspieler wohnten den Verhandlungen bei und studierten Stimme und Sprechweise des Richters, des Staatsanwaltes usw. Wenige Tage darauf gab „Die Bühne des Königs“ die Vorgänge im Gerichtssaal wirklichkeitsgetreu wieder. Auf diese Weise dienten die Radiowellen dazu, den Feind bloßzustellen, und schließlich waren die Richter so sehr eingeschüchtert — weil man die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sie und auf irregeführte Polizisten und Staatsanwälte gerichtet hatte —, daß sie Fälle, die mit Jehovas Zeugen zu tun hatten, klüger handhabten.
Dreiunddreißig Jahre lang verherrlichte WBBR Jehova und breitete die biblische Wahrheit überallhin aus. Anfangs wurden die Sendungen mit einem 500-Watt-Sender ausgestrahlt. Drei Jahre später kaufte man einen neuen 1 000-Watt-Sender. Im Jahr 1947 gestattete die amerikanische Bundesfernmeldebehörde (Federal Communications Commission), die Sendeleistung auf 5 000 Watt zu erhöhen, solange sich dies nicht störend auf andere Sender auswirken würde, die überall verstreut in den Vereinigten Staaten auf derselben Wellenlänge sendeten. Dieses Problem wurde durch die Errichtung einer aus drei Sendetürmen bestehenden Richtantennenanlage gelöst, und durch diese Anordnung stieg die Leistung in Richtung Nordosten, wo die größte Bevölkerungsdichte herrschte, von 5 000 Watt auf über 25 000 Watt an. Man konnte WBBR im Stadtbereich von New York und in den angrenzenden Staaten New Jersey und Connecticut hören. Doch es trafen auch Briefe aus England, Alaska, Kalifornien und anderen weit entfernten Orten als Reaktion auf Sendungen ein.
Am 15. April 1957 verkaufte die Gesellschaft die Radiostation. Weshalb? Als der Sender 1924 seine Arbeit aufnahm, gab es nur eine Versammlung mit etwa 200 Bibelforschern, die alle fünf Stadtbezirke von New York sowie Long Island und sogar Teile von New Jersey bearbeitete. 1957 hingegen gab es in der Stadt New York 62 Versammlungen mit einer Höchstzahl von 7 256 Verkündigern des Königreiches, dazu kamen noch 322 Vollzeitprediger der guten Botschaft. Es wurde also ein gründliches Zeugnis gegeben. Darüber hinaus ist es sehr viel wirkungsvoller, mit den Menschen in ihrer Wohnung zu sprechen, wo sie Fragen stellen und noch weitere Unterweisung aus dem Worte Gottes erhalten können. Das Geld, das man für die Unterhaltung des Radiosenders ausgegeben hatte, konnte jetzt auf andere Weise zur Förderung der Interessen des Königreiches Gottes eingesetzt werden.
Die Gesellschaft tat jedoch noch mehr auf dem Gebiet des Rundfunks. J. F. Rutherford kam eines Tages zu Ralph Leffler ins Büro, breitete eine Karte der Vereinigten Staaten auf seinem Tisch aus und sagte, wobei er auf die Karte deutete: „Ich habe vor, Rundfunksender einzurichten, und zwar da und da und da. Wärest du bereit, diese Sendestationen zu bauen?“ „Ich würde mich sehr freuen“, antwortete er. Anfang November 1924 war Bruder Leffler daher unterwegs, um im Gebiet von Chicago am Bau einer weiteren Radiostation der Gesellschaft mitzuarbeiten, die das Rufzeichen WORD hatte. Bruder Leffler installierte auch Sendeanlagen für andere Rundfunksender, die nicht unmittelbar der Gesellschaft gehörten, aber doch von ihren Vertretern geführt wurden.
EIN BEITRAG ZUR RUNDFUNKGESCHICHTE
Jehovas Volk war in den zwanziger Jahren nicht nur darin bahnbrechend, daß es WBBR, einen der frühen Rundfunksender, einrichtete. Wie bereits berichtet, leisteten Jehovas Diener am Sonntag, dem 24. Juli 1927, einen Beitrag zur Rundfunkgeschichte, als J. F. Rutherford von Toronto (Ontario) in Kanada über ein Rundfunknetz von 53 Stationen sprach, das größte Sendenetz, das man bis dahin eingerichtet hatte.
Wie kam diese beispiellose Rundfunksendung zustande? Eine Reihe von Ereignissen trug dazu bei. Zwischen der New Yorker Radiostation WJZ und WBBR war ein Abkommen getroffen worden, sich die Sendezeit zu teilen; doch dieses Abkommen wurde nicht eingehalten. Später bekam WBBR eine neue Wellenlänge zugeteilt, die dann zu einer ungünstigeren geändert wurde. Daraufhin leitete die Gesellschaft vor der amerikanischen Bundesrundfunkbehörde (Federal Radio Commission) ein Verfahren nach dem Radiogesetz von 1927 ein, mit dem Ziel, eine günstigere Wellenlänge zugeteilt zu bekommen. Bei der Verhandlung am 14. und 15. Juni 1927 hob der Präsident der National Broadcasting Company, Merlin Hall Aylesworth, hervor, wie wichtig die beiden New Yorker Radiosender WEAF und WJZ seien. Er wollte damit offensichtlich sagen, daß es nicht anginge, WBBR einen Teil der Sendezeit zuzusprechen, obwohl sowohl WJZ als auch WEAF andere Wellenlängen hatten. Im Laufe der Verhandlung wurde Aylesworth von J. F. Rutherford gefragt: „Trifft es zu, daß Sie Ihren Hörern durch das Radio die Botschaft der größten Finanzmänner, der prominentesten Staatsmänner und namhaftesten Geistlichen der Welt übermitteln wollen?“ Aylesworth bejahte.
„Wenn Sie überzeugt wären, daß der große Gott des Universums binnen kurzem seinen Plan ausführen wird, alle Familien und Völker der Erde mit Frieden, Wohlstand, Leben, Freiheit und Glück zu segnen, würden Sie das dann über den Rundfunk verbreiten?“ Da es schwierig gewesen wäre, darauf mit Nein zu antworten, sagte Aylesworth: „Ja.“ Daraufhin sagte er von sich aus, er wäre gern bereit, einen Vortrag des Präsidenten der International Bible Students Association zu übertragen. J. F. Rutherford nahm dieses Angebot selbstverständlich an.
Als Bruder Rutherford daher auf dem Kongreß in Toronto (Ontario) in Kanada am Sonntag, dem 24. Juli 1927, zu 15 000 Anwesenden sprach, hörten ihn Millionen von Menschen über ein Rundfunknetz, das es in dieser Größe bis dahin noch nie gegeben hatte. In einem Brief der NBC an die Gesellschaft hieß es: „Ich nehme an, daß Richter Rutherford gestern nachmittag die größte Zahl von Hörern gehabt hat, die irgend jemand je über den Rundfunk hatte.“
Die Bibelforscher hatten auch noch mit einem weiteren bemerkenswerten Ereignis in Verbindung mit dem Rundfunk zu tun. Als J. F. Rutherford am Sonntag, dem 5. August 1928, in Detroit (Michigan) vor 12 000 Zuhörern seinen Vortrag „Ein Herrscher für das Volk“ hielt, wurde er über ein Netz von 107 Rundfunkstationen übertragen, wofür 53 600 km Telefonkabel sowie etwa 146 000 km Telegrafenleitungen in Anspruch genommen wurden. Über Kurzwelle wurde der Vortrag auch nach Australien und Neuseeland gesendet.
Im Jahre 1928 hatte man das Wachtturm-Rundfunknetz, auch „weißes“ Sendenetz genannt, besonders für den Kongreß in Detroit aufgebaut. Es war so erfolgreich, daß sich die Watch Tower Society entschloß, ein solches Netz von Rundfunkstationen in den Vereinigten Staaten und Kanada jede Woche einzusetzen. Ein einstündiges Programm wurde vorbereitet und von WBBR ausgestrahlt. Dabei handelte es sich um Direktübertragungen, deren Mittelpunkt ein Vortrag von Bruder Rutherford bildete. Die Einleitung und den Abschluß bildeten musikalische Darbietungen eines Orchesters, das von der Gesellschaft unterhalten wurde. So konnte man vom 18. November 1928 bis Ende 1930 jeden Sonntag die „Wachtturm-Stunde“ einschalten.
Die Radiosendungen beanspruchten Bruder Rutherford sehr. Dadurch wurde zwar ein sehr gutes Zeugnis gegeben, doch er konnte keine Reisen mehr unternehmen oder in anderen Teilen der Erde Kongresse organisieren. Die Gesellschaft entschloß sich daher 1931, bereits aufgenommene Vorträge anzubieten. 250 Radiostationen wirkten mit, diese fünfzehnminütigen Aufnahmen zu senden, die Rutherford je nach Gelegenheit auf Platte sprach und die von den Rundfunksendern abgespielt wurden, wann sie es wollten. Dieser Rundfunkdienst, den man „Schallplattennetz“ („Wax Chain“) nannte, wurde 1932 auf 340 Sender ausgedehnt. Im Jahr 1933, als man den Höhepunkt erreichte, sendeten 408 Stationen die Botschaft auf sechs Kontinenten, wobei 23 783 verschiedene biblische Ansprachen gesendet wurden, die meisten davon jene fünfzehnminütigen Aufnahmen. Wer damals die Sendereinstellung am Radio drehte, konnte zur selben Zeit Wachtturm-Sendungen von weit auseinanderliegenden Rundfunkstationen empfangen. Oft waren die Ätherwellen angefüllt mit Worten der Wahrheit, die Gott verherrlichten.
EINE EIGENE FABRIK
Jehovas Volk zog immer mehr die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich. Die Geschichte machenden Zusammenschlüsse von Rundfunkstationen waren nicht zu übersehen. Auch die Königreichsverkündiger konnten nicht unbeachtet gelassen werden, denn ihr Predigtwerk von Haus zu Haus dehnte sich beachtlich aus. Es bestand größere Nachfrage nach biblischer Literatur, und damit mußten die Druckereien der Gesellschaft Schritt halten. C. W. Barber blickt auf die zweite Hälfte der 1920er Jahre zurück und bemerkt: „Die Fabrik in der Concord Street 18 [Brooklyn (New York)] war jetzt zu klein geworden und reichte für unseren Bedarf nicht mehr aus.“
Es war offensichtlich, daß die Bibelforscher eine weitere Fabrik benötigten. Man entschloß sich, selbst etwas zu bauen. Da man jedoch für den Bau einer Fabrik kein Geld verwenden konnte, ohne das Werk in anderen Teilen der Erde ernstlich zu benachteiligen, entschloß sich die Gesellschaft, das Geld durch Anleihen und Hypotheken zusammenzubringen, wobei der Grundbesitz der Gesellschaft nicht höher als bis zur Hälfte seines Zeitwertes belastet werden sollte. Die Anleihen wurden in Beträgen von 100 $, 500 $ und 1 000 $ zu je 5 % Zinsen ausgegeben, die jährlich gezahlt werden sollten. In einer Wacht-Turm-Beilage wurde den Bibelforschern Gelegenheit gegeben, für diese Anleihen zu zeichnen, so daß sie nicht auf dem freien Markt verkauft werden mußten.
In den Jahren 1926 und 1927 beobachtete die Bethelfamilie freudig, wie die Fabrik in der Adams Street 117 Formen annahm. Es dauerte nicht lange, bis alle acht Geschosse dieses erstklassigen Stahlbetonbaus, der zahlreiche Fenster hatte, zum Einzug bereitstanden. Das moderne Gebäude war feuersicher und hatte über 6 500 Quadratmeter Bodenfläche. Im Februar 1927 war es Zeit, aus der Concord Street 18 auszuziehen. „Ich erinnere mich noch, wie Bruder R. J. Martin [der Leiter des Betriebes] mit den Jungs vor Freude tanzte, als die Maschinen transportiert wurden“, sagt Harry Petros. Man erkennt Bruder Martins Begeisterung über die neue Fabrik deutlich, wenn man seinen Bericht an den Präsidenten der Gesellschaft liest, der im Jahrbuch 1928 der Internationalen Bibelforscher-Vereinigung veröffentlicht wurde. Darin bemerkte er, daß selbst die Kritiker jetzt zugaben, dies sei „die beste Druckereianlage des Mittelpunktes des Druckereigewerbes der Welt, der Stadt New York“. Der Bericht enthielt auch die folgende Beschreibung des Arbeitsablaufs in der Druckerei:
„Die allgemeine Anlage ist geradezu vollkommen für unsere Arbeit. Die Arbeit geht in der natürlichen Ordnung von oben nach unten. Im obersten Stockwerke sind die Büros, wo sie auch hingehören. Im nächsten Stockwerk ist logischerweise die Setzerei. Dann gehen die Platten ein Stockwerk tiefer, wo das Drucken geschieht. Wieder ein Stockwerk tiefer, im 5. Stockwerk, werden die Broschüren hergestellt und ist der Postversand. Im vierten Stock ist die Buchbinderei, im dritten das Lager, im zweiten der Frachtversand und im ersten Papierlager, Kraftanlage und Garage. Nichts könnte besser eingerichtet sein.“
Da im Hauptbüro jetzt fast 200 Personen tätig waren, wurde auch das Bethel erweitert. Im Dezember 1926 kaufte die Gesellschaft das Nachbargrundstück zu ihrem Besitz in der Columbia Heights 124 in Brooklyn. Anfang Januar 1927 wurden die drei Gebäude Columbia Heights 122, 124 und 126 abgerissen, und der Bau eines neungeschossigen Gebäudes mit über 80 Zimmern begann. Es wurde mit dem Gebäude der Gesellschaft verbunden, das 1911 auf der Hinterseite des Grundstücks an der Furman Street gebaut worden war.
„VON JEHOVA BELEHRT“
Bestimmt segnete Jehova sein Volk damals, in den 1920er Jahren, und versorgte es mit dem, was es zur Förderung der Interessen des Königreiches brauchte. Er erwies sich auch als ein Gott fortschreitender Offenbarungen. Dies bewirkte, daß die Bibelforscher ihr Denken in manchem anpassen mußten. Sie waren aber dankbar für die Führung Gottes und zeigten sich schnell bereit, „von Jehova belehrt“ zu werden (Joh. 6:45; Jes. 54:13).
Gottes Volk mußte zum Beispiel seine Ansichten über 1925 ändern. Man dachte, daß mit diesem Jahr siebzig Jubeljahrperioden zu je fünfzig Jahren seit dem Einzug der Israeliten in Kanaan enden würden, und damit verband man Erwartungen der Wiederherstellung und des Segens (3. Mose 25:1-12). A. D. Schroeder stellt dazu fest: „Man nahm an, daß dann der Überrest der gesalbten Nachfolger Jesu in den Himmel kommen würde, um einen Anteil am Königreich zu haben, und daß die treuen Männer der alten Zeit, wie Abraham, David und andere, als Fürsten auferweckt werden würden, um die Regierung über die Erde als Teil des Königreiches Gottes zu übernehmen.“
Das Jahr 1925 kam und verstrich. Die gesalbten Nachfolger Jesu waren als Gruppe immer noch auf der Erde. Die Treuen der alten Zeit — Abraham, David und andere — waren nicht auferweckt worden, um Fürsten auf der Erde zu sein (Ps. 45:16). Anna MacDonald erinnert sich: „Das Jahr 1925 war für viele Brüder ein trauriges Jahr. Einige strauchelten; ihre Hoffnungen waren enttäuscht worden. Sie hatten gehofft, daß einige der ,alttestamentlichen Überwinder‘ auferstehen würden. Statt dies als eine ,Wahrscheinlichkeit‘ anzusehen, lasen sie hinein, daß dies mit ,Sicherheit‘ kommen würde, und manche bereiteten alles für ihre lieben Angehörigen vor, da sie deren Auferstehung erwarteten. Die Schwester, die mich in die Wahrheit brachte, schrieb mir einen Brief, in dem sie mir mitteilte, daß sie mir das Falsche gesagt habe. ... [Aber] ich war froh über meine Befreiung aus Babylon. Wohin sollte man sonst gehen? Ich hatte Jehova kennen- und liebengelernt.“
Jehovas treue Diener hatten sich ihm nicht nur bis zu einem bestimmten Jahr hingegeben. Sie waren entschlossen, ihm für immer zu dienen. Für solche Personen war es kein großes Problem, als sich die Erwartungen für 1925 nicht erfüllten, und ihr Glaube wurde nicht nachteilig beeinflußt. James Poulos sagt darüber: „1925 war für die Treuen ein wunderbares Jahr. Jehova erklärte uns durch seinen ,treuen und verständigen Sklaven‘ die Bedeutung von Offenbarung, Kapitel 12. Wir erkannten, daß die ,Frau‘ Gottes Universalorganisation darstellte; Jesus Christus und seine heiligen Engel hatten Krieg im Himmel geführt und Satan und seine Dämonen besiegt und aus dem Himmel vertrieben; das Königreich Gottes war geboren worden.“ Bruder Poulos hatte dabei offensichtlich den bemerkenswerten Artikel „Die Geburt der Nation“ aus dem Wacht-Turm vom 15. April 1925 im Sinn. Durch diesen Artikel erkannte Jehovas Volk deutlich, wie die beiden großen, sich gegenüberstehenden Organisationen — Jehovas und Satans — sinnbildlich dargestellt wurden. Man erkannte damals auch, daß der Teufel seine Tätigkeit auf die Erde beschränken mußte, da er als Ergebnis des „Krieges im Himmel“, der 1914 begonnen hatte, aus dem Himmel hinausgeworfen worden war.
WELTLICHE FEIERTAGE
„Früher konnte man bei unseren Kongressen einige der Freunde beobachten“, schreibt Anna E. Zimmerman, „wie sie während der Pausen im Gespräch mit anderen ihr Manna-Buch [Täglich himmlisch Manna für den Haushalt des Glaubens] weiterreichten mit der Bitte, Namen und Adresse in ihr Buch zu schreiben. Diese Angaben schrieb man dann auf die leere Seite neben seinem Geburtstag, und wenn dieser Geburtstag dann kam und der Eigentümer des Buches am Morgen den Tagestext las, entschloß er sich vielleicht, eine Postkarte oder einen Brief zu schreiben, in dem er der Person Glückwünsche zum Geburtstag sandte.“
Ja, damals feierten Gott hingegebene Christen noch Geburtstag. Warum sollten sie den sogenannten Geburtstag Jesu nicht feiern? Das taten sie auch viele Jahre lang. Zu Bruder Russells Zeiten wurde das Weihnachtsfest im alten Bibelhaus in Allegheny (Pennsylvanien) begangen. Ora Sullivan Wakefield kann sich erinnern, daß Bruder Russell den Gliedern der Familie des Bibelhauses zu Weihnachten goldene Fünf oder Zehndollarstücke schenkte. Mabel P. M. Philbrick sagt: „Damals feierte man Weihnachten mit einem Weihnachtsbaum im Eßsaal des Bethels — ein Brauch, den man heute bestimmt nicht mehr pflegen würde. Statt des üblichen ,Guten Morgen!‘ wünschte Bruder Russell allen ,Fröhliche Weihnachten‘.“
Was veranlaßte die Bibelforscher, Weihnachten nicht mehr zu feiern? Richard H. Barber gab darauf die folgende Antwort: „Ich wurde gebeten, über ein Rundfunknetz einen Stundenvortrag über das Thema ‚Weihnachten‘ zu halten. Ich hielt ihn am 12. Dezember 1928, und Das Goldene Zeitalter [englisch] brachte ihn in seiner Nummer 241 und wiederholte ihn ein Jahr darauf in Nummer 268. In dieser Ansprache wurde der heidnische Ursprung des Weihnachtsfestes gezeigt. Von da an haben die Brüder im Bethel nie wieder Weihnachten gefeiert.“
„Machte es uns etwas aus, diese heidnischen Dinge abzulegen?“ fragte Ch. J. Brandlein. „Ganz und gar nicht. Wir hatten nur angewendet, was wir neu gelernt hatten; vorher wußten wir doch nicht, daß es heidnisch war. Für uns war es, als ob wir ein schmutziges Kleidungsstück auszogen und es wegwarfen.“ Als nächstes gab man Geburtstagsfeiern und den Muttertag auf, bei denen ebenfalls Menschenverehrung mit im Spiel war. Schwester Lilian Kammerud erinnert sich: „Die Brüder waren sofort bereit, alle diese Feiertage fallenzulassen, und sagten, daß sie froh wären, frei zu sein. Neue Wahrheiten machen uns immer glücklich, und ... wir spürten das Vorrecht, Dinge zu wissen, die andere nicht wußten.“
WEITERE ANSICHTEN ÄNDERN SICH
Das fortschreitende Verständnis des Wortes Gottes brachte noch andere Veränderungen im christlichen Denken mit sich. Dies war nach Ansicht von Grant Suiter besonders Ende der 1920er Jahre der Fall. Er sagt: „Es sah so aus, als ob sich während jener Jahre das Verständnis der Schrift und der Verfahrensweisen ständig änderte. Im Jahre 1927 zeigte der Wacht-Turm beispielsweise, daß die schlafenden treuen Glieder des Leibes Christi nicht 1878 auferweckt worden waren [wie man das angenommen hatte], daß das Leben im Blut ist und daß es angebracht wäre, auf schwarze Kleidung zu verzichten.“ (Siehe Wacht-Turm, Jahrgang 1927, Seite 182—184, 198—201, 271; Jahrgang 1928, Seite 19, 20.) Was die Kleidung betrifft, hatte Bruder Rutherford im Jahr zuvor, auf dem Kongreß in London vom 25. bis 31. Mai 1926, seine Vorträge in einem Straßenanzug gehalten statt im förmlichen schwarzen Gehrock, wie er lange Zeit von Rednern öffentlicher Vorträge der christlichen Zeugen Jehovas getragen worden war.
Eine weitere Änderung der Auffassungen betraf das Symbol von „Kreuz und Krone“, das vom Januar 1891 an auf dem Titelblatt des Wacht-Turms abgebildet war. Lange Zeit trugen auch viele Bibelforscher eine Anstecknadel mit diesem Symbol. C. W. Barber beschreibt, wie sie aussah: „Es war eigentlich mehr ein Abzeichen; den äußeren Rand bildete ein Kranz aus Lorbeerblättern, und in der Mitte befand sich eine Krone, durch die, etwas schräg, ein Kreuz führte. Die Nadel sah recht ansprechend aus und entsprach unserem damaligen Verständnis dessen, was es bedeutete, unser ,Kreuz‘ aufzunehmen und Jesus Christus nachzufolgen, damit wir später einmal die Siegeskrone tragen könnten.“
Lily R. Parnell sagt über das Tragen der Anstecknadeln mit „Kreuz und Krone“: „Für Bruder Rutherford war dies etwas Babylonisches und sollte nicht länger getragen werden. Er sagte uns, daß allein das Predigtwerk — unser Sprechen an den Türen der Menschen — das Zeugnis sei, das gegeben werden solle.“ Daher schreibt Bruder Suiter über den Kongreß, den die Bibelforscher 1928 in Detroit (Michigan) abhielten: „Auf dem Kongreß wurde gezeigt, daß es nicht nur unnötig, sondern auch verkehrt sei, die Abzeichen mit Kreuz und Krone zu tragen. So trugen wir diesen Schmuck nicht länger.“ Das Symbol von Kreuz und Krone verschwand vom Titelbild des Wachtturms etwas über drei Jahre danach (englische Ausgabe vom 15. Oktober 1931, deutsche Ausgabe vom 1. November 1931).
Erst ein paar Jahre darauf erkannte Jehovas Volk, daß Jesus Christus nicht an einem T-förmigen Kreuz gestorben war. Am 31. Januar 1936 gab Bruder Rutherford der Brooklyner Bethelfamilie das neue Buch Reichtum in Englisch frei. Darin hieß es auszugsweise auf Seite 27 in Übereinstimmung mit der Heiligen Schrift: „Jesus wurde nicht an ein Holzkreuz geschlagen, wie dies in vielen Bildern und Gemälden dargestellt wird, die von Menschen gemacht und ausgestellt werden; Jesus wurde gekreuzigt, indem sein Leib an einen Stamm genagelt wurde“ (Seite 25 der deutschen Ausgabe).
„IHR SEID MEINE ZEUGEN, SPRICHT JEHOVA“
Die Welt erlebte am „Schwarzen Dienstag“, am 29. Oktober 1929, einen Schock: den Börsenkrach. In der New York Times erschien die Nachricht darüber unter der Schlagzeile „Börsenkurse stürzen um 14 000 000 000 $ infolge massenhaften Abstoßens von Aktien; Bankiers sollen heute Börsenmarkt unterstützen“. So begann die Weltwirtschaftskrise, die auch noch in den 1930er Jahren andauerte. In dieser Zeit großer wirtschaftlicher Not versorgte Jehova sein Volk reichlich mit geistiger Speise. Auch machte er es auf die tiefe Bedeutung aufmerksam, die in den Worten liegt: „Ihr seid meine Zeugen, spricht Jehova, und ich bin Gott“ (Jes. 43:12, Elberfelder Bibel).
Auf Gottes Namen wurde immer größerer Wert gelegt. Betrachte zum Beispiel die Hauptartikel, die mehrere Jahre lang jeweils in der Ausgabe vom 1. Januar im Wachtturm erschienen. Sie lauteten: „Wer wird Jehova ehren?“ (1926), „Jehova und seine Werke“ (1927), „Ehret seinen Namen“ (1928), „Ich will lobsingen meinem Gott“ (1929) und „Singet Jehova!“ (1930).
In der Verherrlichung des Namens Jehovas war jedoch der Kongreß, den Gottes Volk in Columbus (Ohio) vom 24. bis 30. Juli 1931 abhielt, ein Meilenstein. Dieser Kongreß war einzigartig, weil an 165 anderen Orten auf der Erde Kongresse geplant wurden, die mit diesem Kongreß in Columbus verbunden werden sollten. Aber das war nicht der wichtigste Faktor. Es gab noch etwas weit Bedeutsameres. Das stand im Zusammenhang mit den rätselhaften Buchstaben „JW“, die auf dem Kongreßprogramm und auf der Titelseite der Kongreßzeitung The Messenger standen und an vielen Stellen zu sehen waren. „Als wir zum Kongreßgelände kamen“, erzählt Burnice E. Williams sen., „sahen wir überall die Buchstaben ,JW‘. Aber da wir nicht wußten, wofür sie standen, fragten wir uns alle: ,Was hat nur dieses JW zu bedeuten?‘ “ Schwester Herschel Nelson erinnert sich: „Es wurden Vermutungen angestellt, wofür die Buchstaben JW standen — ,Just Wait‘, ,Just Watch‘ [,Warte einfach ab‘, ,Paß einfach auf‘], und die wahre Bedeutung ...“
Ja, die wahre Bedeutung der Buchstaben „JW“ wurde am Sonntag, dem 26. Juli 1931, enthüllt, als die begeisterten Kongreßteilnehmer von Herzen eine Resolution annahmen, die J. F. Rutherford vortrug und die betitelt war: „Ein neuer Name“. Darin hieß es auszugsweise:
„DARUM wird jetzt zur Bekanntgabe unsrer wahren Stellung, in dem Glauben, daß es in Übereinstimmung mit Gottes in seinem Worte ausgedrücktem Willen geschieht, beschlossen kundzutun:
DASS wir für Bruder Charles T. Russell seines Werkes wegen große Liebe hegen und freudig anerkennen, daß der Herr ihn gebraucht und seine Arbeit überaus gesegnet hat; doch können wir, dem Worte Gottes entsprechend, nicht zustimmen, ,Russelliten‘ genannt zu werden; daß ferner die Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft, die Internationale Bibelforscher-Vereinigung und die Volkskanzel-Vereinigung lediglich Namen von Korporationen sind, die wir als eine Gruppe christlicher Leute besitzen, kontrollieren und gebrauchen, unser Werk im Gehorsam gegen Gottes Gebote auszuführen, doch daß keine dieser Bezeichnungen uns als Körperschaft von Christen, die den Fußstapfen unsres Herrn und Meisters, Christus Jesus, nachfolgen, gehörigerweise angeheftet oder beigegeben werden kann; daß wir in der Bibel forschen, aber als eine ... Körperschaft von Christen es ablehnen, den Namen ,Bibelforscher‘ oder ähnliche Namen als Mittel zur Feststellung unsrer richtigen Stellung vor dem Herrn anzunehmen oder uns so nennen zu lassen; daß wir es ablehnen, den Namen irgendeines Menschen zu tragen oder so genannt zu werden;
DASS wir, erkauft durch das teure Blut unsres Herrn und Erlösers, gerechtfertigt und gezeugt durch Jehova Gott und berufen zu seinem Königreiche, ohne Zaudern erklären, daß wir Jehova Gott und seinem Königreiche untertan und ergeben sind; daß wir Knechte Jehovas sind, beauftragt, in seinem Namen und seinem Gebot gehorchend ein Werk zu tun, das Zeugnis Jesu Christi zu überbringen und den Menschen bekanntzumachen, daß Jehova der wahre und allmächtige Gott ist; weshalb wir mit Freuden den Namen, den der Mund des Herrn genannt hat, annehmen und wünschen, unter folgendem Namen bekannt zu sein und also genannt zu werden: J e h o v a s Z e u g e n.“
Jetzt war es offensichtlich. Die rätselhaften Buchstaben „JW“ standen für Jehovah’s Witnesses (Jehovas Zeugen). „Ich werde nie den gewaltigen Ruf und den Beifall vergessen, mit dem die Kongreßstätte erfüllt wurde, als endlich die Bekanntmachung erfolgte“, erklärt Arthur A. Worsley. Herbert H. Boehk fügt hinzu: „In ganz Columbus wurden die Schilder mit der Aufschrift ,Willkommen, I. B. S. A.‘, die an den Schaufensterscheiben der Geschäfte hingen, abgenommen [und neu geschrieben] und lauteten nun ,Willkommen, Jehovas Zeugen‘.“ (I. B. S. A. war die Abkürzung für International Bible Students Association [Internationale Bibelforscher-Vereinigung].)
Die Annahme des Namens „Jehovas Zeugen“ war ein aufregendes Ereignis. Diese Resolution, betitelt „Ein neuer Name“, wurde nicht nur von den vielen tausend in Columbus versammelten gesalbten Nachfolgern Christi angenommen. Später nahmen auch die einzelnen Versammlungen diese Resolution an. Jehovas Zeugen hatten einen Namen, den niemand anders in der Welt tragen wollte. Aber sie waren dafür sehr dankbar (Jes. 43:12).
Als A. H. Macmillan 88 Jahre alt war, besuchte er den Kongreß „Frucht des Geistes“ in der gleichen Stadt. Dort machte er am 1. August 1964 folgende interessanten Bemerkungen darüber, wie die Annahme dieses Namens zustande gekommen war:
„Ich hatte das Vorrecht, im Jahre 1931 hier in Columbus zu sein, als wir ... den neuen Titel oder Namen ... empfingen. Ich war einer von den fünf, die sich dazu äußern sollten, wie sie über die Annahme dieses Namens dachten, und ich sagte kurz, ich dächte, daß dies eine großartige Idee sei, da die Welt durch diesen Titel erfahre, was wir täten und was unsere Aufgabe sei. Bis dahin waren wir Bibelforscher genannt worden. Warum? Weil wir das waren. Und als man dann in anderen Ländern anfing, mit uns zu studieren, wurden wir Internationale Bibelforscher genannt. Aber jetzt sind wir Zeugen für Jehova Gott, und dieser Titel sagt der Öffentlichkeit, wer wir sind und was wir tun. ...
Ich glaube, daß Gott, der Allmächtige, dies überwaltet hat, denn Bruder Rutherford erzählte mir selbst, daß er in der Zeit, in der er die Vorbereitungen für diesen Kongreß traf, eines Nachts aufwachte und sich fragte: ,Warum in aller Welt habe ich einen internationalen Kongreß einberufen, wenn ich doch überhaupt keine besondere Rede oder Botschaft habe? Warum sie alle hierherkommen lassen?‘ Und dann fing er an, sich darüber Gedanken zu machen, und Jesaja 43 kam ihm in den Sinn. Er stand um 2 Uhr nachts auf und schrieb in Kurzschrift an seinem eigenen Schreibtisch eine Disposition für den Vortrag, den er später über das Königreich, die Hoffnung der Welt, und über den neuen Namen hielt. Und alles, was er damals sprach, wurde in jener Nacht oder an jenem Morgen um 2 Uhr vorbereitet. Und ich zweifle heute nicht daran — und habe auch damals nicht daran gezweifelt —, daß ihn der Herr in dieser Sache geleitet hat und daß dies der Name ist, von dem Jehova wünscht, daß wir ihn tragen, und wir sind sehr glücklich und froh, ihn zu haben.“
„DAS KÖNIGREICH — DIE HOFFNUNG DER WELT“
Auf diesem Kongreß in Columbus hielt J. F. Rutherford am Sonntag, dem 26. Juli 1931, seinen hochbedeutsamen öffentlichen Vortrag „Das Königreich — die Hoffnung der Welt“. Die Rundfunkgesellschaften National Broadcasting Company und Columbia Broadcasting System hatten sich geweigert, den Vortrag zu übertragen. Aber Jehovas Diener schlossen eine Kette von Rundfunkstationen zusammen, um die Botschaft von Columbus auszusenden, und die American Telephone and Telegraph Company sagte: „Dieses Sendernetz ist das größte einzelne Sendernetz, das je den Äther benutzt hat.“ Die Botschaft wurde von 163 Rundfunkstationen in den Vereinigten Staaten, in Kanada, Kuba und Mexiko ausgestrahlt.
Unmittelbar nach dem Radiovortrag „Das Königreich — die Hoffnung der Welt“ verlas Bruder Rutherford eine Resolution, die ebenfalls gesendet wurde, und zwar mit dem Thema: „Warnung von Jehova — an die Herrscher und das Volk!“ Unter anderem hieß es darin ganz offen: „Die Hoffnung der Welt ist Gottes Königreich, und eine andere Hoffnung gibt es nicht.“ In dieser Resolution wurden die Menschen aufgefordert, auf der Seite des Königreiches Gottes Stellung zu beziehen. Als Bruder Rutherford seine sichtbare und unsichtbare Zuhörerschaft aufforderte, die Resolution anzunehmen, standen die Kongreßteilnehmer allesamt auf und riefen laut: „Ja.“ Überall aus dem Land gingen Telegramme ein, die zeigten, daß viele Rundfunkhörer ebenfalls aufgestanden waren und die Resolution angenommen hatten.
Die Weltführer und die Geistlichkeit sollten den Inhalt des Kongreßvortrages Bruder Rutherfords, „Das Königreich — die Hoffnung der Welt“, kennenlernen, und sie sollten auch den Inhalt der Resolution „Warnung von Jehova“ erfahren. Außerdem mußten sie davon unterrichtet werden, daß Jehovas wahre Diener die Resolution „Ein neuer Name“ angenommen hatten und von nun an als „Jehovas Zeugen“ bekannt wären. Dies wurde durch die Verbreitung der Broschüre Das Königreich — die Hoffnung der Welt ermöglicht. Jehovas Zeugen verbreiteten diese Broschüre nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern besuchten auch Geistliche, Politiker, Geschäftsleute und führende Militärs, um ihnen diese Publikation zu überreichen. Innerhalb von zweieinhalb Monaten waren über fünf Millionen Exemplare verbreitet worden, und die Arbeit mit der Broschüre war noch nicht annähernd abgeschlossen.
Über diesen Broschürenfeldzug schreibt Fred Anderson: „Ich sprach bei dem Bischof in La Crosse vor. Er lud mich sehr freundlich ein, in sein Sprechzimmer zu kommen. Dann erklärte ich ihm den Zweck meines Besuches. Ich überreichte ihm die Broschüre. Er sah sie an und sagte nichts. Ich dankte ihm und verabschiedete mich. Da wurde er wütend. Als ich gerade zur Tür hinausging, warf er sie mir nach. Sie fiel auf den Fußboden. Er hob sie wieder auf und warf sie mir noch einmal nach, als ich gerade die Tür hinter mir schloß. Die Broschüre blieb in der Tür hängen. Ich hoffe nur, daß er sie gelesen hat, denn er konnte sie nicht mehr loswerden.“ Schwester C. E. Bartow erzählt uns: „Als ein Geistlicher erkannte, was ich ihm gegeben hatte, schrie er mich an und sagte: ,Sie armseliger Nichtswisser! Sie kommen hierher, um mich zu belehren, der ich schon acht Jahre Theologe bin!‘ Wie glücklich war ich doch, dem wahren Gott zu dienen!“
TAUSCHHANDEL EINGEFÜHRT
In den 1930er Jahren brachte die Weltwirtschaftskrise große Not mit sich. Fabriken wurden geschlossen. Im Jahre 1932 waren über 10 000 000 Bürger der Vereinigten Staaten arbeitslos. Farmer, Stadtbewohner — die Bevölkerung im allgemeinen — spürten die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise.
Das Geld war knapp, aber aufrichtiggesinnte Menschen benötigten die frohe Botschaft der biblischen Wahrheit. Wenn einzelne die biblischen Schriften nicht bezahlen konnten, überließen Jehovas Zeugen sie ihnen oft kostenlos. Doch das war nicht immer möglich. Welche Alternative gab es da? Margaret M. Bridgett erzählt: „Wir tauschten [Literatur] gegen Naturalien wie Eier, Butter, frisches und eingemachtes Obst, Hühner und Ahornsirup; und ich tauschte gegen Handarbeiten — Steppdeckenbezüge, Kissenbezüge, Spitze und kleine Teppiche. Manchmal konnte ich mit einigen dieser Waren meine Zimmermiete bezahlen. ... [Jahre später] besuchte ich eine Gilead-Abschlußfeier [Gilead ist der Name einer Missionarschule], und dort traf ich eine Schwester, die von mir einen Satz Bücher im Austausch für einen Steppdeckenbezug bekommen hatte. Sie hatte die Wahrheit angenommen und war damals Pionier [Vollzeitprediger], und ihr Sohn war interessiert.“
Arden Pate und John C. Booth können sich noch erinnern, daß sie immer kleine Hühnerkörbe im Auto mitnahmen, damit sie die Hühner transportieren konnten, die ihnen Personen, die kein Geld hatten, im Austausch gegen Literatur gaben. Natürlich war es nicht immer einfach, Literatur gegen Hühner einzutauschen. Lula Glover schreibt: „Wir bearbeiteten sehr viel Gebiet in Alabama, Georgia, Florida und Nord- und Südkarolina sowie einen Teil von Tennessee und Mississippi. Könnt Ihr Euch vorstellen, wie Schwester Green und ich auf den großen Bauernhöfen Hühner jagten?“
Das Eintauschen von Schriften gegen Bodenerzeugnisse und andere Dinge geschah nicht aus selbstsüchtigen Gründen. Die Menschen benötigten die gute Botschaft und auf diese Weise konnten sie sie in gedruckter Form erhalten. „Wir waren Jehova immer dankbar dafür, daß er uns am Leben erhielt“, sagt Maxwell L. Lewis, „und wir hatten immer das, was wir an Nahrung, Obdach und Kleidung benötigten.“
DIVISIONSFELDZÜGE
In dieser Zeit wurde dem Predigtwerk sehr viel Widerstand entgegengesetzt. Im Jahre 1928 begannen Jehovas Zeugen, an Sonntagen von Haus zu Haus zu predigen, und sogleich erhob sich Widerstand. In den 1930er Jahren nahm die Zahl der Verhaftungen zu, und Jehovas Zeugen wurden fälschlich beschuldigt, ohne Gewerbeschein zu hausieren, den Frieden zu stören und die Sonntags- und Sabbatgesetze zu übertreten. Die Watch Tower Society richtete eine Rechtsabteilung ein, um den Zeugen Rat zu geben, und veröffentlichte eine „Gerichtsverfahrensordnung“, um den Königreichsverkündigern zu helfen, sich vor Gericht zu verteidigen. Gegen ungünstige Urteile wurde Berufung eingelegt.
Aber es wurde noch etwas anderes getan. Im Jahre 1933 erklärten sich 12 600 Zeugen in den Vereinigten Staaten bereit, sich kurzfristig zu Sonderaufträgen in Gebiete zu begeben, in denen Widerstand von seiten der Bürger zu erwarten war, und dort von Haus zu Haus zu predigen. Sie wurden zu 78 Divisionen organisiert, und zu jeder Division gehörten eine Anzahl Autos mit je 5 Arbeitern, und dann wurden 10 bis 200 Autos zu dem „Unruheherd“ geschickt. Wenn einige Christen im Predigtdienst verhaftet wurden, wurde dies der Gesellschaft berichtet. Dann erging ein Aufruf, und bald danach trafen sich an einem Sonntag alle Autogruppen einer Division an einem vereinbarten Treffpunkt, im allgemeinen auf dem Lande, empfingen Anweisungen und Gebietszuteilungen und „belagerten“ dann die Stadt wie „Heuschrecken“ und gaben der ganzen Gemeinde Zeugnis, und das manchmal innerhalb von nur 30 bis 60 Minuten (Offb. 9:7-9). In der Zwischenzeit sprach ein Komitee von Brüdern bei der Polizei vor und überreichte ihr eine Liste mit den Namen aller Zeugen, die an jenem Tag dort predigten. Falls ein Königreichsverkündiger während des Feldzuges verhaftet wurde, sollte er bei seiner Ankunft in der Polizeiwache eine bestimmte Telefonnummer wählen. Rechtsanwälte standen dann mit Kautionsgeldern zur Verfügung, um solchen Personen zu Hilfe zu kommen.
Ein Feldzug begann, indem zunächst zehn Autos mit Zeugen ins Gebiet geschickt wurden, wie Burnice E. Williams sen. erzählt. Was geschah dann? „Nach kurzer Zeit riefen diejenigen, die ins Gebiet gefahren waren, an und berichteten uns, sie seien verhaftet worden. Dann wurden zehn weitere Wagen geschickt, bis das Gefängnis gefüllt war. Wenn das Gefängnis dann voll war, schwärmten wir in den Ort. Sie hatten dann nämlich keinen Platz mehr, um uns einzusperren. ... Wenn sie sahen, daß wir entschlossen waren, das Gebiet zu bearbeiten, gaben sie es in der Regel auf, so daß wir hinfahren und es bearbeiten konnten, wann immer wir wollten. Wir konnten uns immer durchsetzen.“
Nicholas Kovalak jr. erzählt, daß die Zeugen darauf eingestellt waren, verhaftet zu werden. „Wenn uns die Polizei verhaftete und uns unsere ,Wertsachen‘ wegnahm, fand sie bei jedem Zeugen eine Zahnbürste“, erinnert er sich. „Der Polizist fragte dann: ,Warum hat denn jeder eine Zahnbürste dabei?‘ Und wir erwiderten alle: ,Wir haben uns schon gedacht, daß wir verhaftet und ins Gefängnis gesteckt werden, und so sind wir gleich vorbereitet gekommen!‘ Sie schlugen dann die Hände über dem Kopf zusammen und sagten: ,Es hat alles keinen Zweck.‘ Sie wußten, daß sie die Zeugen nicht einschüchtern oder ihrem Predigen Einhalt gebieten konnten.“
Obwohl schon Jahrzehnte vergangen sind, seit diese Feldzüge durchgeführt wurden (von 1933 bis 1935), erinnern sich die Teilnehmer noch heute stolz daran. „Das waren“, wie John Dulchinos sagt, „aufregende Jahre, und wir haben kostbare Erinnerungen daran. Jehovas Geist hat uns furchtlos gemacht.“
KAMPF UM DIE ÄTHERWELLEN
Trotz wachsenden Widerstandes verkündigten Jehovas Zeugen Anfang der dreißiger Jahre die Königreichsbotschaft mutig von Haus zu Haus. Aber die gute Botschaft fand auch durch das Radio in Millionen von Haushalten Eingang, und dies sehr zur Bestürzung der Geistlichkeit. Die Watch Tower Society benutzte damals international 408 Rundfunkstationen. Im Frühjahr des Jahres 1933 starteten die Katholiken der Vereinigten Staaten im ganzen Land eine Kampagne, die von Kardinälen, Bischöfen und Priestern geleitet wurde. Ihr Ziel? „Rutherford aus dem Äther zu vertreiben.“
Papst Pius XI. verkündigte das Jahr 1933 als ein „Heiliges Jahr“. Am 23. April 1933 hielt Bruder Rutherford den historischen Vortrag „Wirkung des Heiligen Jahres auf Frieden und Wohlfahrt“, der von 55 Rundfunkstationen gesendet wurde. In diesem Vortrag wurden die vergeblichen Hoffnungen, die die römisch-katholische Hierarchie dem Volk machte, als eine Nachahmung des Friedens und der Sicherheit gebrandmarkt, die durch Gottes Königreich kommen sollen. Es war geplant, den gleichen Vortrag am 25. Juni 1933 noch einmal zu senden, und zwar über 158 Radiostationen. Zur Vorbereitung dieser Rundfunksendung wurden 5 000 000 Flugzettel von Haus zu Haus verteilt. Die Reaktion der Hierarchie war bitter und heftig. Die Katholiken setzten ihre Einschüchterungsversuche verstärkt fort, und einige Direktoren von Rundfunksendern weigerten sich daraufhin, noch weitere Wachtturm-Programme zu senden.
Ende 1933 und Anfang 1934 setzten Jehovas Diener im ganzen Land eine Petition in Umlauf, in der gegen dieses Vorgehen der Katholiken protestiert wurde. Sie war an den Kongreß adressiert und trug schließlich 2 416 141 Unterschriften. Am 4. Oktober 1934 erschien J. F. Rutherford vor der Bundesnachrichtenkommission (Federal Communications Commission). Er führte spezielle Vorfälle und Statistiken an, die zeigten, daß durch den Druck von katholischer Seite der Religionsfreiheit der Zeugen Jehovas und dem Rundfunk, der den Interessen der Öffentlichkeit dienen sollte, ernsthaft geschadet worden war. Doch obwohl die Tatsachen klar auf der Hand lagen, unternahm die Bundesnachrichtenkommission nur wenig, nachdem ihr das Beweismaterial vorgelegt worden war. Daher setzten Jehovas Diener eine weitere Petition überall in den Vereinigten Staaten in Umlauf. Sie war ebenfalls an den Kongreß gerichtet und wurde im Januar 1935 mit 2 284 128 Unterschriften eingereicht. Auch die zweite Petition blieb unbeachtet. Die weiteren Entwicklungen führten schließlich zur Abfassung einer dritten Petition. In dieser Petition protestierten 2 630 000 Unterzeichner gegen die Einschüchterungsmaßnahmen und den Boykott und forderten eine öffentliche Debatte zwischen hohen Geistlichen der katholischen Kirche und Richter Rutherford. Leonard U. Brown sen., der mit dieser Petition arbeitete, erzählt, er habe „viele Katholiken gefunden, die sagten, sie würden sich freuen, wenn sie diese Debatte hören könnten“. Die Petition wurde der Bundesnachrichtenkommission am 2. November 1936 eingereicht, aber auch sie blieb unbeachtet.
Kein katholischer Geistlicher war bereit, mit Rutherford zu debattieren, und so veröffentlichte die Gesellschaft im Jahre 1937 die Broschüre „Aufgedeckt“. Darin wurden die Grundlehren der Bibel erklärt und besonders die falschen katholischen Lehren widerlegt. Während der Wohnungsinhaber in der Broschüre mitlas, spielte ein Zeuge auf einem tragbaren Grammophon Bruder Rutherfords Schallplattenserie „Offenbar gemacht“ vor. Mit Hilfe der Fragebroschüre Musterstudium Nr. 1 konnte ein Bibelstudium durchgeführt werden. Darüber schreibt Melvin P. Sargent: „Einmal wurde ich eingeladen, mit dieser Serie in die Wohnung eines Mannes zu kommen, und er lud drei weitere Ehepaare aus seiner Verwandtschaft zu den Studien ein. Es nahm mehrere Wochen in Anspruch, dieses Thema und auch andere Themen, wie zum Beispiel ‚Religion und Christentum‘, zu behandeln. Von den acht Anwesenden gaben sich später sechs Jehova hin.“
Nach dem 31. Oktober 1937 verzichtete Jehovas Volk freiwillig darauf, regelmäßig Rundfunkstationen in Anspruch zu nehmen. Bei späteren Gelegenheiten hielt der Präsident der Gesellschaft öffentliche Vorträge über ein Sendernetz von Rundfunkstationen, und natürlich wurde die Station WBBR weiterhin zur Verherrlichung Gottes benutzt. Aber ab Ende 1937 bis in die vierziger Jahre hinein wurde vermehrt vom tragbaren Grammophon und von Schallplattenaufnahmen mit biblischen Vorträgen Gebrauch gemacht, um die Königreichsbotschaft in die Wohnungen von Millionen Menschen zu bringen.
WER IST DIE „GROSSE SCHAR“?
Das war unter Jehovas Dienern jahrelang eine brennende Frage. Lange hatten sie die „große Schar“ („große Volksmenge“, NW) als eine zweitrangige geistige Klasse betrachtet, die — wie Brautjungfern oder „Gefährtinnen“ der Braut Christi — mit den 144 000 im Himmel vereint sein würde (Ps. 45:14, 15; Offb. 7:4-15; 21:2, 9). Außerdem erkannte man schon 1923, daß die „Schafe“ aus Jesu Gleichnis von den Schafen und Böcken eine heute lebende irdische Klasse sind, die Harmagedon überleben und in Gottes verheißene neue Ordnung gelangen wird (Matth. 25:31-46; Offb 16:14, 16). In dem 1931 erschienenen Buch Rechtfertigung (Band I) wurden die Personen, die zur Bewahrung an der Stirn gekennzeichnet wurden (Hes., Kap. 9), als die „Schafe“ aus Christi Gleichnis identifiziert. Im Jahre 1932 kam man zu dem Schluß, daß diese heute lebende Klasse von „Schafen“ durch Jehus Gefährten Jonadab vorgeschattet worden war. Erst im Jahre 1934 wurde es klar, daß diese „Jonadabe“, die eine irdische Hoffnung hatten, sich „weihen“, d. h. sich Gott hingeben, und sich taufen lassen mußten. Aber die „große Schar“, auf die in Offenbarung, Kapitel 7 Bezug genommen wird, wurde immer noch so verstanden wie früher.
Die Unsicherheit hinsichtlich der „großen Schar“ wurde beseitigt, als Bruder Rutherford auf dem Kongreß der Zeugen Jehovas, der vom 30. Mai bis 3. Juni 1935 in Washington (D. C.) stattfand, dieses Thema besprach. In diesem Vortrag wurde anhand der Bibel gezeigt, daß die „große Schar“ mit den „anderen Schafen“ der Zeit des Endes identisch ist. Webster L. Roe erinnert sich an den entscheidenden Augenblick, als J. F. Rutherford sagte: „Würden alle, die die Hoffnung haben, ewig auf der Erde zu leben, bitte einmal aufstehen? Wie Bruder Roe erzählt, „standen mehr als die Hälfte der Zuhörer auf“, und der Redner sagte dann: „SIEHE! DIE GROSSE SCHAR!“ „Zuerst herrschte Stille“, erinnert sich Mildred H. Cobb, „und dann gab es Freudenrufe, und der Beifall war laut und anhaltend.“
Der Kongreß war bald vorüber, aber er hatte etwas in Gang gesetzt — eine Suche. „Mit großer Begeisterung und neuem geistigen Auftrieb gingen wir in unsere Gebiete zurück, um nach diesen schafähnlichen Menschen zu suchen, die noch eingesammelt werden mußten“, erzählt Sadie Carpenter.
Nach dem Kongreß im Jahre 1935 hörten einige auf, bei der jährlichen Feier des Abendmahls des Herrn von den Symbolen, dem Brot und dem Wein, zu nehmen. Warum? Nicht, weil sie untreu geworden wären, sondern weil sie jetzt erkannten, daß sie eine irdische und nicht eine himmlische Hoffnung hatten. Und während die Schriften der Gesellschaft in früheren Jahren hauptsächlich für Jesu gesalbte Nachfolger bestimmt waren, enthielten Der Wachtturm und andere christliche Schriften vom Jahre 1935 an geistige Speise zum Nutzen der Klasse der Gesalbten und auch ihrer Gefährten, die eine irdische Hoffnung haben.
LASST DIE WAHRHEIT ERSCHALLEN!
In den 1930er Jahren benutzten die Königreichsverkündiger Grammophone auf ihrer Suche nach schafähnlichen Menschen. Henry Cantwell erzählt darüber: „Im Jahre 1933, als die Gesellschaft begann, das Predigtwerk auszudehnen, wurden Vorkehrungen getroffen, Schallplattenaufnahmen der Vorträge Bruder Rutherfords in allen Teilen des Landes abzuspielen. Zu diesem Zweck stellte die Gesellschaft sogenannte elektrische Transkriptionsmaschinen her. Das waren große, von einer Feder angetriebene Grammophone mit batteriebetriebenem elektrischem Tonarm, Verstärker und Lautsprecher. ... Wir hatten verschiedene Arten von Schallplattenaufnahmen. Einige waren in sich vollständig; bei anderen wurden zwei oder vier Schallplatten für einen vollständigen Vortrag benötigt. Wir hatten also 15minütige, 30minütige und einstündige Vorträge. Auf diese Weise konnten wir in den verschiedenen Gebieten, die wir bearbeiteten, Zusammenkünfte für die Öffentlichkeit abhalten.“
Julia Wilcox erklärt dieses Werk weiter und schreibt: „Zuerst suchten wir eine Wohnung und manchmal ein öffentliches Gebäude, eine alte Scheune oder sogar eine Kirche, wo wir einen Stundenvortrag abspielen konnten. Dann gingen wir während des größten Teils des Tages von Haus zu Haus, kündigten den Vortrag an und vereinbarten, zurückzukommen und diejenigen abzuholen, die kein Transportmittel hatten.“
Während einer Serie von zwölf Grammophonzusammenkünften wurde ein und dasselbe Gebiet dreimal mit biblischer Literatur und viermal mit Ankündigungen durchgearbeitet. Die Zusammenkünfte wurden auch durch Plakate an den Schaufensterscheiben und durch Schilder an den Autos der Zeugen angekündigt. Es wurden gute Ergebnisse erzielt, und viele kamen dann zu regelrechten Studien zusammen und beteiligten sich sogar am Predigtwerk.
„Die Gesellschaft benutzte Hunderte dieser Schallplatten mit 33 1⁄3 UpM, um die Königreichsbotschaft über Rundfunk auszusenden“, erzählt Ralph H. Leffler. „Viele wurden in Lautsprecherwagen installiert. ... Auf so mancher Hupe war die Aufschrift ,Königreichsbotschaft‘ zu lesen, und das war natürlich unser Motto. Überall auf den Straßen und auf dem Lande war die Botschaft zu hören. ... Manchmal fuhr man mit dem Lautsprecherwagen auf einen Hügel, von wo aus man die kleine Stadt im Tal überschauen konnte. An einem ruhigen Abend war dann die Botschaft kilometerweit zu hören.“
Über seine Erinnerungen berichtet Henry A. Cantwell: „Wir fuhren in ein bestimmtes Gebiet, spielten einige Musikschallplatten, um die Aufmerksamkeit zu erwecken, machten eine kurze Ankündigung durch das Mikrofon und spielten dann einen der Vorträge ab. Darauf kündigten wir an, daß jemand an den Türen vorsprechen würde, um denen, die es wünschten weiteren Aufschluß zu übermitteln.“ Es gab auch Lautsprecherboote, und sie wurden auf ähnliche Weise eingesetzt.
Der Tondienst, den Jehovas Zeugen durchführten, hatte jedoch auch Gegner. Zum Beispiel schreibt Lennart Johnson:
„An einer Stelle in der 11. Straße einer südlich gelegenen Vorstadt von Rockford [Illinois] gefiel einer Frau die Tätigkeit mit dem Lautsprecherwagen und die Königreichsbotschaft nicht. Von ihren Gefühlen überwältigt, stellte sich diese Frau mit ihrem Auto neben den Lautsprecherwagen und ließ, als ob sie die Worte des Redners ersticken wollte, ihre Hupe drei oder vier Minuten lang ertönen. Die Folge war, daß sich ihre Batterie entleerte, denn der Ton ihrer Autohupe wurde schwächer und schwächer.“
Andere Erfahrungen, die mit Lautsprecherwagen gemacht wurden, waren jedoch ganz amüsant. „Zuerst gerieten einige Leute in Furcht“, bemerkt Julia Wilcox und fügt hinzu: „Manchmal waren sie draußen auf dem Feld bei der Arbeit, weit vom Lautsprecherwagen entfernt, und sie sagten, es habe sich so angehört, als sei die Stimme, die über Gott sprach, aus dem Himmel gekommen. Wir erfuhren, daß einige Familien sogar ihre Arbeit auf der Farm beendeten und nach Hause fuhren, da sie glaubten, der Gerichtstag sei gekommen.“
ZIEHT DAS GRAMMOPHON AUF!
Jahrelang spielte das tragbare Grammophon eine wichtige Rolle beim Predigen des Königreiches. Bedeutsam für die Entwicklung dieses Werkes war die Hauptversammlung der Zeugen Jehovas, die vom 15. bis 20. September 1937 in Columbus (Ohio) stattfand. Elwood Lunstrum erzählt uns folgendes über diese Versammlung:
„Auf diesem Kongreß wurde uns erklärt, wie wir das tragbare Grammophon im Treppenhaus verwenden konnten. Wir hatten zwar schon früher das Grammophon mit in den Dienst genommen, hatten es aber nur abspielen lassen, wenn wir hereingebeten wurden. ...
Auf dem Kongreß in Columbus wurde eine Organisation von ,Sonderpionieren‘ umrissen, die in der Verwendung des Grammophons an den Türen und in der Nacharbeit bei interessierten Personen (damals zunächst ,Nachbesuche‘ genannt) und in der Durchführung von Bibelstudien mit Hilfe der Broschüre Musterstudium führend vorangehen sollten.“
Kurz nach diesem Kongreß wurden etwa 200 besonders ausgewählte Pioniere überall in den Vereinigten Staaten in die Großstädte ausgesandt, wo es schon Versammlungen des Volkes Gottes gab. Ausgerüstet mit tragbaren Grammophonen, gingen diese Vollzeitverkündiger an die Arbeit. Bald wurden Jehovas Zeugen im allgemeinen „grammophonbewußt“, und in der Fabrik der Gesellschaft in Brooklyn mußten innerhalb von nur zwei Jahren 20 000 dieser Apparate hergestellt werden, und selbst dann noch übertraf die Nachfrage bei weitem den Vorrat, denn Tausende von Königreichsverkündigern zogen ihr Grammophon auf und ließen die Wahrheit erschallen, so daß alle sie hören konnten.
Die Grammophone, die die Königreichsverkündiger benutzten, wurden im Laufe der Zeit weiterentwickelt. Im Jahre 1934 gab es ein starkes, kompaktes Modell mit aufziehbarem Motor, das Platz für mehrere Schallplatten hatte. Zusammen mit sechs Schallplatten wog es 9,5 Kilogramm. Im Laufe der Zeit bekamen Jehovas Zeugen einige Übung damit. Etwa zwei Jahre später hatte die Gesellschaft ein leichteres Grammophon. Dann, auf den Kongressen im Jahre 1940, wurde ein neues, vertikal spielbares Grammophon eingeführt. Es war von Brüdern im Hauptbüro der Gesellschaft entworfen und gebaut worden, und darauf konnten die Platten senkrecht abgespielt werden. Es hatte sogar ein Fach, in dem man Literatur und vielleicht sogar ein Butterbrot unterbringen konnte. Durch dieses Modell wurde die Predigttätigkeit von Haus zu Haus sehr erleichtert.
Stelle dir nun vor, du wärest vor über drei Jahrzehnten als Königreichsverkündiger im Predigtdienst tätig. „Wenn der Wohnungsinhaber die Tür öffnete, sagten wir: ,Ich habe eine Botschaft für Sie.‘ Die Nadel senkte sich, und Bruder Rutherfords Stimme ertönte“, erinnert sich L. E. Reusch. „Am Ende der Botschaft“, erklärt Angelo C. Manera jr., „erwähnte der Sprecher das Buch, das wir anboten, und nannte den Preis. Dann boten wir das Buch an und gaben es dem Wohnungsinhaber, wenn er interessiert war.“ „Wir waren niemals aufdringlich“, äußert sich George L. McKee, „aber wir waren überzeugt davon, daß jeder die gute Botschaft vom Königreich hören mußte.“
Das Grammophonwerk wurde nicht ohne Widerstand durchgeführt. Ernest Jansma erzählt uns: „Es gab Fälle, wo einem das Grammophon buchstäblich wütend vor den Augen zerschmettert wurde. Anderen passierte es, daß es ihnen das Treppenhaus hinuntergeworfen wurde. Im mittleren Westen sah ein Bruder zu, wie ein wütender Farmer sein Gerät mit einer Schrotflinte zerschoß, und hörte dann, wie die Schrotkörner an seinem Auto vorbeipfiffen, als er den Schauplatz verließ. Damals waren die Leute bösartig und waren religiöse Fanatiker.“ Amelia und Elizabeth Losch berichten von einer Begebenheit, als die Schallplatte „Feinde“ am Eingang eines bestimmten Hauses vor einer Menschenmenge abgespielt wurde. Nachdem der Vortrag zu Ende war, nahm eine Frau die Schallplatte vom Gerät, zerbrach sie und rief aus: „So können Sie nicht über meinen Papst sprechen!“
Trotz des Widerstandes wurde das Grammophonwerk fortgesetzt. Doch in den 1940er Jahren wurde dieses Gerät im Predigtdienst immer weniger gebraucht. Nach dem Jahre 1944 wurde der jahrzehntelange Predigtfeldzug mit dem Grammophon durch das mündliche Zeugnisgeben an den Türen ersetzt.
Eines der Mittel zum Zeugnisgeben, die in früheren Jahren angewandt wurden, war die Zeugniskarte, die Ende 1933 eingeführt und bis in die 1940er Jahre hinein verwendet wurde. John und Helen Groh erklären: „Die Verkündiger der guten Botschaft waren damals noch nicht so zahlreich wie heute und waren auch noch nicht so gut geschult. Als Hilfe in unserem Dienst und um das Gebiet besser bearbeiten zu können, benutzten wir eine sogenannte Zeugniskarte. Das waren kurze gedruckte Predigten, die wir den Leuten zu lesen gaben. Wenn sie sich weigerten, sie zu lesen, oder ärgerlich wurden, weil sie ihre Brille nicht zur Hand hatten, erzählten wir ihnen das, was auf der Karte stand.“
EINE ANDERE METHODE, DAS KÖNIGREICH BEKANNTZUMACHEN
Ein bedeutsames Werk, durch das Jehovas Volk die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zog, während es den König und sein Königreich verkündigte, nahm seinen Anfang bei einem Kongreß in Newark (New Jersey) im Jahre 1936. Weiterentwickelt wurde es auf einem Kongreß, der im Jahre 1938 in London (England) stattfand. Jahre später wurde dieser Tätigkeit die Würde gegeben, die sie verdiente, indem sie als „Informationsmärsche“ bezeichnet wurde. Rosa May Dreyer erinnert sich noch an den Kongreß in Newark im Jahre 1936 und erzählt: „ ‚Sandwich-Zeichen‘ oder Plakate, die vorn und hinten an den Schultern herabhingen, wurden verwandt, um den Hauptvortrag anzukündigen. [Die Plakate wurden deshalb „Sandwich-Zeichen“ genannt, weil die Verkündiger zwischen beiden Plakaten eingezwängt waren.] Auch Handzettel wurden verteilt.“
Während des Kongresses in London im Jahre 1938 fanden auf J. F. Rutherfords Anregung hin Informationsmärsche statt, bei denen einige Verkündiger an Stöcken befestigte Plakate mit nachdenklich stimmenden Schlagworten trugen. A. D. Schroeder (der damals die Aufsicht über das Zweigbüro in England hatte) erzählt uns unter anderem folgendes:
„... Am nächsten Abend führten Bruder Knorr und ich die erste aufsehenerregende Parade an, die etwa 9,5 Kilometer lang war und in der fast 1 000 Brüder durch das Hauptgeschäftsviertel Londons marschierten. Jeder zweite in der Gruppe trug das Plakat mit der Aufschrift ,Schau den Tatsachen ins Auge‘ [und kündigte damit den öffentlichen Vortrag an, der in der Royal Albert Hall gehalten werden sollte], während die anderen das Schild mit der Aufschrift ,RELIGION IST EINE SCHLINGE UND EIN GIMPELFANG‘ trugen. War das ein Schauspiel an jenem Abend!
Am nächsten Morgen rief mich Bruder Rutherford in sein Büro, um sich berichten zu lassen, wie alles verlaufen sei. Ich berichtete, daß wir sehr viel Aufsehen erregt und daß viele ,Kommunisten!‘ hinter uns hergerufen hatten. Er dachte ein paar Minuten nach und kritzelte schon wieder mit seinem Federhalter. Dann riß er ein Blatt Papier ab und gab es mir. Darauf stand: ,DIENET GOTT UND CHRISTUS, DEM KÖNIG‘. Er fragte mich, ob durch ein solches Schlagwort auf einem dritten Plakat die ungünstige Reaktion des vorhergehenden Abends neutralisiert werden könne. Ich sagte ja. Daher ließ er dieses Schlagwort drucken und verwandte es für die nächste Parade, die zwei Abende später stattfand. Wir erzielten ausgezeichnete Ergebnisse. Demzufolge führten wir vor dem Kongreß, der vom 9. bis 11. September stattfinden sollte, mehrere bemerkenswerte Paraden mit drei abwechselnd getragenen Schildern durch. Da uns die britische Regierung jahrelang die Verwendung des Rundfunks für unsere Schulungsprogramme und Bekanntmachungen verweigert hatte, erwies sich diese Methode als ein äußerst wirkungsvolles Mittel, die Öffentlichkeit zu informieren.“
Für Gladys Bolton waren die Informationsmärsche „die härteste Tätigkeit von allen“. Sie sagt auch: „Jedes Plakat hatte eine andere Aufschrift, aber eines ist mir noch besonders deutlich im Sinn: ,Religion ist eine Schlinge und ein Gimpelfang‘. Oh, wie die Geistlichkeit das ,liebte‘!“ Über das Schild „Religion ist eine Schlinge und ein Gimpelfang“ bemerkt Ursula Serenco: „Damals unterschieden wir nicht zwischen ,wahrer Religion‘ und ,falscher Religion‘; die Religion war insgesamt schlecht. Die wahre bezeichneten wir als ,Anbetung‘, die falsche dagegen war für uns einfach ,Religion‘.“
Manchmal brach offene Feindseligkeit gegen die Brüder aus, die an Informationsmärschen teilnahmen. „In einigen Städten wie Pittston [Pennsylvanien] wurden wir nicht gastfreundlich empfangen“, erzählt John H. Sovyrda. „Viele Leute spuckten uns an, riefen uns allerlei Schimpfnamen nach und sagten, wir seien Kommunisten. Sie bewarfen uns mit verschiedenen Gegenständen, und einige schlugen uns sogar mit der Faust.“
Warum führten denn Jehovas Zeugen Informationsmärsche durch? „Hauptsächlich, weil wir es für wichtig hielten, daß die Leute über die Tatsachen hinsichtlich der falschen Anbetung und hinsichtlich des Widerstandes gegen unser christliches Werk informiert wurden“, erklärt Charles C. Eberle. Angelo C. Manera jr. meint dazu: „Wir betrachteten jeden neuen Dienstzweig, der uns vorgeschlagen wurde, als ein neues Mittel, Jehova zu dienen, als eine weitere Möglichkeit, ihm unsere Loyalität zu beweisen, als eine weitere Prüfung unserer Lauterkeit, und wir waren darauf bedacht, unsere Bereitschaft zu beweisen, ihm durch jede Methode zu dienen, die er uns zeigte.“
Grant Suiter erinnert uns daran, daß die Informationsmärsche auf eine Ankündigung im Wachtturm hin nach dem Oktober 1939 eingestellt wurden, aber er fügt hinzu: „Diese ungewöhnliche und erfolgreiche Methode, die Aufmerksamkeit vieler Menschen auf den Dienst der Zeugen Jehovas zu lenken, war damals einzigartig. Die Beendung dieser Tätigkeit wie auch ihre Durchführung zeigt Jehovas Lenkung in dieser Angelegenheit. In unserer Zeit [den 1970er Jahren] werden alle möglichen öffentlichen Demonstrationen durchgeführt, aber wir beteiligen uns daran in keiner Weise, und nichts, was wir tun, kann mit solchen Demonstrationen verwechselt werden.“
DIE „WAHRE WEISHEIT“ DURCH ZEITSCHRIFTEN VERBREITEN
Die Königreichsverkündiger hatten ausgezeichnete Gelegenheiten, beim Einsammeln der „großen Volksmenge“ und bei der Verbreitung der wahren Weisheit mitzuhelfen, indem sie in ihrem Predigtdienst von Haus zu Haus die Zeitschriften Der Wachtturm und Trost im Jahresabonnement anboten. Während des ersten Abonnementsfeldzuges für die Zeitschrift Trost, der in den Monaten April, Mai und Juni des Jahres 1938 durchgeführt wurde, wurden in den Vereinigten Staaten 73 006 neue Abonnements aufgenommen. Der erste Wachtturm-Abonnementsfeldzug fand in den Monaten Januar bis Mai 1939 statt, und Jehovas Zeugen nahmen allein in den Vereinigten Staaten über 93 000 neue Abonnements auf.
Aber die Zeitschriften Der Wachtturm und Trost sollten noch auf eine besondere Weise die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit finden. Die „wahre Weisheit“ sollte regelrecht ‘laut auf den Straßen rufen’ (Spr. 1:20). Wie? Durch den Straßendienst mit Zeitschriften, der im Februar 1940 begann. Bei dieser Tätigkeit stellten sich Jehovas Diener an verkehrsreiche Straßenecken und trugen über den Schultern besonders dafür hergestellte und beschriftete Zeitschriftentaschen, auf denen die Namen der beiden Zeitschriften und der vorgeschlagene Beitrag — 5 Cent pro Exemplar — standen. Der Königreichsverkündiger hielt die Zeitschrift Trost hoch und rief aus: „Veröffentlicht Tatsachen, die keine andere Zeitschrift zu drucken wagt.“ Andere Schlagworte lauteten: „Stellt den religiösen Gimpelfang bloß“ und „Der Wachtturm erklärt die theokratische Regierung“. Die Verkündiger wurden ermahnt, auf der Straße eine gemäßigte, der Botschaft würdige Sprache zu sprechen. Durch diese Tätigkeit wurde natürlich die Aufmerksamkeit der Passanten erregt, und viele reagierten günstig.
Möchtest du gern wissen, wie der Zeitschriftendienst auf der Straße aufkam? S. E. Johnston erinnert sich, daß die Gesellschaft im Jahre 1939 an alle Zonendiener (die Vorgänger der heutigen Kreisaufseher) schrieb und sie bat, verschiedene Möglichkeiten auszuprobieren, wie man die Zeitschriften Der Wachtturm und Trost in die Hände der Menschen legen könnte. Bruder Johnston dachte an die Zeitungsjungen, die Taschen über ihren Schultern trugen. „Warum nicht so etwas ausprobieren?“ überlegte er sich. Dave und Emma Reusch erklärten sich bereit, Zeitschriftentaschen herzustellen, und ihre Tochter, Vera Coates, beschriftete sie farbenprächtig — „Wachtturm auf der einen Seite, Trost auf der anderen“. Als Bruder Johnston die kleine Versammlung in Concord (Kalifornien) besuchte, schloß sich ihm eine Gruppe im Zeugnisgeben auf der Straße an. Er schreibt: „In der nächsten Woche fertigten uns die Reuschs weitere Zeitschriftentaschen an, und diesmal versuchten wir es auf den Geschäftsstraßen von Oakland. Einige Brüder waren anfänglich etwas ängstlich, aber der Straßendienst fand Anklang, und wir erhielten die ersten Bestellungen von anderen Gruppen [Versammlungen] für Zeitschriftentaschen. Da erstattete ich der Gesellschaft Bericht und schickte ihr eine Mustertasche. ... Die Gesellschaft schrieb mir, bedankte sich bei mir und uns allen für das Experiment und sagte, im Informator würde bald eine Ankündigung erfolgen. Das geschah auch.“
Die Gesellschaft traf Vorkehrungen, um die Verkündiger mit Zeitschriftentaschen auszurüsten. Nicholas Kovalak jr. erzählt uns: „Die Verkündiger der Versammlung Passaic (New Jersey) hatten das Vorrecht, die Zeitschriftentaschen für die Gesellschaft herzustellen. Wir schnitten den Stoff zu und nähten dann die Zeitschriftentaschen. Samstags und sonntags versammelten sich alle, die sich eigneten und die bereit waren, in Bruder Frank Catanzaros großer Fabrik und hatten das Vorrecht, die Zeitschriftentaschen für unsere Brüder im ganzen Land zu nähen. ... die Gesellschaft bedruckte sie dann. Immer, wenn wir eine Zeitschriftentasche sahen, dachten wir daran, daß wir einen kleinen Anteil an der Verkündigung des Königreiches Jehovas gehabt hatten.“
Wie fühlte man sich, wenn man zum erstenmal mit den Zeitschriften Der Wachtturm und Trost im Februar 1940 an der Straßenecke stand? Peter D’Mura antwortet: „Wie gut erinnere ich mich noch an den 1. Februar 1940! ... Wie würden wir aufgenommen werden? Wie würden unsere Nachbarn und die anderen Bürger der Stadt reagieren? Wir waren aufgeregt. Wir wollten dies zwei Stunden lang tun. ... Wir waren überrascht. Als wir angemessene Schlagworte ausriefen und die Menschen ansprachen, hatten wir Erfolg. Jeder von uns gab viele Zeitschriften ab.“
Über die Reaktion der Öffentlichkeit schreibt Grace A. Estep: „Die erste Reaktion war Verblüffung, gemischt mit Belustigung und manchmal auch mit etwas Ärger, und die Leute waren oft recht verlegen, wenn sie von einer Straßenseite auf die andere überwechselten, um ihren Nachbarn auszuweichen, mit denen sie nicht sprechen wollten und die zu ignorieren sie sich schämten. Nach den ersten paar Wochen jedoch gaben sie es auf und unterhielten sich mit den Verkündigern oder sahen sich die Schaufenster an, während sie durch die Reihen der Verkündiger Spießruten liefen.“
Manchmal kam es zu Pöbelaktionen, wenn sich Jehovas Diener in jenen Jahren am Zeitschriftenwerk auf der Straße beteiligten. Zum Beispiel erinnert sich H. S. Robbins an eine wütende Pöbelrotte, die ihn und andere Königreichsverkündiger belästigte, als sie vor Jahren in San Antonio (Texas) auf der Straße Zeitschriften anboten. Die Zeugen wurden dabei zwar nicht verletzt, aber sie — nicht die Pöbelrotte — wurden verhaftet. Bruder Robbins fügt hinzu:
„Als wir freigelassen wurden, gingen wir zum Königreichssaal zurück, um uns neu zu organisieren und um zu sehen, was wir als nächstes tun würden. ... Wir organisierten uns neu und gingen sofort wieder zurück.
Als wir ins Stadtzentrum kamen, war gerade ein ,Extrablatt‘ gedruckt worden, und die Zeitungsjungen riefen aus: ,Jehovas Zeugen aus der Stadt gejagt!‘ Und wir standen wieder überall auf den Straßen. ... Wir hatten uns bestimmt nicht aus der Stadt jagen lassen und hatten dies auch nicht vor.“
„WAHLÄLTESTE“
In der Heiligen Schrift werden Gottes Diener mit Schafen verglichen, deren himmlischer Hirte Jehova ist (Ps. 28:8, 9; 80:1; Hes. 34:11-16). Außer seiner Fürsorge erfreuen sie sich der Hilfe und Anleitung des vortrefflichen Hirten, Jesu Christi, sowie des Beistandes anderer Hirten innerhalb der Christenversammlung (Matth. 25:31-46; Luk. 12:32; Joh. 10:14-16; 1. Petr. 5:1-4). Unter Gottes Volk leiteten von den 1870er Jahren an bis 1932 Männer, die von der Versammlung in das Amt eines Ältesten gewählt worden waren, die Versammlungsbibelstudien und hielten Vorträge. Ihnen halfen Männer, die von der Versammlung in das Amt eines Diakons gewählt worden waren. Wie C. W. Barber erzählt, hatten die Ältesten „die Leitung in geistigen Angelegenheiten inne, sie leiteten die Zusammenkünfte, hielten Ansprachen und hatten die allgemeine Aufsicht“, wohingegen die Diakone „als Ordner eingesetzt wurden, sich der Sitzordnung annahmen und in anderer Hinsicht aushalfen“.
Die Ältesten und die Diakone wurden jedes Jahr von allen, die mit der Versammlung verbunden waren, durch Handerheben gewählt. „Was das Wählen betrifft“, erklärt Herbert H. Abbott, „so dachte man damals, daß sich das in Apostelgeschichte 14:23 mit ,ordinierten‘ [King-James-Bibel; „setzten ein“, Neue-Welt-Übersetzung] wiedergegebene griechische Wort auf das Handerheben beziehe und bedeute, daß Klassenführer durch Stimmabgabe gewählt werden müßten. [Siehe Apostelgeschichte 14:23, Rotherham; Elberfelder Bibel.] Wir wußten damals noch nicht, daß die Apostel oder die leitende Körperschaft dieses Wort auch im Sinne von Ernennen oder Einsetzen gebrauchte.“
„Was war ausschlaggebend für die geistige Befähigung derer, die als Aufseher der Versammlung gewählt wurden?“ fragt Henry A. Rheb. Seine Antwort lautet: „Nun, zum Beispiel wurde kein Neuling gewählt, und das war bestimmt biblisch. Vor der Geschäftsversammlung wurden die Befähigungen für das Amt aus 1. Timotheus 3:1-13 und Titus 1:5-9 vorgelesen.“ „Wenn die Kandidaten aufgestellt waren“, sagt Edith R. Brenisen, „wurden wir ernsthaft ermahnt, sorgfältig und gebetsvoll die Befähigungen und Fähigkeiten jedes einzelnen Kandidaten anhand der Bibel zu betrachten und um die Leitung des heiligen Geistes zu bitten, bevor wir unsere Entscheidung träfen. ... zur bestimmten Zeit kamen wir dann wieder zusammen, um diejenigen zu wählen, die nominiert worden waren.“
An einigen Orten gab es bei der Wahl der Ältesten Probleme. Schwester Avery Bristow erinnert sich an „Stimmenfang und Rivalität“ und erzählt: „Dadurch entstanden in einigen Versammlungen unter den Brüdern und Schwestern Spaltungen und Parteien, und einige sprachen noch nicht einmal mit denen, die zu einer anderen Gruppe gehörten.“ James Rettos bemerkt: „Einige wurden sogar sehr ärgerlich, wenn sie nicht gewählt wurden.“
Manchmal entstanden auch Probleme in Verbindung mit dem Predigtdienst. Ursula C. Serenco schreibt: „Alles ging gut, bis die Ankündigung kam, daß alle am Zeugnisgeben von Haus zu Haus und an der Literaturverbreitung teilnehmen sollten, und zwar besonders am Haus-zu-Haus-Dienst an Sonntagen. Das war im Jahre 1927. Unsere Wahlältesten waren dagegen und versuchten, die ganze Klasse davon abzuhalten, sich an dieser Tätigkeit zu beteiligen. Die Klasse begann Partei zu ergreifen, und eine Spaltung wurde sichtbar.“ Einige Älteste hielten den Predigtdienst von Haus zu Haus für sehr wichtig. Und so war dies in manchen Fällen ein entscheidender Punkt bei den jährlichen Wahlen. Wie zum Beispiel H. Robert Dawson erzählt, mußten im Jahre 1929 die Kandidaten für das Amt eines Ältesten oder Diakons in Pittsburgh (Pennsylvanien) folgende Frage beantworten: „Bist du bereit, am Dienstwerk teilzunehmen?“
Gewisse Älteste waren überheblich und wollten nur Vorträge halten, wie Schwester J. M. Norris erzählt. Sie fügt hinzu: „Andere kritisierten Artikel im Wachtturm und waren nicht bereit, ihn weiterhin als Gottes Kanal der Wahrheit anzuerkennen, und sie versuchten immer, andere zu beeinflussen, so zu denken wie sie.“
Man sollte jedoch nicht zu dem Schluß kommen, daß alle Wahlältesten eine falsche Einstellung oder einen schlechten Geist bekundeten. Viele kamen treu ihrer Verantwortung als christliche Hirten des Volkes Gottes nach (1. Petr. 5:1-4). „Nur ein paar warfen immer wieder dem Predigtwerk Hindernisse in den Weg“, sagt James A. Barton. Wie Roy E. Hendrix erzählt, „waren viele von ihnen wirklich ergebene Bibelforscher, echte Zeugen Jehovas“. Clarence S. Huzzey bemerkt diesbezüglich: „Viele dieser Ältesten waren vortreffliche reife christliche Brüder, die um das Wohl der Versammlung besorgt waren.“ Jehova weidete sein Volk, und es gefiel ihm, solche Männer zum Nutzen seiner ihm hingegebenen Anbeter zu gebrauchen.
„Wahlälteste“ führten viele Jahre lang die Aufsicht über die Tätigkeit in der Versammlung. Mit dem Jahre 1932 jedoch ergab sich ein vorübergehender Wechsel. Ältere Glieder der Brooklyner Bethelfamilie erinnern sich noch an die Zusammenkunft, die am Mittwoch, den 5. Oktober 1932 abends im Apollosaal in Brooklyn stattfand. Etwa 300 Glieder der Versammlung New York verabschiedeten damals eine Resolution, durch die die Wahl der Ältesten in New York abgeschafft wurde. (Siehe Wachtturm vom 1. Oktober 1932, S. 298 sowie die Ausgabe vom 15. November 1932, S. 351, 352.) Fast alle anderen Versammlungen hörten sogleich auf, Älteste zu wählen, und verabschiedeten ähnliche Resolutionen. Somit wurden im Jahre 1932 die „Wahlältesten“ durch eine Gruppe reifer christlicher Männer ersetzt, die als „Dienstkomitee“ bezeichnet und von der Versammlung gewählt wurden, um dem örtlichen Dienstleiter zu helfen, der von der Watch Tower Society ernannt worden war.
Die Einführung der neuen Einrichtung im Jahre 1932 brachte einige Probleme mit sich, und einzelne verließen die Organisation. Doch die große Mehrheit der Versammlungen und der Personen, die damit verbunden waren, nahm die organisatorische Änderung dankbar an.
ANDERE ENTWICKLUNGEN IM AUFBAU DER ORGANISATION
Viele Jahre lang bekleideten nur gesalbte Nachfolger Jesu Christi verantwortliche Stellungen in der Christenversammlung. Aber im Jahre 1937 trat ein Wechsel ein. Grant Suiter schreibt diesbezüglich: „In organisatorischer Hinsicht war uns der Rat im Wachtturm vom 1. Mai 1937 [deutsch: 15. August 1937] eine große Hilfe, denn darin hieß es, Personen, die zur Jonadab-Klasse gehörten [d. h. eine irdische Hoffnung hätten], könnten in der Versammlung in Dienststellungen eingesetzt werden. ... In der Ausgabe des Wachtturms vom 15. August [deutsch: 15. September] wurde erklärt, Jonadabe könnten in Dienstkomitees und in ähnlichen Stellungen in den Gruppen [Versammlungen] dienen.“ Wie im Wachtturm gezeigt wurde, konnten „Jonadabe“ „Gruppendiener“ oder vorsitzführender Aufseher werden, falls keine geeigneten Glieder des gesalbten Überrestes zur Verfügung standen. „Wir sehen, wie Jehova den Weg für die große Zunahme ebnete, die noch kommen sollte“, sagte Norman Larson und fügte hinzu: „Dadurch wurden für diejenigen, die zur irdischen Klasse gehörten, wie zum Beispiel für mich, neue Möglichkeiten eröffnet.“
Im Jahre 1938 trat eine weitere bedeutsame organisatorische Entwicklung ein. Die Wachtturm-Artikel „Einheit im Handeln“ (15. Juni) und „Organisation“ (1. und 15. Juli) zeigten, daß die Befugnis, Aufseher und ihre Gehilfen zu ernennen, nicht bei den einzelnen Versammlungen lag. Es wurde vorgeschlagen, daß die Versammlungen überall auf der Welt einen Beschluß faßten, der im Wachtturm dargelegt wurde und die Bitte enthielt, daß die „Gesellschaft“ die Versammlung für den Dienst organisiere „und deren verschiedene Diener bestelle“, das heißt alle, die verantwortliche Stellungen ausfüllen würden. (Siehe Wachtturm von 1938, Seite 101, 102, 215.) Die meisten Versammlungen nahmen diese Resolution an, und die wenigen, die es nicht taten, verloren bald ihre geistige Vision und die Vorrechte, die sie in Verbindung mit dem Königreichsdienst hatten.
DER „KÖNIGREICHSSAAL“
Jehova, der himmlische Hirte, versorgt seine Diener reichlich mit geistiger Speise. Bei ihrer geistigen Ernährung spielen die christlichen Zusammenkünfte eine große Rolle (Hebr. 10:24, 25). Oft haben sich Gottes Diener der Neuzeit in Privatwohnungen versammelt und öffentliche Gebäude gemietet. Und da das himmlische Königreich im Jahre 1914 u. Z. geboren wurde, begann Gottes Volk im Laufe der Zeit, seine Versammlungsstätten als „Königreichssäle der Zeugen Jehovas“ zu bezeichnen.
Wie Domenico Finelli erzählt, wurde der erste Königreichssaal im Jahre 1927 in Roseto (Pennsylvanien) gebaut, und „Bruder Giovanni DeCecca hielt einen öffentlichen Vortrag zur Bestimmungsübergabe“. Doch die Bezeichnung „Königreichssaal“ kam erst von 1935 an allgemein in Gebrauch. In jenem Jahr besuchte der Präsident der Watch Tower Society, J. F. Rutherford, die Hawaii-Inseln und richtete ein Zweigbüro in Honolulu ein. Zu dem Gebäude des Zweigbüros sollte auch ein Versammlungssaal gehören. Dieser Versammlungssaal wurde als „Königreichssaal“ bezeichnet.
Vom Jahre 1935 an haben Jehovas Zeugen an verschiedenen Orten Gebäude gemietet, sie als Versammlungsstätten eingerichtet und als Königreichssäle benutzt. Oft haben Versammlungen Grundstücke gekauft, Gebäude renoviert oder neue Gebäude errichtet, die als Versammlungsstätten zum Bibelstudium und zur Anbetung Gottes dienen sollten. W. L. Pelle erklärte vor kurzem folgendes:
„Die Königreichssäle haben ein ansprechendes Äußeres und sind innen gemütlich und praktisch. Außerdem geben sie, da sie ein ansprechendes Äußeres haben, ein stummes Zeugnis, und Neuinteressierte fühlen sich ,gleich zu Hause‘. Die weitaus größte Arbeit am Bau haben unsere Brüder und interessierte Personen geleistet. Wir mußten uns nicht an Kreditinstitute (der Welt des Teufels) wenden. Das Kapital und die Besitztümer bleiben im Gebrauch des Volkes Jehovas. Das gleiche traf vor langer Zeit auch auf die Israeliten und ihr ‘Zelt in der Wildnis’ zu [Apg. 7:44]. Jemand fragte mich kürzlich: ,Warum nennt ihr euer Gebäude „Königreichssaal“?‘ Ich erwiderte, die erste Bedeutung die in meinem Wörterbuch für ,Saal‘ angegeben werde, laute: ‚ein Gebäude, das einer öffentlichen Sache gewidmet ist‘. Unsere Königreichssäle sind ausschließlich der Sache des allmächtigen Gottes und seines Königreiches gewidmet. Es könnte also keinen passenderen Namen geben.“
ZONENDIENST STÄRKT JEHOVAS VOLK
Während damals, in den 1930er Jahren, die „große Volksmenge“ in immer größerer Zahl in die Königreichssäle strömte, begann eine Tätigkeit, durch die die Versammlungen des Volkes Gottes gestärkt werden sollten (Offb. 7:9). Es war der Zonendienst, der dem heutigen Kreisdienst entsprach. Ungefähr zwanzig Versammlungen in einem bestimmten Gebiet des Landes bildeten eine Zone. Die Gesellschaft ernannte einen Zonendiener, der jede Versammlung besuchen und im allgemeinen eine Woche dort bleiben sollte. Seine Aufgabe bestand darin, die Versammlungen in organisatorischer Hinsicht zu stärken und ihnen auch im Predigtwerk zu helfen. Von Zeit zu Zeit wurden die Versammlungen in einer Zone zu einem Zonenkongreß versammelt, wo sie biblische Belehrung und geistige Hilfe erhielten. Vom Hauptbüro der Gesellschaft wurden besondere Diener zu diesen Kongressen gesandt. Der Zonendienst nahm am 1. Oktober 1938 seinen Anfang und wurde bis zum November des Jahres 1941 fortgesetzt.
Edgar C. Kennedy erklärt, wie Christen den Zonendienst aufnahmen: „Sie hatten einen guten Geist und brachten liebevoll ihre Wertschätzung für unsere Besuche zum Ausdruck. Alle Gruppen [Versammlungen] waren klein, aber man konnte beobachten, daß sie rührig waren. Zufolge ihrer Bereitschaft, theokratische Anweisungen anzunehmen, ihrer Liebe zur Wahrheit, ihrer Reaktion auf den Gruppendienst und ihrer Tätigkeit mit den Musterstudien wurden erste Anzeichen des Wachstums sichtbar. Verschiedene neue Gruppen wurden gebildet.“
„RETTUNG GEHÖRT JEHOVA“
In jenen Tagen war bestimmt eine starke christliche Organisation notwendig, denn Jehovas Zeugen waren der Gegenstand heftiger Verfolgung. Sie begann im Jahre 1935. Wieso? Nun, am Montag, dem 3. Juni, beantwortete Bruder Rutherford auf dem Kongreß in Washington (D. C.) eine Anfrage von Schulkindern über den Fahnengruß. Er sagte den Kongreßteilnehmern, es sei ein Akt der Untreue gegenüber Gott, wenn man ein irdisches Emblem grüße und ihm Rettung zuschreibe. Rutherford sagte, er würde es nicht tun.
H. L. Philbrick bemerkte, Rutherfords Antwort müsse „von einigen jungen Leuten gehört worden sein, denn als in jenem Herbst die Schule wieder begann, erschienen plötzlich in den Zeitungen von Boston Schlagzeilen über einen Jungen aus Lynn (Massachusetts), der sich geweigert hatte, zu Beginn des neuen Schuljahres in der Schule die Fahne zu grüßen. Sein Name war Carleton Nichols. Am gleichen Tag nahm ein junges Mädchen, Barbara Meredith, in ihrer Schule in Sudbury (Massachusetts) die gleiche Haltung ein.“ Aber die Presse erfuhr nichts von ihr, da sie einen toleranten Lehrer hatte, der daraus keine Streitfrage machte.
Als es der junge Carleton B. Nichols jr. am 20. September 1935 ablehnte, die Fahne zu grüßen, wurde dieser Vorfall im ganzen Land publiziert. Die Associated Press wandte sich an den Präsidenten der Watch Tower Society, J. F. Rutherford, und bat ihn um eine offizielle Stellungnahme bezüglich der Ansicht der Zeugen Jehovas in dieser Angelegenheit. Die Stellungnahme wurde gegeben, aber die Presse weigerte sich, sie zu veröffentlichen. Daher sprach Rutherford am 6. Oktober 1935 in einer Rundfunksendung, die im ganzen Land ausgestrahlt wurde, über das Thema: „Eine Fahne grüßen“. Dieser Vortrag wurde in der 32seitigen Broschüre Loyalty veröffentlicht und in Millionen Exemplaren verbreitet. In dieser Antwort an die Presse zeigte Rutherford, daß Jehovas Zeugen die Fahne respektieren, daß ihnen aber ihre biblischen Verpflichtungen und ihr Verhältnis zu Gott strikt verbieten, irgendein Bildnis zu grüßen. Für Jehovas Diener sei dies ein Akt der Anbetung, der im Widerspruch zu den Grundsätzen stehe, die in den Zehn Geboten dargelegt würden (2. Mose 20:4-6). In der Antwort hieß es ferner, daß in erster Linie die christlichen Eltern die Pflicht hätten, ihre Kinder zu belehren, und daß den Kindern die Wahrheit entsprechend dem Verständnis ihrer Eltern über die Heilige Schrift gelehrt werden müsse.
Zwar waren viele Schulbehörden und Lehrer großzügig, aber andere handelten eigenmächtig und verwiesen Kinder von Zeugen Jehovas von der Schule, wenn sie sich weigerten, die Fahne zu grüßen. Zum Beispiel wurden am 6. November 1935 zwei Kinder von Zeugen aus diesem Grund in Minersville (Pennsylvanien) von einer öffentlichen Schule verwiesen. Ihr Vater, Walter Gobitis, strengte einen Prozeß gegen die Schulbehörde, den Minersville School District, an. Der Prozeß begann vor dem US-Bundesbezirksgericht für den östlichen Bezirk Pennsylvaniens und wurde zugunsten der Zeugen Jehovas entschieden. Als gegen das Urteil Berufung eingelegt wurde, gewannen die Zeugen den Fall auch vor dem Kreisberufungsgericht. Aber als nächstes kam der Fall vor das Oberste Bundesgericht der Vereinigten Staaten. Das Gericht stieß im Juni 1940 mit acht Stimmen gegen eine das günstige Urteil um, und das hatte verhängnisvolle Folgen.
An einem Ort nach dem andern wurden Christen wegen ihrer biblischen Haltung bezüglich des Fahnengrußes verfolgt. Zum Beispiel griff eine Pöbelrotte, der sich einige Polizisten angeschlossen hatten, am 20. Juni 1940 Jehovas Zeugen während einer dem Bibelstudium gewidmeten Zusammenkunft in Rockville (Maryland) an. Nachdem sie in den Königreichssaal eingedrungen war, hielt der Anführer der Pöbelrotte eine Fahne hoch und rief: „Ich gebe euch zwei Minuten amerikanische Zeit, um diese Fahne zu grüßen. Tut ihr es nicht, gibt es Blutvergießen.“ Sotir K. Vassil berichtet: „Eine Minute lang herrschte Stille, dann geriet plötzlich ein Mann, der die Zusammenkunft zum erstenmal besuchte, in Furcht, sprang auf, grüßte die Flagge und ging hinaus ... Niemand anders grüßte die Flagge. Als die zwei Minuten um waren, schlug mir der Anführer alles aus der Hand und gab der Pöbelrotte den Befehl, alles zu zerstören, die Stühle usw., und die Gegenstände begannen zu fliegen. Die beiden Polizisten mit ihren Pistolen an der Hüfte waren mit ihnen im Saal, und ich ging zu ihnen und fragte sie, ob sie nicht etwas unternehmen könnten. Sie hielten es nicht einmal für nötig zu antworten und unternahmen auch nichts, um die Pöbelrotte aufzuhalten.“ Es wurde immer schlimmer. „Sie benahmen sich wie eine Horde Dämonen“, sagt Bruder Vassil, „und stießen und schoben uns aus dem Saal. Ständig riefen sie: ,Tötet sie! Tötet sie! Sie sind Nazis.‘ Einige der Kinder im Saal fingen an zu weinen, und einige von der Pöbelrotte schrien: ,Werft diese Schreihälse aus dem Fenster!‘ Sie jagten uns mit Fußtritten aus dem Gebäude auf die Straße und schrien nun: ,Treibt sie aus der Stadt! Treibt sie aus der Stadt!‘ “
Nachdem Bruder Vassil der Pöbelrotte entronnen war, nahm er mit dem Zonendiener, Charles Eberle, Kontakt auf, und dieser berichtete den Vorfall sofort dem Justizminister der Vereinigten Staaten. Am nächsten Tag wurde der Vorfall vom Bundeskriminalamt (Federal Bureau of Investigation) untersucht. Schließlich kam es zu einer Gerichtsverhandlung, und Bruder Vassil erzählt uns: „Nach dem Prozeß, der zu unseren Gunsten und zu Jehovas Ehre entschieden wurde, ließ die Stadt Rockville unseren Königreichssaal bei jeder Zusammenkunft bewachen, damit ein solcher Vorfall nicht wieder vorkäme. Diesmal war es Satan nicht gelungen, unsere neugegründete Versammlung und unseren Königreichssaal zu vernichten (Jes. 54:17).“
Dieser Bericht ist nur ein Beispiel. Es gab noch viele weitere solche Vorfälle. Zum Beispiel wurde in Connersville (Indiana) ein Rechtsanwalt der Zeugen geschlagen und aus der Stadt gejagt. Diese gewalttätige Verfolgung kam über Jehovas Zeugen, weil sie sich streng an die Heilige Schrift hielten und mutig die Ansicht vertraten, daß ihre Rettung und Befreiung von Feinden und Gefahren nicht von irgendeiner Nation käme, sondern von Gott. Ja, „die Rettung gehört Jehova“ (Ps. 3:8).
KÖNIGREICHSSCHULEN
Der obligatorische Fahnengruß in den Schulen führte dazu, daß viele Schüler, die Zeugen Jehovas waren, von der Schule verwiesen wurden. Doch die Watchtower Society half wahren Christen, ihren Kindern eine Schulbildung zu ermöglichen. Das geschah schon 1935, indem private „Königreichsschulen“ eröffnet wurden. In diesen Schulen setzten qualifizierte Lehrer aus den Reihen der Zeugen Jehovas ihre Zeit und Kraft ein und unterrichteten Kinder, die von der Schule verwiesen worden waren. Gottes Volk organisierte und finanzierte diese Privatschulen an verschiedenen Orten.
Eine der Königreichsschulen befand sich in Lakewood (New Jersey). C. W. Erlenmeyer, der diese Schule besuchte, erzählt, daß der Königreichssaal der Versammlung Lakewood sowie der Schulraum, eine Küche und der Speisesaal im ersten Stock waren. Die Schlafzimmer für die Mädchen befanden sich im zweiten Stock und die der Jungen im dritten. „Natürlich“, sagt Bruder Erlenmeyer, „wohnten die meisten von uns dort und fuhren höchstens an den Wochenenden nach Hause. Diejenigen, die weiter weg wohnten, fuhren jedes zweite Wochenende nach Hause, und im letzten Schuljahr fuhren wir wegen der Benzinrationierung im Krieg nur jedes dritte Wochenende nach Hause.“
Es waren auch ein Koch und eine Haushälterin zur Stelle, die reichlich Arbeit hatten. Aber auch die Kinder hatten ihre Arbeitszuteilungen. Sie halfen in der Küche, wuschen und trockneten das Geschirr ab, brachten den Abfall hinaus usw. Am Frühstückstisch wurde der Tagestext behandelt, und jeder Schultag begann mit einem halbstündigen Bibelstudium. Auf diese Weise wurden die Kinder geistig ernährt. Außerdem hatten sie die Gelegenheit, samstags und sonntags das, was sie gelernt hatten, im Predigtdienst anzuwenden.
Eine andere Königreichsschule wurde in Gates (Pennsylvanien) eingerichtet. Dort unterrichtete Grace A. Estep, eine Lehrerin, die entlassen worden war, weil sie in ihrer Klasse Treueid und Fahnengruß nicht leisten ließ. Schwester Estep erinnert sich, daß das erste Jahr der Schule ziemlich „turbulent“ war, da die Behörden auf alle mögliche Weise versuchten, Gründe dafür zu finden, die Schule zu schließen. Sie erzählt: „Oft kamen Schulbeamte und andere Beamte in den Schulraum, um Fehler zu finden oder um zu stören. Auch war ein großer Teil der Bevölkerung von patriotischer Leidenschaft erfüllt. Einmal versammelte sich eine Menschenmenge, um eine Bombe zu legen oder die Schule abzubrennen, und machte dann dem Eigentümer Vorwürfe, daß er uns die Räumlichkeiten vermietet hatte. Aber da der Eigentümer ein führender Bürger der Stadt war und da sie nicht herausfinden konnten, wie sie auf die Schule einen Bombenanschlag verüben konnten, ohne daß der Friseursalon [der sich im gleichen Gebäude befand] in Mitleidenschaft gezogen worden wäre, gaben sie ihr Vorhaben auf.“ Schließlich wurde die Zahl der Schüler immer größer, und es mußten ein Kindergarten, acht Klassen Grundschule und vier Klassen höhere Schule eingerichtet werden.
Wie erging es den Teilnehmern der Königreichsschule, was ihre Ausbildung betrifft? Lloyd Owen, der in Saugus (Massachusetts) lehrte, berichtet: „Wir führten den Leistungstest durch, um zu sehen, wie gut wir unterrichtet hatten. Meistens waren die Schüler eine halbe bis eine ganze Note besser, als sie es hätten sein müssen. ... Wir prüften die Schüler zweimal im Jahr, und sie hielten ihre guten Noten.“
Unter allen, die mit den Königreichsschulen zu tun hatten, herrschte ein guter Geist. „Die Freunde waren einfach wunderbar und boten immer Hilfe an“, erzählt Schwester Estep. „Es war eine Art Gemeinschaftssache, und zu der ,Gemeinschaft‘ gehörte jeder, der irgendwie mit den Königreichsschulen zu tun hatte. Mein Herz fließt von Liebe und Wertschätzung über, wenn ich mich an all die wunderbaren Dinge erinnere, die die lieben Freunde in jenen Tagen taten. Ihre Liebe zu Jehova kannte keine Grenzen. Und obwohl sie nur wenig Geld hatten, setzten sie ihre Zeit und Kraft ein, um uns mit dem Notwendigen zu versehen.“
OBERSTES BUNDESGERICHT STÖSST EIGENES URTEIL UM
Am 8. Juni 1942 entschied das Oberste Bundesgericht der Vereinigten Staaten im Fall Jones gegen Opelika, bei dem es um die Gewerbescheingebühr ging, mit fünf zu vier Stimmen gegen Jehovas Zeugen. Interessanterweise jedoch vertraten die Richter Black, Douglas und Murphy nicht nur eine abweichende Meinung, sondern widerriefen ihr Urteil im Fahnengruß-Fall Gobitis vom Jahre 1940. Diesen Anlaß nahm der Rechtsanwalt der Watchtower Society wahr, um bei dem Bezirksgericht für den südlichen Bezirk von West Virginia eine gerichtliche Verfügung gegen das Erziehungsministerium von West Virginia zu erwirken. Wozu? Um die Durchsetzung des Gesetzes über den obligatorischen Fahnengruß zu verhindern. Ein aus drei Richtern bestehendes Gericht entschied einstimmig zugunsten der Zeugen Jehovas, aber das Erziehungsministerium von West Virginia legte Berufung ein. Am Tag der Fahne, am 14. Juni 1943, revidierte das Oberste Bundesgericht der Vereinigten Staaten seine Haltung im Fall Gobitis, indem es (im Fall West Virginia State Board of Education gegen Barnette) entschied, daß die Schulbehörde nicht das Recht habe, Kinder von Zeugen Jehovas, die den Fahnengruß verweigerten, von der Schule zu verweisen und ihnen somit die Ausbildung zu versagen.
Durch diese Entscheidung widerrief das Oberste Bundesgericht das Urteil, das es im Fall Gobitis gefällt hatte. Damit waren zwar nicht alle Probleme beseitigt, die mit der christlichen Einstellung gegenüber dem Fahnengruß zusammenhingen, aber die Königreichsschulen waren nicht länger notwendig. Daher konnten die Kinder von Jehovas Zeugen nach acht Jahren zum erstenmal wieder öffentliche Schulen besuchen.
„VERTEIDIGUNG UND GESETZLICHE BEFESTIGUNG DER GUTEN BOTSCHAFT“
Jehovas christliche Zeugen, ob alt oder jung, sind auf Verfolgung gefaßt, denn Jesus sagte seinen Jüngern: „Ihr werdet um meines Namens willen Gegenstand des Hasses aller Leute sein“ (Matth. 10:22). „In der Tat“, so schrieb Paulus, „werden alle, die in Gemeinschaft mit Christus Jesus in Gottergebenheit leben wollen, auch verfolgt werden“ (2. Tim. 3:12). Bisweilen hat die Verfolgung dazu geführt, daß Christen aufgrund falscher Anklagen verhaftet wurden, manchmal, weil sie ohne Genehmigung Waren verkauft oder den Frieden gestört hätten. Anfangs führte man noch keine Statistiken darüber, doch im Jahre 1933 wurden in den Vereinigten Staaten 268 Verhaftungen gemeldet. 1936 waren es schon 1 149. Man stufte Jehovas Zeugen unrichtigerweise als Vertreter oder Hausierer statt als Verkündiger des Evangeliums ein.
Jehovas Zeugen ließen sich aber keineswegs widerstandslos verhaften, aburteilen und ins Gefängnis werfen. Grundsätzlich legten sie bei jeder Verurteilung vor Gericht Berufung ein. Mit Jehovas Hilfe konnten sie ‘die gute Botschaft verteidigen und gesetzlich befestigen’ (Phil. 1:7).
Es ist unmöglich, auf so wenigen Seiten den ganzen spannenden Ablauf wiederzugeben und die vielen Szenen tapferen theokratischen Kriegszuges lebendig werden zu lassen, in denen Jehovas Diener für die Freiheit zu predigen kämpften. Doch es mag gut sein, mit der bewegenden „Schlacht von New Jersey“ zu beginnen. Der „erste Schuß“ fiel 1928, als einige Diener Gottes in South Amboy (New Jersey) festgenommen wurden. Der Mittelpunkt des katholischen Schlachtfeldes gegen die Zeugen in diesem Gebiet wurde jedoch Plainfield.
ZWISCHENFALL IN PLAINFIELD
Da das Volk Jehovas in Plainfield besonders stark verfolgt wurde, beschloß J. F. Rutherford, dort einen Vortrag über das Thema „Warum gibt es in diesem Land heute religiöse Unduldsamkeit?“ zu halten. Am 30. Juli 1933 erschienen zu dieser besonderen Veranstaltung über fünfzig Polizisten, die weder eingeladen noch erwünscht oder nötig waren, angeblich, um den Theatersaal zu bewachen. Sie waren ohne Zweifel auf Veranlassung der katholischen Geistlichkeit gekommen, die sich sehr bemühte, die Zusammenkunft zu vereiteln und vielleicht auch den Redner loszuwerden.
Bei seiner Ankunft im Theater sieht Bruder Rutherford, daß hinter den Vorhängen zwei Maschinengewehre der Polizei aufgestellt sind, die auf ihn und die Zuhörerschaft gerichtet sind. Er protestiert, doch die Polizisten mit ihren Gewehren rühren sich nicht von der Stelle. Sie sagen, sie hätten einen Hinweis bekommen, daß es Zusammenstöße geben würde, und sie seien da, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. George Gangas berichtet, daß die Atmosphäre während der ganzen Ansprache gespannt war. Ihn berührten besonders die folgenden Äußerungen, die Rutherford gegen Ende seiner Ansprache machte:
„Schmach und Schande aber über die Priester und Pfarrer, die in geheimem Einverständnis mit den Verfolgern der Zeugen Jehovas stehen und die Verfolgung veranlaßt haben, um das Volk in Unwissenheit über die Wahrheit zu halten und sich so vor Bloßstellung zu schützen; Schmach und Schande über die öffentlichen Beamten, die zur Förderung ihrer selbstsüchtigen Ziele Jehovas Zeugen bereitwillig als eigennützige Hausierer und Straßenverkäufer klassifiziert haben; Schmach und Schande über die Juristen, die auf dem Richterstuhl sitzen oder als Rechtsanwälte tätig sind und die aus Furcht, sie könnten etliche persönliche Vorteile verlieren, der zur Entscheidung vorliegenden Frage aus dem Wege gegangen sind und es unterlassen und sich geweigert haben, eine unparteiische Entscheidung darüber zu fällen, ob man durch das Erlassen und Durchführen von Gemeindeverordnungen gegen Hausierer und Straßenverkäufer am Predigen des Evangeliums vom Königreiche Gottes gehindert werden darf oder nicht.“
Bruder Gangas gesteht ein: „Ich sagte mir: ,Jetzt schießen sie! Jetzt werden sie ihn festnehmen!‘ Doch es war so, wie es in der Einleitung der Broschüre Intoleranz steht: ,Der Engel des Herrn lagert sich um die her, welche ihn fürchten, und er befreit sie‘ “ (Ps. 34:7). Trotz der gespannten Lage hielt Bruder Rutherford seinen Vortrag ohne Zwischenfälle. Die Ansprache wurde begeistert aufgenommen, ebenso auch die Broschüre Intoleranz, die später veröffentlicht und weit verbreitet wurde.
EIN DIKTATOR HÖRT VON JEHOVAS ZEUGEN
Jehovas Zeugen kämpften nicht nur in den Vereinigten Staaten um Rede- und Religionsfreiheit. Im Juni 1933, im sogenannten „Heiligen Jahr“, beschlagnahmte das Hitlerregime das Eigentum der Watch Tower Society in Magdeburg. Jehovas Volk in Deutschland wurde nicht mehr gestattet, Zusammenkünfte abzuhalten und Literatur zu verbreiten, wenn auch das Eigentum im Oktober zurückgegeben wurde. Am 7. Oktober 1934 fanden sich die Zeugen in Deutschland in Gruppen zusammen und sandten nach einem ernsten Gebet ein Protesttelegramm an Mitglieder der Hitler-Regierung. Gottes Diener in anderen Ländern sahen dem indessen nicht tatenlos zu.
„Eines Abends während einer Dienstzusammenkunft im Jahr 1934 wurden wir gebeten, am Sonntagmorgen um 9 Uhr im Königreichssaal zu sein; es sei etwas Besonderes geplant“, erinnert sich Gladys Bolton. „Alle waren aufgeregt! Was konnte das sein? Am Sonntagmorgen war das Haus voll. Der Redner gab bekannt, daß sich heute Jehovas Zeugen in der ganzen Welt träfen, um zur gleichen Zeit Telegramme an Hitler zu schicken, in denen er aufgefordert werde, die Verfolgung gegen Jehovas Zeugen in Deutschland einzustellen.“ Nach einem Gebet sandte jede Gruppe folgendes Telegramm: „Hitler-Regierung, Berlin, Deutschland. Ihre schlechte Behandlung der Zeugen Jehovas empört alle guten Menschen und entehrt Gottes Namen. Hören Sie auf, Jehovas Zeugen weiterhin zu verfolgen, sonst wird Gott Sie und Ihre nationale Partei vernichten.“ Die Botschaft war mit „JEHOVAS ZEUGEN“ unterzeichnet, gefolgt von dem Namen der Stadt, in der sie sich versammelt hatten.
Die Telegramme verursachten damals beträchtliche Aufregung, sogar in einigen Telegrammannahmestellen in den Vereinigten Staaten. „In Keysville (Virginia) und auch in anderen Städten“, sagt Melvin Winchester, „fiel der Telegrafist beinahe in Ohnmacht, als die Freunde ihr Telegramm aufgaben.“
Wie reagierte das Naziregime darauf? Die Verfolgung gegen Jehovas Zeugen wurde schlimmer. Doch Gottes Volk in Deutschland und in der übrigen Welt war auf den Widerstand und die Schwierigkeiten, die ihm bevorstanden, vorbereitet worden. Jehova sorgte zur rechten Zeit dafür, daß es die notwendige Belehrung und Ermunterung aus der Schrift erhielt. Dies war gegen Ende 1933 durch den Wachtturm-Artikel „Fürchtet euch nicht“ geschehen. Darin wurde die Feindseligkeit der römisch-katholischen Kirche bloßgestellt, und der Artikel wies darauf hin, daß die Verfolgung den Tod einiger treuer Diener Gottes bedeuten könnte. Doch Gottes Volk wurde angespornt, mutig und freudig für seinen Namen Zeugnis abzulegen, so daß es an der Rechtfertigung dieses heiligen Namens einen Anteil hätte.
HILFE BEI DER VERTEIDIGUNG
Dies waren Zeiten der Glaubensprüfung für Christen. Sie kamen zwar nicht bei jedem offenen Widerstand, auch nicht bei jeder Festnahme, gleich vor Gericht. Doch es kam oft vor, daß Jehovas Diener Rechtsbeistand benötigten, um sich vor den Gerichten der Vereinigten Staaten erfolgreich zu verteidigen. Um den Königreichsverkündigern zu helfen, richtete die Watchtower Society im Hauptbüro in Brooklyn (New York) eine Rechtsabteilung ein.
Zurückblickend, erinnert sich Robert E. Morgan: „In unseren wöchentlichen Dienstzusammenkünften studierten wir eine Broschüre, die die Gesellschaft über das Vorgehen vor Gericht herausgegeben hatte [Order of Trial], und waren bemüht, für den Umgang mit Polizisten und Richtern gewappnet zu sein, die uns ständig im Predigtdienst belästigten. Wir lernten in den Dienstzusammenkünften, wie man sich verhält, wenn man von der Polizei angehalten wird, welche Rechte wir als Staatsbürger haben und wie man verfahren muß, um eine solide rechtliche Handhabe zur Verteidigung der guten Botschaft zu haben, falls wir wegen einer Verurteilung gezwungen wären, vor höhere Instanzen zu gehen.“
„In Demonstrationen während der Dienstzusammenkünfte wurde das Verfahren von der Verhaftung bis zum Ende der Verhandlung und der Erledigung des Falles vorgeführt“, entsinnt sich Ray C. Bopp und fügt hinzu: „Diener in der Versammlung übernahmen die Rollen des Staatsanwaltes und des Verteidigers; manche ,Verhandlungen‘ dauerten einige Wochen lang.“
VON DER VERHAFTUNG GLEICH INS GEFÄNGNIS
Die Rechtsbroschüren der Gesellschaft und die gute Schulung in den Dienstzusammenkünften waren Gottes Dienern eine große Hilfe. Doch für das harte Leben hinter Gittern konnte nur Jehova selbst sein Volk stärken. Paulus sagte: „Für alles bin ich stark durch den, der mir Kraft verleiht“ (Phil. 4:13).
Hunderte von christlichen Zeugen Jehovas wurden während der aufregenden 1930er und 1940er Jahre verhaftet und ins Gefängnis geworfen. Homer L. Rogers sagt über die rechtlichen Probleme, denen sich Gottes Volk in einer Gegend gegenübersah, folgendes: „In der Stadt La Grange [Georgia] hatte man sich eine Verordnung ausgedacht, nach der niemand an irgendeiner Tür in La Grange vorsprechen konnte, um dem Wohnungsinhaber irgend etwas Gedrucktes anzubieten. Dies war gegen Jehovas Zeugen gerichtet und wurde auch nur gegen Jehovas Zeugen angewendet.“ Woher konnte er das so genau wissen? Einwohner der Stadt bestätigten, daß alle möglichen anderen Druckschriften in La Grange verbreitet wurden, ohne daß die Behörden irgend etwas unternommen hätten.
Am 17. Mai 1936 wurden 176 Zeugen in La Grange festgenommen, weil sie gepredigt hatten; alle kamen ins Gefängnis. Am Tag darauf ließ man die Frauen frei, doch die 76 Männer wurden 14 Tage lang im Kreisgefängnis, 6 Kilometer vor der Stadt, festgehalten. Die Insassen dieses Gefängnisses mußten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang Straßenbauarbeiten verrichten, wobei sie in Trupps aneinandergekettet waren. Das Gericht sprach die Zeugen schuldig und verurteilte jeden zu einer Geldstrafe von einem Dollar oder 30 Tagen Gefängnis, wie C. E. Sillaway erzählt. Da die Strafverfolgungsbehörde angeordnet hatte, daß von den Brüdern keine Sicherheitsleistung angenommen werden sollte, wurde ihnen nach amerikanischem Recht praktisch die Möglichkeit genommen, in die Berufung zu gehen. Am 28. Mai 1937 kehrten daher 57 von ihnen ins Gefängnis zurück, um ihre 30 Tage Haft zu beenden. Obwohl unschuldig, trugen diese Zeugen Gefangenenkleidung, mußten sich in den kalten Nächten zu zweit eine Decke teilen und verrichteten schwere Arbeit im Straßenbau und anderswo.
Die Gefangenen mußten viel ertragen. Doch sie hatten auch Gelegenheit, andere geistig zu stärken. Bruder C. E. Sillaway schreibt: „Gegen Ende unserer 30 Tage teilte man meine Gruppe und eine weitere, zusammen 12 Gefangene, zur Arbeit auf einem abseits gelegenen Farbigenfriedhof zu. Während des Vormittags kam ein Leichenzug zum Haupteingang herein und wartete dort, während der Leichenbestatter auf uns zukam. Es schien, daß die Familie nicht genügend Geld gehabt hatte, um sich einen Prediger für das Begräbnis zu leisten; daher hatte niemand eine Predigt gehalten oder ein Gebet gesprochen. Man fragte, ob wohl jemand von uns Predigern bereit wäre, ein paar Worte zu sprechen. Wir hatten das Vorrecht, zu der kleinen Gruppe von Leuten über den wahren Zustand der Toten und die Hoffnung der Auferstehung zu sprechen. Ihnen machte es nichts aus, daß wir Gefangenenkleidung trugen.“
Theresa Drake erzählt, daß sie die Unduldsamkeit gegen Gottes Volk zum ersten Mal zu Beginn der 1930er Jahre zu spüren bekam, als man sie in Bergenfield (New Jersey) das erste Mal verhaftete. Sie fährt fort: „In Plainfield (New Jersey) nahm man mir zum ersten Mal die Fingerabdrücke ab. Dort mußte ich zusammen mit 28 anderen Schwestern die Nacht verbringen. Man hatte uns in eine kleine Zelle gesteckt, und da wir 29 Personen waren, hatten wir keinen Platz, uns zum Schlafen hinzulegen. Schließlich brachte man uns in den Gymnastikraum desselben Gebäudes, und dort gab es Matten, auf denen wir liegen konnten. Ich kann mich erinnern, wie ein Polizist die Tür öffnete, zu uns hereinschaute und sagte: ,Wie Schafe, die zur Schlachtung geführt werden.‘ “
Über einen anderen Fall schreibt Schwester Drake: „In Perth Amboy nahm man uns fest und hielt uns von 10 Uhr morgens bis 8 Uhr abends gefangen. Damals lernte ich Bruder Rutherford kennen. Er kam, um für uns 150, die verhaftet worden waren, Kaution zu hinterlegen. Man hatte uns in einen großen Saal des Gerichtsgebäudes gesperrt. Draußen holten die Leute Bücher und Literatur aus unseren Autos und verstreuten sie vor dem Gerichtsgebäude über den gesamten Rasen. Im Gerichtssaal wartete hinten ein halbes Dutzend Männer, die Bruder Rutherford fassen wollten. Sie stießen zwar Drohungen aus, bekamen ihn jedoch nicht in ihre Gewalt, da wir alle um ihn herum waren, als er das Gerichtsgebäude verließ und dann schnell mit einem fremden Wagen wegfuhr.“
Edna Bauer berichtet über einige Städte in Ohio und West Virginia: „Viele der Freunde wurden festgenommen und mit Feuerwehrautos ins Gefängnis gebracht, deren Sirenen heulten und somit lautstark die Aufmerksamkeit auf die Festnahme lenkten.“ Oft wurden viele auf einmal ins Gefängnis geworfen, wobei man keinerlei Rücksicht auf das Alter nahm. Schwester J. W. Bennecoff erinnert sich zum Beispiel an einen Vorfall in Columbia (Südkarolina), „bei dem 200 Personen auf einmal ins Gefängnis geworfen wurden, von denen der Jüngste 6 Wochen alt war“.
Der Gefängnisaufenthalt konnte sehr beschwerlich sein. Earl R. Dale erinnert sich, wie er in Somersworth (New Hampshire) als Christ zu Unrecht gefangengehalten wurde, und schreibt: „Ich versuchte zu schlafen, doch das Gefängnis war nicht allzu sauber. Nachts krabbelten kleine Lebewesen über uns hinweg, für die ich nicht viel übrig hatte, die aber viel für mich übrig hatten.“ Bruder und Schwester R. J. Adair waren 1941 78 Tage im Gefängnis, weil sie die gute Botschaft in Caruthersville (Missouri) gepredigt hatten. Schwester Adair beschreibt ihren Aufenthaltsort als ein „Verlies“. Während ihrer Einkerkerung nahm ihre Gesundheit Schaden. „Es war nicht gerade angenehm, 78 Tage lang mit einer Decke und einem Kissen auf dem Betonfußboden zu schlafen“, gibt sie zu. „Doch das wichtigste war, daß wir Jehova treu blieben.“
Wenn Jehovas Zeugen in den Vereinigten Staaten auch oft ins Gefängnis geworfen wurden, weil sie die Königreichsbotschaft predigten, wurden sie dadurch doch nicht zum Schweigen gebracht. Sie predigten die gute Botschaft einfach als Gefangene weiter. Dora Wadams hatte zum Beispiel mehrmals Gelegenheit, im Gefängnis zu predigen. Als in einem Gefängnis von Newark (New Jersey) bekannt wurde, daß die Zeugen freigelassen werden würden, erinnert sie sich, daß folgendes geschah: „Eines Abends, als wir in unseren Zellen eingesperrt waren, hörten wir die Gefangenen um uns herum sagen: ,Morgen kommen die Bibelforscher hier heraus. So wie jetzt wird es im Gefängnis nie wieder sein. Es ist, als ob sie Engel wären, die zu uns geschickt wurden.‘ “
IHR AUFTRETEN VOR GERICHT
Jehovas Diener waren bereit, sich und ihr von Gott aufgetragenes Werk zu verteidigen, falls ihre Verhaftung zu einer Verhandlung führte. Manches Mal stand ihnen nicht einmal ein Anwalt zur Seite. Im Jahre 1938 beispielsweise erhielt Roland E. Collier aus der Versammlung Orange (Massachusetts) die Genehmigung, im nahe gelegenen Ort Athol einen Lautsprecherwagen einzusetzen. Er war zusammen mit einem anderen Bruder in dem Lautsprecherwagen und spielte die Schallplattenaufnahme „Feinde“ ab, während andere Königreichsverkündiger von Tür zu Tür predigten. Man nahm Bruder Collier fest und klagte ihn an, er sei von Haus zu Haus gegangen, obwohl er das bei dieser Gelegenheit nicht getan hatte. Er berichtet: „Wir blickten der Verhandlung mit Interesse entgegen und bereiteten uns vor. Ich studierte die Broschüre Order of Trial sorgfältig, die die Gesellschaft herausgegeben hatte, damit man sich auf Gerichtsverhandlungen vorbereiten könnte. Am Tag der Verhandlung waren einige Brüder im Saal anwesend, um mir Mut zu machen. Ich folgte genau der Verfahrensweise, die die Gesellschaft beschrieben hatte, wobei ich sogar mit dem Polizeichef ein Kreuzverhör anstellte. Nachdem die Beweisaufnahme im Verlauf eines vollständigen Gerichtsverfahrens abgeschlossen war, wurde ich freigesprochen, und in der Zeitung stand die Schlagzeile ,BÜRGER VON ORANGE PREDIGT SICH AUS DEM GEFÄNGNIS HERAUS‘.“
Einige Rechtsanwälte, die keine Zeugen Jehovas waren, gaben sich bei der Verteidigung des Volkes Gottes große Mühe. Doch oft vertraten Anwälte, die selbst Zeugen waren, ihre Mitgläubigen vor Gericht. Unter ihnen war Victor Schmidt. Seine Frau Mildred sagt unter anderem: „Nachdem das Oberste Bundesgericht der Vereinigten Staaten in der Frage des Flaggengrußes gegen uns entschieden hatte, ging eine Lawine von Pöbelaktionen und Verhaftungen auf unsere Brüder an vielen Orten in der Nähe von Cincinnati [Ohio] nieder. Da mein Mann nicht Auto fahren konnte, mußte ich ihn zu all diesen Orten hinfahren. Eine Zeitlang mußten wir fast jeden Tag woandershin. Ich konnte deshalb nicht mehr Pionier sein. ... Victors Glaube an Jehova war sehr stark, und dies gab mir die Kraft, genauso fest im Glauben zu sein. Wenn wir uns einer Stadt näherten, in der er unsere Brüder vor Gericht vertreten sollte, ließ er mich von der Straße abbiegen und betete zu Jehova, daß er ihm einen Weg zeigen möge, wie unseren Brüdern geholfen werden könnte, und er bat auch darum, wenn dies der Wille Jehovas sei, daß er uns doch beschützen und uns beistehen möge, niemals der Menschenfurcht nachzugeben. Oft konnten wir sehen, wie stark die Engel Jehovas waren, die für uns kämpften.“
BIS VOR DAS OBERSTE BUNDESGERICHT DER USA
Verschiedene Rechtsfälle, die mit Jehovas Zeugen zu tun hatten, kamen schließlich vor das Oberste Bundesgericht der Vereinigten Staaten. Einer davon war der Fall Lovell gegen Stadt Griffin. Obwohl Gottes Diener in Griffin (Georgia) schon oft verhaftet worden waren, weil sie die gute Botschaft gepredigt hatten, wurden in einem Fall mehrere von ihnen wegen angeblicher Verletzung einer Verordnung der Stadt verhaftet, durch die „die Verbreitung ... von Literatur irgendwelcher Art ... ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Stadtdirektors von Griffin“ verboten worden war. Bruder G. E. Fiske sagt dazu: „In der Gruppe gab es mehrere Brüder, die über 1,80 Meter groß waren, und die Beamten fragten, ob die Brüder damit einverstanden wären, wenn sie einen aus der Gruppe auswählen würden, der für die anderen sprechen würde. Unsere Aufseher waren damit einverstanden. Darauf wählten sie eine kleine, schmächtige Schwester aus, weil sie dachten, mit ihr würden sie schnell fertig werden. Doch sie [Alma Lovell] hatte die Broschüre Order of Trial studiert. ... Nicht einer von den Männern hatte sich so gut vorbereitet wie diese kleine Schwester, und als der Fall verhandelt wurde, sprach sie über eine Stunde lang vor dem Gericht, wobei sie ein großartiges Zeugnis gab. Doch der Richter war nicht einmal daran interessiert und legte seine Beine auf den Tisch. Nachdem sie sich gesetzt hatte, nahm er die Beine vom Tisch und fragte: ,Sind Sie fertig?‘ Sie antwortete: ,Jawohl, Euer Ehren.‘ Darauf sprach er sie alle schuldig. Der Anwalt der Gesellschaft legte sofort Berufung ein.“ Am 28. März 1938 entschied das Oberste Bundesgericht einstimmig, daß die fragliche Verordnung schon ihrem Wortlaut nach rechtsunwirksam sei.
Newton Cantwell, ein Zeuge Jehovas, wurde am 26. April 1938 zusammen mit seinen beiden minderjährigen Söhnen verhaftet, während er in seiner Predigttätigkeit die Schallplatte „Feinde“ abspielte und das gleichnamige Buch verbreitete. Zwei Katholiken beschwerten sich, und so kam der Fall vor die Gerichte Connecticuts. Man warf ihm Friedensbruch und die Verletzung eines Gesetzes von Connecticut vor, das das Sammeln von Spenden für wohltätige oder religiöse Zwecke ohne Genehmigung des Ministers für öffentliche Wohlfahrt verbot. Die Gerichte Connecticuts sprachen den Angeklagten schuldig. R. D. Cantwell schreibt: „Die Gesellschaft legte Berufung ein und ging vor das Oberste Bundesgericht der USA ..., das Urteil wurde aufgehoben und das Gesetz von Connecticut, in dem eine Genehmigung für das Anbieten religiöser Literatur zum Verkauf oder das Annehmen von Spenden für religiöse Zwecke gefordert wurde, in seiner Anwendung auf Jehovas Zeugen für verfassungswidrig erklärt. Dies war ein weiterer Sieg des Volkes Jehovas!“
Jehovas Zeugen verloren aber einen wichtigen Fall, als das Oberste Bundesgericht der Vereinigten Staaten am 8. Juni 1942 im Fall Jones gegen Stadt Opelika mit fünf zu vier Stimmen gegen sie entschied. Bei diesem Fall ging es um den Straßendienst mit Zeitschriften und die Frage, ob Rosco Jones zu Recht für schuldig befunden worden war, eine Verordnung der Stadt Opelika (Alabama) verletzt zu haben, weil er „Bücher verkauft“ hatte, ohne im Besitz eines Gewerbescheins zu sein und ohne die gesetzlichen Abgaben zu entrichten.
EIN GROSSER TAG FÜR GOTTES VOLK
Doch dann kam der 3. Mai 1943, den man gut als „großen Tag“ für die Zeugen Jehovas bezeichnen kann. Weshalb? An diesem Tag wurden 12 von 13 Fällen zu ihren Gunsten entschieden. Eine wichtige Rolle nahm besonders der Fall Murdock gegen Pennsylvanien ein, in dem es um die Frage des Gewerbescheins und der damit verbundenen Abgaben ging. Mit dieser Entscheidung wich das Oberste Bundesgericht der Vereinigten Staaten von seiner eigenen Rechtsprechung im Fall Jones gegen Stadt Opelika ab. In der Urteilsbegründung zum Fall Murdock hieß es: „Man behauptet, die Tatsache, daß die Gewerbescheinabgabe diese Tätigkeit unterdrücken oder kontrollieren könne, sei, wenn sie sich nicht so auswirke, unwichtig. Doch das hieße den Charakter dieser Abgabe verkennen. Es handelt sich um eine Gewerbescheinabgabe — eine allgemeine Abgabe, die für die Beanspruchung eines Rechts erhoben wird, das die Bill of Rights gewährt. Ein Staat darf keine Abgabe für den Genuß eines von der Bundesverfassung gewährleisteten Rechts erheben.“ Über den Fall Jones hieß es. „Der Entscheid, der im Fall Jones gegen Opelika gefällt wurde, ist heute aufgehoben worden. Befreit von diesem dominierenden Präzedenzfall, können wir die Freiheitsrechte der reisenden Evangelisten, die ihre religiösen Ansichten und Glaubenssätze durch Verteilung von Druckschriften verbreiten, wieder an ihren hohen, ihnen von der Verfassung gegebenen Platz setzen.“ Der günstige Entscheid im Fall Murdock gebot den Anklagen gegen Jehovas Volk Einhalt, die wegen der Gewerbescheinabgabe erhoben wurden.
Diese Bemühungen beeinflußten die ganze Rechtsprechung. Es war daher passend, als man schrieb: „Es ist klar, daß die von der Verfassung geschützten Freiheitsrechte, so, wie das Oberste Bundesgericht der Vereinigten Staaten sie maßgeblich auslegt, heute viel umfassender sind, als sie es vor dem Frühjahr 1938 waren, und daß diese Erweiterung zum größten Teil durch die 31 Rechtsfälle der Zeugen Jehovas (16 entscheidende Urteile), von denen der Fall Lovell gegen Stadt Griffin der erste war, erreicht worden ist. Wenn ,das Blut der Märtyrer das Wachstum der Kirche förderte‘, was schuldet dann das Verfassungsrecht dem Kampfgeist und der Beharrlichkeit — oder vielleicht sollte ich sagen: dem Eifer und der Hingabe dieser seltsamen Gruppe?“ (Minnesota Law Review, Jahrg. 28, Nr. 4, März 1944, S. 246).
PÖBELGEWALT BRINGT LOBPREISER JEHOVAS NICHT ZUM SCHWEIGEN
Während Jehovas Zeugen vor Gericht für Religionsfreiheit und ihr Recht, die gute Botschaft zu predigen, kämpften, sahen sie sich in ihrer Tätigkeit manches Mal gewalttätigen Pöbelrotten gegenüber. Doch das war nichts Neues, denn selbst Jesus Christus hat Erfahrungen dieser Art gemacht (Luk. 4:28-30; Joh. 8:59; 10:31-39). Der treue Stephanus erlitt den Märtyrertod unter den Angriffen einer erregten Menschenmenge (Apg. 6:8-12; 7:54 bis 8:1).
Der weltweite christliche Kongreß, der vom 23. bis 25. Juni 1939 stattfand, wurde von Schlägern als eine Gelegenheit angesehen, Gottes Volk zu belästigen. Der Kongreß in New York diente als Ausgangspunkt und war direkt mit anderen Kongreßorten in den Vereinigten Staaten, Kanada, Großbritannien, Australien und Hawaii verbunden. Bei der Ankündigung des Vortrages „Herrschaft und Friede“ von J. F. Rutherford fanden Jehovas Diener heraus, daß Anhänger der Katholischen Aktion planten, am 25. Juni die Zusammenkunft für die Öffentlichkeit zu verhindern. Gottes Volk bereitete sich also auf Schwierigkeiten vor. Blosco Muscariello erzählt uns: „Wir waren bewaffnet wie zu Nehemias Zeiten, der die Mauern Jerusalems baute und seine Leute sowohl mit Werkzeugen als auch mit Waffen ausrüstete (Neh. 4:15-22). ... Einige von uns jüngeren Männern erhielten besondere Anweisungen als Ordner. Wir bekamen alle einen dicken Knüppel, den wir einsetzen sollten, falls jemand den Hauptvortrag stören würde.“ Doch R. D. Cantwell fügt hinzu: „Wir wurden angewiesen, ihn nur im äußersten Notfall zu gebrauchen.“
Obwohl es allgemein nicht bekannt war, stand es um Bruder Rutherfords Gesundheit nicht gut, als er an jenem Sonntagnachmittag, am 25. Juni 1939, im Madison Square Garden in New York zum Podium schritt. Der Vortrag begann. Unter den Zuspätkommenden befanden sich etwa 500 Anhänger des römisch-katholischen Geistlichen Charles E. Coughlin, eines bekannten „Radiopriesters“ der 1930er Jahre, der in seinen regelmäßigen Sendungen Millionen von Zuhörern hatte. Da die unteren Ränge des Saales für die Zeugen reserviert und von ihnen besetzt waren, mußten sich Coughlins Anhänger, darunter auch Priester, in die obersten Ränge hinter den Redner setzen.
„Sonst rauchte niemand im Zuhörerraum“, schrieb ein Trost-Korrespondent, „doch achtzehn Minuten nach Beginn des Vortrages zündete sich vorn links in dieser Gruppe ein Mann eine Zigarette an, worauf sich noch vorn rechts ein anderer eine anzündete; darauf ging das Licht in diesem Bereich an und aus, und nur von dort kamen Buhrufe, Schreie und Pfiffe.“ „Ich saß gespannt da“, sagt Schwester E. Broad, „und wartete darauf, daß sich die Unruhe über den ganzen Saal ausbreitete. Doch kurz darauf merkte ich, daß sich die ganze Aufregung lediglich auf eine Gruppe direkt hinter dem Redner beschränkte. Ich fragte mich: ,Was wird er jetzt wohl tun?‘ Es sah so aus, als ob es unmöglich wäre weiterzusprechen, da Dinge auf die Bühne geworfen wurden und man nicht wußte, ob nicht jeden Moment das Mikrofon weggenommen werden würde.“ Esther Allen erinnert sich, daß „wüstes Geheul und Rufe wie ,Heil Hitler!‘, ,Vivat Franco!‘ und ,Bringt den verdammten Rutherford um!‘ den Saal erfüllten“.
Würde Bruder Rutherford als kränklicher Mann solchen gewalttätigen Gegnern nachgeben? „Je lauter sie brüllten, um die Stimme des Redners zu übertönen, desto lauter wurde die Stimme Richter Rutherfords“, sagt Schwester A. F. Laupert. Aleck Bangle bemerkt dazu: „Der Präsident der Gesellschaft wurde nicht furchtsam, sondern sagte mutig: ,Die Nazis und die Katholiken möchten diese Versammlung sprengen, doch Gottes Gnade läßt dies nicht zu.‘ “ „Das war der Anlaß, den wir brauchten, um aufrichtig Beifall zu klatschen und dem Redner begeistert unsere Zustimmung zu versichern“, schreibt Roger Morgan. Er fährt fort: „Bruder Rutherford behielt die Oberhand bis zum Schluß. Wir waren später jedesmal begeistert, wenn wir Aufnahmen von diesem Vortrag in den Wohnungen der Menschen abspielten.“
C. H. Lyon erzählt uns: „Die Ordner leisteten gute Arbeit. Ein paar der widerspenstigeren Anhänger Coughlins bekamen eins mit dem Knüppel über den Kopf, und dann wurden sie alle ohne viel Federlesen die Aufgänge hinunter- und aus dem Saal hinausgeworfen. Einer erregte einiges Aufsehen in der Öffentlichkeit, als am nächsten Tag ein Bild von ihm in einer Boulevardzeitung erschien, das ihn mit einem Verband um den Kopf zeigte, so, als ob er einen Turban aufhätte.“
Drei Ordner wurden festgenommen und des „tätlichen Angriffs“ angeklagt. Ihr Fall wurde am 23. und 24. Oktober 1939 vor dem aus drei Richtern (zwei Katholiken und einem Juden) bestehenden Sondergericht der Stadt New York verhandelt. Man wies vor Gericht darauf hin, daß die Ordner sich in den Teil des Madison Square Garden begeben hätten, wo die Unruhe ausgebrochen sei, um gegen die Unruhestifter vorzugehen. Als diese die Ordner angriffen, hätten sie Widerstand geleistet und seien gegen einige der Aufrührer energisch vorgegangen. Die Zeugen der Staatsanwaltschaft widersprachen sich in vielen Punkten. Das Gericht sprach die drei Ordner nicht nur frei, sondern entschied auch, daß ihr Vorgehen rechtmäßig war.
DER WELTKRIEG SCHÜRT DAS FEUER DER GEWALTTAT
Gewaltanwendung durch Pöbelrotten hatte auf dem Kongreß 1939 begonnen. Das Feuer der Gewalttat würde jedoch mit Ausbruch des Weltkrieges noch weit stärker angefacht werden. Es sollte zwar bis Ende 1941 dauern, bis die Vereinigten Staaten Deutschland, Italien und Japan den Krieg erklären würden, doch schon lange vorher herrschte im ganzen Land ein starker Nationalismus.
Während der ersten Monate des Zweiten Weltkrieges traf Jehova Gott ganz besondere Vorkehrungen für sein Volk. Im englischen Wachtturm vom 1. November 1939 (deutsch: 1. Dezember 1939) erschien ein Artikel mit dem Thema „Neutralität“. Folgende Worte Jesu Christi über seine Jünger bildeten den Leittext: „Sie sind nicht von der Welt, gleichwie ich nicht von der Welt bin“ (Joh. 17:16, Elberfelder Bibel). Das Studium der christlichen Neutralität zu diesem Zeitpunkt bereitete Jehovas Zeugen im voraus auf die schweren Zeiten vor, die noch kommen würden.
BRANDSTIFTUNG AUF DER KÖNIGREICHSFARM ANGEDROHT
Die Königreichsfarm in der Nähe von South Lansing (New York) versorgte die Glieder des Hauptbüros der Gesellschaft ausreichend mit Obst, Gemüse, Fleisch, Milch und Käse. David Abbuhl arbeitete auf der Königreichsfarm, als der Friede und die Stille dort 1940 ein Ende nahmen. „Einen Tag vor dem Flaggentag, am Abend des 13. Juni 1940“, berichtet Bruder Abbuhl, „sagte uns ein alter Mann, der hier jeden Tag auf dem Weg zur Wirtschaft in South Lansing vorbeikam, wo er sich Whisky kaufte, daß die Bewohner des Ortes zusammen mit Anhängern der American Legion vorhatten, alle unsere Gebäude niederzubrennen und unseren Maschinenpark zu zerstören.“ Man benachrichtigte den Sheriff.
Schließlich trafen die Feinde ein. John Bogard, damals Farmdiener, gab einmal folgenden anschaulichen Bericht der Ereignisse: „Ungefähr um 6 Uhr abends begannen sich die Unruhestifter zusammenzurotten; ein Wagen nach dem anderen kam angefahren, insgesamt waren es schließlich 30 oder 40 vollbesetzte Wagen. Der Sheriff und seine Leute waren jedoch zur Stelle. Sie hielten jeden Wagen an, prüften die Papiere der Fahrer und warnten sie davor, irgend etwas gegen die Königreichsfarm zu unternehmen. Bis spät in die Nacht hinein fuhren die Unruhestifter die Straße, die an unserem Grundstück vorbeiführte auf und ab. Aber die Polizei sorgte dafür, daß sie auf der Straße bleiben mußten, und vereitelte so ihren Plan, Schaden zu stiften. Es war für uns alle dort auf der Farm eine sehr aufregende Nacht, aber wir dachten an die Zusicherung, die Jesus seinen Nachfolgern durch die Worte gegeben hatte: ,Ihr werdet um meines Namens willen Gegenstand des Hasses aller Menschen sein. Und doch wird bestimmt kein Haar von eurem Haupt verlorengehen‘ (Luk. 21:17, 18).“
So wurden der Angriff und die Brandstiftung abgewendet. Schätzungsweise 1 000 Autos mit möglicherweise 4 000 Mann waren aus dem ganzen Westen des Staates New York herbeigekommen, um das Eigentum der Gesellschaft auf der Königreichsfarm zu zerstören, doch umsonst. Kathryn Bogard schreibt: „Ihr Vorhaben mißlang jedoch, und einige von denen, die zu der Rotte gehörten, sind heute selbst Zeugen Jehovas, ja sie stehen sogar im Vollzeitpredigtdienst.“
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Vereinigte Staaten von Amerika (Teil 3)Jahrbuch der Zeugen Jehovas 1975
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Vereinigte Staaten von Amerika (Teil 3)
GEWALTTÄTIGKEIT IN LITCHFIELD
Etwa zur selben Zeit, als die Königreichsfarm angegriffen und in Brand gesetzt werden sollte, flammte in Litchfield (Illinois) Verfolgung gegen Jehovas Zeugen auf. „Irgendwie müssen die Verfolger in Litchfield erfahren haben, was wir vorhatten, so daß sie uns schon erwarteten, als wir in die Stadt gefahren kamen“, erinnert sich Clarence S. Huzzey. „Der Priester des Ortes läutete als Signal die Kirchenglocken, und dann trieben sie die Brüder zusammen, um sie ins Gefängnis zu bringen. Einige Brüder wurden heftig geschlagen, und die Pöbelrotte drohte sogar damit, das Gefängnis anzuzünden. Einige von ihnen fanden die Autos der Brüder und verwüsteten sie, bis nur noch ein Haufen Blech übrigblieb.“
Walter R. Wissman sagt: „Nachdem die Brüder von der Pöbelrotte geschlagen worden waren, wurden sie von Angehörigen der Landesverkehrspolizei zu ihrem eigenen Schutz im Gefängnis eingepfercht. Charles Cervenka, einer der Brüder, wurde zu Boden geschlagen, als er sich weigerte, die Fahne zu grüßen. Man schlug ihn mit der Fahne ins Gesicht und trat ihn heftig in den Leib und an den Kopf. Er war von allen Brüdern der am schwersten Verletzte. Er erholte sich nie völlig von den Schlägen. Wenige Jahre darauf starb er. Er sagte einmal, er habe während der Schläge gedacht, daß er froh sei, daß dies ihm passiert sei und nicht einem der neueren Brüder, da er wußte, daß er es ertragen konnte, während vielleicht ein neuerer schwach geworden wäre und nachgegeben hätte.“
„Die Stadt Litchfield war sehr stolz auf das, was sie getan hatte“, erinnert sich Bruder Wissman. „Eine ganze Reihe von Jahren später, Ende der 1950er Jahre, veranstaltete Litchfield seine Hundertjahrfeier mit einem Umzug von Festwagen, die die besonderen Ereignisse der Geschichte der Stadt darstellten. Einer dieser Festwagen war zur Erinnerung an die Pöbelaktion gegen die Zeugen Jehovas im Jahre 1940 gestaltet worden. Die Stadtväter waren der Ansicht, daß dies ein denkwürdiges Ereignis in der Geschichte ihrer Stadt gewesen sei. Möge Jehova es ihnen vergelten!“
UNBEACHTETE AUFFORDERUNGEN
Die gewalttätigen Angriffe gegen die Zeugen Jehovas waren so schwerwiegend und zahlreich, daß der Generalstaatsanwalt der Vereinigten Staaten, Francis Biddle, und Eleanor Roosevelt, die Frau von Präsident Franklin D. Roosevelt, die Öffentlichkeit zur Einstellung der Tätlichkeiten aufriefen. Am 16. Juni 1940, dem Tag des Zwischenfalls in Litchfield, stellte Biddle in einer Rundfunksendung der National Broadcasting Company, die im gesamten Land ausgestrahlt wurde, folgendes fest:
„Jehovas Zeugen sind wiederholt angegriffen und geschlagen worden. Obwohl sie keines Verbrechens schuldig waren. Der Pöbel sprach sie jedoch schuldig und übte Lynchjustiz. Der Justizminister ordnete eine sofortige Untersuchung der Ausschreitungen an.
Das Volk muß auf der Hut und wachsam sein und vor allem einen klaren Kopf behalten. Da Pöbelausschreitungen die Arbeit der Regierung ungemein erschweren, werden sie nicht geduldet. Wir besiegen den Nazi-Terror nicht dadurch, daß wir seine Methoden nachahmen.“
Doch solche Bitten konnten der Welle der Feindseligkeit gegen Jehovas Zeugen nicht Einhalt gebieten.
CHRISTLICHE ZUSAMMENKÜNFTE WERDEN GESPRENGT
Während jener bewegten Jahre wurden Christen in den Vereinigten Staaten manchmal angegriffen, während sie friedlich zum Studium der Bibel versammelt waren. Dies geschah zum Beispiel während des Jahres 1940 in Saco (Maine). Während die Zeugen Jehovas in ihrem Königreichssaal im ersten Obergeschoß alles vorbereiteten, um einen auf Schallplatte aufgenommenen biblischen Vortrag abzuspielen, rotteten sich nach Aussage Harold B. Duncans 1 500 bis 1 700 Menschen zusammen. Er erinnert sich noch genau, daß ein Priester dabei war, der in einem Wagen vor dem Königreichssaal saß. „Der Mann im [benachbarten] Rundfunkreparaturgeschäft drehte jedes Radio, das funktionierte, auf volle Lautstärke, um den Vortrag zu übertönen, sagt Bruder Duncan. Er fährt fort: „Dann begann die Pöbelrotte, die Fensterscheiben mit Steinen einzuwerfen. Polizisten in Zivil zeigten mit dem Lichtstrahl ihrer Taschenlampe auf die Fenster, die eingeworfen werden sollten. Das Polizeirevier war nur etwas mehr als eine Querstraße entfernt. Ich bin zweimal dorthin gegangen und sagte Bescheid, was vorginge. Man antwortete mir: ,Wenn ihr die amerikanische Fahne grüßt, helfen wir euch.‘ Die Menge warf 70 [kleine Fensterscheiben] des Saales ein, und ein Stein, der so groß war wie meine Faust, ging ganz knapp an Schwester Gertrude Bobs Kopf vorbei und schlug ein Stück Putz aus der Wand.“
Pöbelgewalttaten gab es auch auf dem Kongreß in Klamath Falls (Oregon) im Jahre 1942. Don Milford erzählt, daß Angehörige der Pöbelrotte die Telefondrähte durchschnitten, durch die ein Vortrag aus einer anderen Kongreßstadt übertragen wurde. Aber ein Bruder, der eine Abschrift des Vortrages hatte, sprang sofort ein, so daß das Programm fortgesetzt werden konnte. Schließlich brach der Pöbel in den Saal ein. Die Zeugen wehrten sich, und als die Tür wieder geschlossen wurde, lag einer der Angreifer — „ein großer, kräftiger Mann“ — bewußtlos im Saal. Er war Polizeibeamter, und man fotografierte ihn mit seinem Dienstabzeichen. „Wir riefen beim Roten Kreuz an“, sagt Bruder Milford, „das dann zwei Frauen mit einer Trage schickte, die ihn hinausbrachten. Später soll er gesagt haben: ,Ich hätte nicht gedacht, daß sie kämpfen würden.‘ “ Die Polizei weigerte sich, den Zeugen zu helfen, und es dauerte über 4 Stunden, bis die Nationalgarde die Menge zerstreut hatte.
IM STRASSENDIENST ANGEGRIFFEN
Wenn auch die Polizei an manchen Orten die Zeugen Jehovas nicht beschützte, so war dies doch nicht überall so. Als zum Beispiel L. I. Payne vor vielen Jahren in Tulsa (Oklahoma) Straßendienst verrichtete, sah er, daß ein Polizist ständig in seiner Nähe war. „Deshalb“, sagt Bruder Payne, „fragte ich ihn eines Tages, warum er immer so dicht dabeistehe. Er sagte, er sei zwar zuständig für einen großen Bezirk, doch er bleibe trotzdem in der Nähe, weil er nicht wolle, daß mich jemand wegjage oder verprügele. Er hatte davon gelesen, wie man die Zeugen in den Kleinstädten behandelte, und konnte nicht verstehen, warum irgend jemand etwas gegen diese Tätigkeit haben könnte.“
Doch so, wie die Dinge lagen, kam es oft vor, daß Jehovas Diener während des Zeugnisgebens auf der Straße mit dem Wachtturm und der Zeitschrift Trost von gewalttätigen Pöbelrotten angegriffen wurden. George L. McKee berichtet zum Beispiel, daß in einer Gemeinde Oklahomas die Zeugen, die sich am Straßendienst beteiligten, Woche für Woche von Pöbelrotten, bestehend aus 100 bis zu weit über 1 000 wütenden Männern, angegriffen wurden. Der Bürgermeister, der Polizeichef und andere Beamte kümmerten sich nicht um ihren Schutz. Wie Bruder McKee sagt, wurden die Pöbelmengen meistens von einem bekannten Arzt und Führer der American Legion angeführt, der ein Cousin von Belle Starr, einer berüchtigten Verbrecherin, war. Zuerst begannen Betrunkene, die Zeugen zu belästigen. Darauf folgte die Pöbelrotte, bewaffnet mit Billardstöcken, Keulen, Messern, Hackbeilen und Feuerwaffen, um sie damit aus der Stadt zu jagen. Doch jeden Samstag legten die Königreichsverkündiger im voraus fest, wie lange sie Straßendienst verrichten wollten, und obwohl sich die Pöbelrotte oft schnell zusammenfand, blieben sie doch so lange, wie sie es beschlossen hatten. Sie gaben viele Zeitschriften bei denen ab, die einkauften.
Eines Samstags wurden etwa 15 Zeugen belästigt. „Uns wurde bewußt, daß wir uns auf Jehova Gott und auf ein gutes Unterscheidungsvermögen verlassen mußten, wenn wir mit dem nackten Leben davonkommen wollten“, sagt Bruder McKee. Er fährt fort: „Ohne Vorwarnung fingen sie an, drei von uns mit Messern und Knüppeln anzugreifen. ... Mit gebrochenen Armen, Platzwunden am Kopf und anderen Verletzungen versuchten wir es bei 4 verschiedenen Ärzten am Ort, doch keiner wollte uns behandeln. Wir mußten 80 Kilometer weit fahren, um einen Arzt zu finden, der uns half. Doch die blauen Flecken heilten schnell, und wir faßten bald wieder Mut. Am nächsten Samstag standen wir wieder mit der guten Botschaft vom Königreich an der Straßenecke. Diesen Geist hatten die Brüder während all der Zeit der Schwierigkeiten durch die Verfolgungswelle.“
RASEREI IN CONNERSVILLE
Unter den Pöbelaktionen ragten besonders die Vorfälle hervor, die sich 1940 in Connersville (Indiana) ereigneten. Dort standen einige Christinnen vor Gericht, fälschlich der „aufrührerischen Verschwörung“ angeklagt. Als Bruder Rainbow, ein Zonendiener, sowie Victor und Mildred Schmidt am ersten Tag der Verhandlung aus dem Gerichtsgebäude fuhren, stürzten etwa 20 Männer auf ihr Auto zu, drohten, sie zu töten, und versuchten, das Fahrzeug umzustürzen.
Am letzten Tag der Verhandlung verwendete der Staatsanwalt den größten Teil seines Plädoyers, um zum Aufruhr anzustacheln, wobei er sich bisweilen direkt an die bewaffneten Männer im Gerichtssaal wendete. Gegen 21 Uhr kam der Urteilsspruch: „Schuldig.“ Dann brach ein Sturm der Gewalttat los. Schwester Schmidt erzählt, daß sie zusammen mit ihrem Mann Victor, der einer der Rechtsanwälte bei dem Fall war, und zwei anderen Brüdern von den anderen Zeugen abgeschnitten und von einer Pöbelrotte, die zwischen 200 und 300 Personen stark war, belästigt wurde. Sie sagt uns:
„Gleich darauf ging ein Sperrfeuer von allem möglichen Obst und Gemüse sowie von Eiern auf uns nieder. Später erzählte man uns, daß die Pöbelrotte eine ganze Lastwagenladung voll auf uns abgeladen hatte.
Wir versuchten, zu unserem Wagen zu rennen, doch man kam uns zuvor und trieb uns zur Landstraße, die aus der Stadt hinausführte. Dann ging der Pöbel auf uns los. Die Brüder wurden zusammengeschlagen, und mich schlugen sie auf den Rücken, was wie Peitschenhiebe wirkte. Mittlerweile war ein Gewitter in vollem Gange. Der Regen strömte unablässig vom Himmel, und der Wind peitschte wütend auf uns ein. Die ,Wut‘ des Sturms war jedoch gar nichts im Vergleich mit der Wut dieser dämonenbesessenen Pöbelrotte. Wegen des Gewitters holten sich viele ihr Auto und fuhren neben uns her, wobei sie brüllten und uns verfluchten und dabei immer Jehovas Namen in ihren Flüchen gebrauchten, was uns zutiefst im Herzen traf.
Doch es schien, daß uns trotz des Gewitters wenigstens 100 Männer zu Fuß umringten. Einmal versuchte Schwester Jacoby (jetzt Schwester Crain) aus Springfield in Ohio, die Brüder im Wagen hatte, uns zu Hilfe zu kommen, doch die Pöbelrotte stürzte den Wagen beinahe um, trat dagegen und riß an den Türen. Während der Pöbel versuchte, uns von dem Wagen wegzureißen, erhielten wir nur noch mehr Schläge. Die Freunde mußten ohne uns weiterfahren. Während wir weitergetrieben wurden und das Gewitter unvermindert anhielt, rief die Menge fortwährend im Chor: ,Werft sie in den Fluß! Werft sie in den Fluß!‘ Dieser endlose Sprechchor erfüllte mich mit Schrecken. Als wir uns der Brücke näherten, um den Fluß zu überqueren, hörte der Sprechchor plötzlich auf. Kurz darauf hatten wir die Brücke tatsächlich hinter uns. Es war, als ob die Pöbelrotte durch Einwirkung der Engel Jehovas nicht merkte, wo wir waren. Ich dachte: ,O Jehova, hab Dank!‘
Dann fingen die großen, stämmigen Männer wieder an, die Brüder zu schlagen. Es war sehr schwer, zusehen zu müssen, wie jemand, den man liebt, geschlagen wird. Victor wankte bei jedem Schlag, doch er fiel nie hin. Diese Schläge waren Schläge des Entsetzens für mich ...
Immer wieder kamen sie von hinten an mich heran und versetzten mir diesen peitschenhiebgleichen Schlag. Zum Schluß wurden wir von den beiden Brüdern getrennt, und während wir fest eingehakt gingen, sagte Victor: ,Wir haben noch nicht soviel ertragen wie Paulus. Wir haben noch nicht bis aufs Blut widerstanden.‘ [Vergleiche Hebräer 12:4.]
Es war sehr dunkel und wurde spät (wie ich später hörte, etwa 23 Uhr). Wir waren aus der Stadt heraus und nahe dem Zusammenbrechen, als plötzlich ganz dicht neben uns ein Wagen anhielt. Eine bekannte Stimme sagte: ,Schnell! Steigt ein!‘ Es war Ray Franz, der junge tüchtige Pionierbruder, der uns aus den Händen dieser gewalttätigen Pöbelrotte befreite. ...
Auch hier hatten wir alle wieder das Gefühl, daß die Engel Jehovas die Feinde nicht sehen ließen, wie wir in den Wagen stiegen. Im Auto, geschützt vor der Menge, waren unser lieber Bruder Rainbow, seine Frau und noch drei andere. Irgendwie paßten wir alle acht in das kleine Auto. Wir alle fühlten, daß es Jehovas Engel waren, die dafür sorgten, daß der Feind nicht sah, wie wir in den Wagen einstiegen. Die Pöbelrotte war immer noch wütend gegen uns und gab keine Anzeichen, daß sie uns freigelassen hätte. Es war so, als ob Jehova mit seinen liebenden Armen zugepackt und uns gerettet hätte. Später fanden wir heraus, daß die beiden Brüder, die von uns abgedrängt wurden, in einem Heuhaufen Zuflucht gefunden hatten, und früh am Morgen wurden sie von einigen Brüdern entdeckt. Einer der beiden war durch einen Gegenstand schwer verletzt worden, mit dem sie nach ihm geworfen hatten.
Gegen 2 Uhr morgens kamen wir zu Hause an; wir waren naß und froren, da das Gewitter eine Hitzewelle beendet und kalte Luft gebracht hatte. Unsere Brüder und Schwestern betreuten uns. Sie mußten in Victors Gesicht fünf offene Wunden verbinden. Wie dankbar waren wir doch, von unseren Brüdern so liebevoll versorgt zu werden!“
Doch Jehova stützt und stärkt seine Diener trotz solcher harten Prüfungen. Schwester Schmidt sagt: „Jehova hat uns in seiner Barmherzigkeit geholfen, daß wir eine weitere Prüfung ertrugen und daß ,das Ausharren sein Werk vollständig‘ hatte“ (Jak. 1:4).
WEITERE PÖBELGEWALTTATEN
Pöbelaktionen, die sich gegen Jehovas Zeugen richteten, gab es sehr viele. In Winnsboro (Texas) wurde im Dezember 1942 eine Gruppe von Zeugen Jehovas im Straßendienst von einer Pöbelrotte belästigt. Unter den Zeugen befand sich O. L. Pillars, ein Diener für die Brüder (Kreisaufseher). Während die Pöbelrotte näher kam, sahen die Zeugen, daß unter diesen Umständen kein Straßendienst mehr möglich war. So machten sie sich auf den Weg zu ihren Autos. „Mitten auf der Hauptstraße stand der Baptistenprediger C. C. Phillips mit seinem Lautsprecherwagen“, erinnert sich Bruder Pillars. „Er hatte gerade über Christus und seine Kreuzigung gepredigt, doch sobald er uns sah, änderte er seine Predigt. Er begann, dagegen zu lärmen und zu toben, daß Jehovas Zeugen die Fahne nicht grüßten. Er sagte, daß er mit Freuden für das Sternenbanner sterben würde und daß jeder, der die Fahne nicht grüße, aus der Stadt gejagt werden solle. Als wir an seinem Wagen vorbeigingen, sahen wir uns einer weiteren Pöbelrotte gegenüber, die uns entgegenkam. Sie hatte uns bald umringt und hielt uns fest, bis die Polizei kam und uns festnahm.“
Später drang ein Teil der Pöbelrotte in die Amtsräume des Polizeichefs ein, der keinerlei Anstalten traf, die Zeugen zu schützen, so daß sich der Pöbel ihrer bemächtigte. Bruder Pillars war einer von denen, die auf der Straße mit Fäusten geschlagen wurden. Er sagt: „Ich verspürte dabei einen ungewöhnlichen Beistand. Ich mußte entsetzliche Prügel über mich ergehen lassen. Das Blut strömte aus der Nase, dem Mund und aus Wunden im Gesicht, doch ich fühlte wenig oder gar keinen Schmerz. Sogar während all dies geschah, konnte ich darüber staunen, und mir war, als ob dies ein Ausdruck der Hilfe der Engel wäre. ... Es half mir zu verstehen, wie unsere deutschen Brüder die Glut der Naziverfolgung standhaft und treu ertragen konnten.“
Bruder Pillars wurde mehrfach bewußtlos geschlagen, darauf wieder zu Bewußtsein gebracht und nochmals geschlagen. Als sie ihn schließlich nicht mehr zum Bewußtsein bringen konnten, übergossen sie ihn mit kaltem Wasser und versuchten, ihn zu veranlassen, eine 5 × 10 Zentimeter große Fahne zu grüßen, nach den Worten Bruder Pillars „die einzige Fahne, die diese großen ,Patrioten‘ auftreiben konnten“. Während sie die Fahne hochhielten, hielten sie auch seinen Arm zum Fahnengruß hoch, doch er ließ die Hand sinken, um zu zeigen, daß er nicht grüßen würde. Kurz darauf legten sie ihm einen Strick um den Hals, stießen ihn zu Boden und schleppten ihn zum Gefängnis. Er konnte gerade noch verstehen, wie sie sagten: „Kommt, wir hängen ihn! Dann sind wir diese Zeugen Jehovas für immer los.“ Es dauerte nicht lange, und sie begannen damit. Bruder Pillars schreibt: „Sie legten ein neues Hanfseil von über einem Zentimeter Dicke um meinen Hals, banden eine Schlaufe hinter meinem Ohr und zerrten mich hinaus auf die Straße. Dann warfen sie den Strick über ein Rohr, das aus dem Gebäude hervorragte. Vier oder fünf Mann fingen an, an dem Seil zu ziehen. Ich wurde vom Boden abgehoben, die Schlinge zog sich zu, und ich wurde bewußtlos.“
Das nächste, woran sich Bruder Pillars erinnern kann, war daß er wieder in dem ungeheizten Gefängnis lag. Ein Arzt untersuchte ihn und sagte: „Wenn ihr wollt, daß er am Leben bleibt, dann bringt ihn schnell ins Krankenhaus, denn er hat schon viel Blut verloren, und seine Pupillen haben sich geweitet.“ Darauf erwiderte der Polizeichef: „Das ist der verstockteste Kerl, den ich je gesehen habe.“ „Diese Worte ermutigten mich sehr“, sagt Bruder Pillars, „denn jetzt wußte ich, daß ich keine Kompromisse geschlossen hatte.“
Nachdem der Arzt gegangen war, kam einer nach dem anderen von der Pöbelrotte durch das kalte, dunkle Gefängnis. Sie zündeten Streichhölzer an, um Bruder Pillars Gesicht zu sehen, und er hörte, wie sie fragten: „Ist er schon tot?“ Einer antwortete: „Nein, aber er wird bald sterben.“ Bruder Pillars, der naß bis auf die Haut war und sehr fror, versuchte, nicht zu zittern, in der Hoffnung, daß sie ihn für tot halten würden. Schließlich gingen sie, und alles war still. Nach einer Weile öffnete sich die Tür, und Angehörige der Landespolizei von Texas kamen herein. Sie ließen Bruder Pillars mit dem Krankenwagen nach Pittsburg (Texas) ins Krankenhaus bringen. Er war der Pöbelrotte 6 Stunden lang ausgeliefert gewesen. Doch was war geschehen, als sie ihn hängten? Wieso war er noch am Leben? „Das habe ich erst am Ende des nächsten Tages erfahren“, sagt Bruder Pillars. Er berichtet:
„Bruder Tom Williams besuchte mich in der Gefangenenabteilung des Krankenhauses von Pittsburg, wo ich mich wieder etwas erholte. Er war Anwalt in Sulphur Springs und war ein richtiger Kämpfer für die Gerechtigkeit. Nachdem er sich erfolglos bemüht hatte, herauszufinden, wo ich war, hatte er gedroht, die Stadt zu verklagen. Daraufhin hatten sie zugegeben, daß ich im Krankenhaus war. Wie gut war es doch, einen Bruder zu sehen! Dann erzählte er mir, was zur Zeit das Stadtgespräch war — ich war gehängt worden, doch das Seil war gerissen.
Als später das FBI eine offizielle Untersuchung anstellte und einen Prozeß vor einem Geschworenengericht empfahl, war eine Gruppe von Anhängern der Pfingstgemeinde bereit auszusagen. Sie sagten: ,Heute sind es Jehovas Zeugen, morgen wir.‘ Über das Hängen sagten sie: ,Wir haben gesehen, wie er am Seil baumelte. Dann riß es. Als wir sahen, wie das Seil riß, wußten wir: Das hat der Herr getan.‘ “
Der Polizeichef und andere Beamte flüchteten in einen anderen Bundesstaat. So kamen sie nie vor Gericht. Bruder Pillars erholte sich wieder und war weiterhin als Diener für die Brüder in jenem Gebiet tätig.
AUSHARREN UNTER UNMENSCHLICHER VERFOLGUNG
Du magst sagen: „Solch unmenschliche Verfolgung könnte ich nie aushalten!“ Aus eigener Kraft kannst du es auch nicht. Doch Jehova kann dich stärken, wenn du dir seine Vorkehrungen, geistig stark zu werden, jetzt zunutze machst. Der Hauptgrund für die Verfolgung hängt mit der Streitfrage der universellen Souveränität zusammen. Satan forderte praktisch Gott heraus und behauptete, daß kein Mensch Jehova treu bleiben würde, wenn er, der Teufel, ihn prüfte. Es ist ein großes Vorrecht, gegenüber Gott die Lauterkeit zu bewahren, wodurch man Satan zum Lügner stempelt und die Seite Jehovas in der Streitfrage unterstützt (Hiob 1:1 bis 2:10; Spr. 27:11).
In den Jahren, die seit den aufregenden Tagen der vielen Pöbelangriffe auf Jehovas Zeugen in den Vereinigten Staaten vergangen sind, ist es dem Volke Gottes immer mehr bewußt geworden, daß es sich vollständig auf Jehova verlassen muß. Obwohl Gottes Diener sich und ihre Familie in Übereinstimmung mit christlichen Grundsätzen verteidigen würden, rüsten sie sich doch nicht mit todbringenden Waffen aus, um auf Angriffe vorbereitet zu sein (Matth. 26:51, 52; 2. Tim. 2:24). Sie erkennen vielmehr, daß ‘die Waffen ihrer Kriegführung nicht fleischlich sind’ (2. Kor. 10:4; siehe Wachtturm vom 1. September 1968, S. 537—542).
THEOKRATISCHER KONGRESS IN SAINT LOUIS
Die Menschheit war in die Kämpfe des Zweiten Weltkrieges verstrickt, und Verfolgung entbrannte gegen Gottes Diener. Doch ‘Jehova der Heerscharen war mit ihnen’ (Ps. 46:1, 7). Er sorgte dafür, daß sie geistig reichlich mit guten Dingen versorgt wurden. Dabei ragt besonders der „Theokratische Kongreß“ der Zeugen Jehovas in Saint Louis (Missouri) vom 6. bis 10. August 1941 hervor.
Jehovas Dienern war sehr daran gelegen, bei diesem Kongreß zugegen zu sein. Es waren also viele von ihnen in Richtung Saint Louis unterwegs. „Wir fanden bald heraus“, sagt Schwester A. L. McCreery, „daß die Zeugen alle eine Zeitschrift [Der Wachtturm oder Trost] am Wagenfenster anbrachten und sich so kenntlich machten; so taten wir es auch. Während der ganzen Fahrt winkten wir völlig fremden Leuten zu, die wir aber an ihrem freundlichen Gesicht und ihrem Winken als unsere Brüder erkannten.“
Trotz des Drucks von seiten der Katholischen Aktion und einer Kriegsveteranenvereinigung ließ sich die Stadionverwaltung nicht bewegen, den Vertrag mit Jehovas Zeugen rückgängig zu machen. Doch die katholischen Gemeinden verbreiteten Propaganda, die viele Wohnungsinhaber veranlaßte, die Zimmer abzusagen, die sie eigentlich an Delegierte vermieten wollten. „Nonnen gingen von Haus zu Haus und sagten den Leuten, sie sollten keine Zimmer an Jehovas Zeugen vermieten“, erzählt Robert E. Rainer. Bei der Ankunft in Saint Louis waren daher „so viele Zeugen ohne Unterkunft, daß man Säcke mit Stroh vollstopfen mußte, die als Matratzen dienen konnten, damit sie auf dem Gelände des Stadions schlafen konnten“, sagt Margaret J. Rogers.
Zum Unterkunftsproblem stellen Bruder und Schwester G. J. Janssen fest: „Während des Kongresses erschien in der Zeitung ein Bild von einer Schwester mit ihrem Kind, wie sie in der Nacht auf dem Rasen des Kongreßgeländes schlief. Das genügte. Die Stadtbewohner, die ein weicheres Herz hatten als ihre falschen Lehrer, riefen beim Unterkunftsbüro an, um mitzuteilen, daß ihre Gästezimmer den Zeugen zur Verfügung ständen.“ Es dauerte nicht lange, und Zimmerangebote trafen per Telegramm, Telefon, Brief, durch persönliche Vorsprache und auf anderen Wegen ein. Man hielt die Verkündiger sogar auf der Straße an, um ihnen Unterkunft anzubieten.
Manche Zeugen begaben sich nach ihrer Ankunft in die „Theokratische Wohnwagenstadt“. Sie wuchs an, bis es auf dem Gelände wimmelte: Es gab 677 Wohnwagen, 1 824 Zelte, 100 Autos mit Liegesitzen, 99 Lastwagen und 3 Busse — insgesamt 15 526 Bewohner. „Es war riesig“, sagt Edna Gorra. „Die Straßen trugen Namen, und es gab Waschgelegenheiten, ordentliche Toiletten usw. Es war einfach wunderbar, Menschen aus den verschiedenen Staaten der USA zu sehen, die in ihren Wohnwagen, Zelten und Bussen beisammenlebten, alle in Harmonie.“
PROGRAMMHÖHEPUNKTE
Das Kongreßprogramm erwies sich wirklich als geistig ergiebig. Hazel Burford, die jetzt als Missionarin in Panama dient, sagt zum Beispiel: „Wir waren begeistert, daß uns die Streitfrage der Universalherrschaft Jehovas als höchster Souverän klargemacht wurde und auch, wie die Lauterkeit der Diener Jehovas damit zusammenhängt. ... Deutlicher denn je verstanden wir, warum Jehova eine derart heftige Verfolgung seines Volkes auf der ganzen Erde zuließ.“ Bruder Rutherford wies in seiner Ansprache „Lauterkeit“ darauf hin, daß Satan in den Tagen Hiobs die Frage aufwarf: „Kann Jehova Menschen auf die Erde setzen, die sich unter der schwersten Prüfung Gott als treu und wahrhaftig erweisen würden?“ Doch es wurde gezeigt, daß die Streitfrage sich zuallererst um die Oberherrschaft drehte. Der Redner appellierte an seine Zuhörer unter anderem, der theokratischen Regierung Jesu Christi völlig, unbedingt und restlos ergeben zu sein, da sie wüßten, daß Jehovas Name durch diese Regierung gerechtfertigt würde und daß sie allen, die Gerechtigkeit liebten und Jehova dienten, Befreiung bringen würde.
Ein Ereignis des Kongresses berührte das Herz der Teilnehmer besonders. Sonntag, der 10. August 1941, war der „Tag der Kinder“ auf dem Kongreß in Saint Louis. Am frühen Vormittag jenes Tages wurde eine Taufansprache gehalten, und 3 903 Personen wurden untergetaucht, darunter 1 357 Kinder. Doch für die Kinder — und auch für die Erwachsenen — war dieser Tag etwas ganz Besonderes. „Alle Kinder geweihter Eltern im Alter von 5 bis 18 Jahren, die Platzkarten haben, versammeln sich in der Stadionmitte, unmittelbar vor der Bühne“, so stand es im Programm geschrieben. Bruder Rutherfords Vortrag „Kinder des Königs“ war für 11 Uhr morgens angesetzt.
Zu diesem Zeitpunkt war die Zahl der Zuhörer bereits auf die erstaunliche Höhe von 115 000 angestiegen. Unmittelbar vor der Bühne und auf den Logenplätzen darum herum war eine ganz besondere Zuhörerschaft versammelt: alles Kinder zwischen 5 und 18 Jahren. Als Bruder Rutherford zur Bühne ging, jubelten und klatschten sie. Er winkte mit seinem Taschentuch, und Tausende junger Hände winkten zurück. Darauf schritt er zur Vorderseite der Bühne, begeistert strahlend von dem Anblick.
J. F. Rutherford hatte all den Kindern und Jugendlichen und den Tausenden anderen in dieser riesigen Zuhörerschaft viel zu sagen. Dorothy Wilkes bemerkt zum Beispiel: „Die Hoffnung auf ein Paradies auf Erden wurde für uns viel wirklichkeitsnaher, als Bruder Rutherford dem Sinne nach sagte: ,Die Häuser, die ihr auf eurem Weg zum Kongreß gesehen habt, waren gar nichts im Vergleich zu dem, was ihr einmal haben werdet!‘ “ Neal L. Callaway, der damals zu den Kindern in der Zuhörerschaft gehörte, schrieb einmal: „... nachdem der Präsident der Gesellschaft seine Ansprache beendet hatte, sagte er ungefähr folgendes: ‚Ich habe jedem von euch eine Frage vorzulegen. Ihr alle, die ihr euch bereit erklärt habt, den Willen Gottes zu tun, und die ihr eure Stellung auf der Seite der theokratischen Herrschaft unter Christus Jesus bezogen habt und die ihr Gott und seinem König gehorchen wollt, STEHT bitte AUF!‘
Wir erhoben uns wie e i n Mann. ,Seht‘, rief der Präsident der Gesellschaft aus, ,mehr als 15 000 neue Zeugen für das Königreich!‘ Nach langem Beifall sagte er: ,All ihr, die ihr tun wollt, was ihr könnt, anderen von Gottes Königreich und den damit verbundenen Segnungen zu erzählen, sagt bitte ja!‘ Darauf ertönte ein donnerndes ,Ja‘ von 15 000 Kindern, die sich erhoben hatten.
Und dann sagte der Präsident der Gesellschaft: ,Wenn ihr ein Instrument in euren Händen hättet, das ihr zur Ehre des Namens Jehovas gebrauchen könntet, würdet ihr es fleißig benutzen?‘ Wir antworteten: ‚Ja!‘ ,Dann setzt euch, und ich will euch etwas über dieses Instrument erzählen. Der Herr hat es ermöglicht, daß dieses Buch als Botschaft für euch verfaßt worden ist. Der Titel dieses Buches lautet Kinder.‘ Welch ein gewaltiger Beifall doch folgte!“ Jedes Kind, das in den reservierten Sitzreihen im Stadion und in der Wohnwagenstadt saß, erhielt ein Gratisexemplar des neuen Buches Kinder, verfaßt von Bruder Rutherford.
„Viele, die jenes großartige Ereignis als Kinder miterlebten, machten weiterhin Fortschritte“, bemerkt George D. Caron. „Sie wurden Pioniere, besuchten die Gileadschule und nahmen Missionarzuteilungen an, gingen ins Bethel oder machten auf andere Weise Fortschritte innerhalb der Organisation Jehovas. In vielen Versammlungen auf der ganzen Erde sind sie heute Stütze und Rückgrat.“
Am Sonntagnachmittag, am 10. August 1941, sprach J. F. Rutherford, dem es nicht gutging, zum letzten Mal zu den Kongreßdelegierten. Er sprach ungefähr fünfundvierzig Minuten lang frei und ohne Notizen.
Er machte sehr bedeutsame Äußerungen über die Führung des Volkes Gottes und sagte: „Ich möchte irgendwelche Fremden, die hier anwesend sind, nachdrücklich und unmißverständlich wissen lassen, ob ihr meint, daß ihr einem Menschen nachfolgt. Immer, wenn eine Bewegung entsteht und zu wachsen beginnt, sagt man, alles folge einem Menschen als Führer. Wenn hier irgend jemand in der Zuhörerschaft ist, der meint, daß ich, der ich hier stehe, der Führer der Zeugen Jehovas bin, so sage er ja. [Einstimmiges NEIN.]
Wenn ihr, die ihr hier anwesend seid, glaubt, daß ich nur ein Diener des Herrn bin und daß wir Schulter an Schulter in Einheit zusammenarbeiten und Gott und Christus dienen, dann sagt ja. [Einstimmiges JA.]
Ihr brauchtet mich gar nicht als irdischen Führer, um solche Menschen zu veranlassen zu arbeiten; Menschen wie diese würden gegen den Teufel mit einem Eichenknüppel kämpfen, und sie kämpfen auch, aber sie kämpfen mit dem Schwert des Geistes; und das ist viel wirkungsvoller.“
Während seiner letzten Ansprache forderte Bruder Rutherford seine Zuhörer wiederholt auf, das Werk des Predigens der Königreichsbotschaft voranzutreiben.
DIE LETZTEN TAGE IN BETH-SARIM
Im November war die Krankheit Bruder Rutherfords so schlimm geworden, daß er sich in Elkhart (Indiana) operieren lassen mußte. Darauf sprach er den Wunsch aus, nach Kalifornien zu gehen. Man brachte ihn nach San Diego, in ein Haus, das als „Beth-Sarim“ bekannt war. Schon seit einiger Zeit hatten seine Mitarbeiter und die besten Ärzte den Eindruck gehabt, daß er sich nicht mehr erholen würde.
Es sei kurz erwähnt, daß Bruder Rutherford nach der Freilassung aus seiner ungerechten Haft im Jahre 1918/19, die er wegen seiner Treue zu Jehova verbüßt hatte, eine schwere Lungenentzündung davontrug. Von da an war nur noch ein Lungenflügel in Ordnung. Es war für ihn buchstäblich unmöglich, während des Winters in Brooklyn (New York) zu bleiben und seine Pflichten als Präsident der Gesellschaft zu erfüllen. In den 1920er Jahren ging er auf Anraten eines Arztes nach San Diego. Das Klima war dort außergewöhnlich günstig, und der Arzt drängte ihn, soviel Zeit wie nur möglich in San Diego zu verbringen. Das tat Rutherford schließlich auch.
Im Laufe der Zeit spendete jemand einen Betrag, der dafür gedacht war, in San Diego ein Haus für Bruder Rutherford zu bauen. Man baute es nicht auf Kosten der Watch Tower Society. Das Buch Rettung schrieb 1939 über dieses Grundstück: „In San Diego, Kalifornien, ist im Jahre 1929 auf einem kleineren Grundstück ein Haus erbaut worden, das die Bezeichnung Beth-Sarim trägt und unter diesem Namen bekannt ist.“
Schwester Hazel Burford war eine der Krankenschwestern, die Bruder Rutherford in den letzten Tagen seiner Krankheit in Beth-Sarim betreuten, wohin man ihn im November 1941 gebracht hatte. Sie erzählt uns: „Wir hatten genug Abwechslung, denn zum Schluß schlief er den ganzen Tag, und wir mußten dann die ganze Nacht über rennen, da er Angelegenheiten der Gesellschaft erledigte.“ Eines Morgens gegen Mitte Dezember trafen drei Brüder, darunter Bruder Knorr, aus Brooklyn ein. Schwester Burford erinnert sich: „Sie blieben mehrere Tage bei ihm und besprachen den Jahresbericht für das Jahrbuch und andere organisatorische Angelegenheiten. Nach ihrer Abreise wurde Bruder Rutherford immer schwächer, und etwa drei Wochen später, am Donnerstag, dem 8. Januar 1942, beendete er seinen irdischen Lauf in Treue und stieg in die Höhen seines himmlischen Vaters zu größeren Dienstvorrechten auf.“ Um 17.15 Uhr gab man dem Hauptbüro in Brooklyn die Nachricht von seinem Tod durch ein Ferngespräch bekannt.
Wie war die Reaktion auf die Nachricht von J. F. Rutherfords Tod im Bethel Brooklyn? „Ich werde den Tag nie vergessen, an dem wir von Bruder Rutherfords Ableben erfuhren“, sagt William A. Elrod. „Es war nur eine kurze Bekanntmachung. Keiner hielt eine Ansprache.“
EIN REIBUNGSLOSER ÜBERGANG
Am Donnerstag, dem 8. Januar 1942, beendete der zweiundsiebzigjährige Joseph Franklin Rutherford seinen irdischen Lauf. Fünfundzwanzig Jahre lang war er Präsident der Watch Tower Society gewesen. Als der erste Präsident der Gesellschaft, Charles Taze Russell, im Jahre 1916 starb, waren die Bibelforscher erschüttert, und viele fragten sich, was sie noch im Dienste des Herrn tun sollten. Außerdem versuchten selbstsüchtige Männer, die Gesellschaft unter ihre Kontrolle zu bekommen, und das verursachte eine Zeitlang Probleme, obwohl ihr Widerstand und ihre Intrigen mit Gottes Hilfe völlig überwunden wurden. Der Tod von J. F. Rutherford hatte jedoch nicht solche Folgen. Natürlich glaubten Feinde des Volkes Gottes, das Werk der Zeugen Jehovas werde sich jetzt totlaufen, aber sie irrten sich. „Die theokratische Organisation ging ohne Unterbrechung oder Behinderung weiter“, erklärt Grant Suiter.
Am 13. Januar 1942 kamen alle Vorstandsmitglieder der beiden Körperschaften, deren sich Gottes Volk bedient, der pennsylvanischen und der New Yorker Körperschaft, gemeinsam im Brooklyner Bethel zusammen. Mehrere Tage davor hatte sie der Vizepräsident der Gesellschaft, Nathan H. Knorr, darum gebeten, durch Gebet und Nachsinnen ernstlich Gottes Weisheit zu suchen, und das taten sie. Ihre gemeinsame Versammlung wurde mit einem Gebet um Jehovas Leitung eröffnet, und nach sorgfältiger Erwägung wurde Bruder Knorr zum Präsidenten der Gesellschaft nominiert und einstimmig gewählt. „Niemand, den ich kannte, stellte die Ernennung Bruder Knorrs auch nur in Frage“, erzählt C. W. Barber, „und wir alle waren entschlossen, Schulter an Schulter zu kämpfen, ihn zu unterstützen und unsere Ergebenheit gegenüber der Organisation Jehovas zu beweisen. Unter allen Vorstandsmitgliedern der Gesellschaft herrschte vollständige Einheit.“ Viele Telegramme und Briefe, die eingingen, zeigten, daß Jehovas Diener auf der ganzen Erde vereint entschlossen waren, das Predigtwerk fortzusetzen.
Nathan Homer Knorr wurde im Jahre 1905 in Bethlehem (Pennsylvanien) geboren. Seine Eltern waren gebürtige Amerikaner. Im Alter von sechzehn Jahren trat er mit der Versammlung der Bibelforscher in Allentown in Verbindung, und im Jahre 1922 besuchte er den Kongreß in Cedar Point, auf dem er sich entschloß, aus der reformierten Kirche auszutreten. Eine Gelegenheit, im Wasser untergetaucht zu werden als Zeichen der Hingabe an Jehova Gott, bot sich am 4. Juli 1923, als Frederick W. Franz aus dem Brooklyner Bethel die Versammlung Allentown besuchte. Bruder Fred Franz hielt die Taufansprache, und der achtzehnjährige Nathan H. Knorr war einer von denen, die an jenem Tag im Little Lehigh River getauft wurden. An diesen freudigen Tag hat sich Bruder Knorr immer gern erinnert, und welch eine Freude und ein Vorrecht ist es doch für ihn, mit Bruder Fred Franz nun schon seit über einundfünfzig Jahren Seite an Seite zu arbeiten!
Etwa zwei Monate später, am 6. September 1923, wurde Bruder Knorr ein Glied der Brooklyner Bethelfamilie. C. W. Barber kann sich noch daran erinnern: „Er war um die Mittagszeit eingetroffen, und als wir zum Mittagessen nach Hause kamen, sahen wir einen jungen Bruder, der damit beschäftigt war, seine Kleidung und andere Sachen in einem der Schränke im Raum A-9 unterzubringen. Da wir nicht wußten, daß eine Änderung vorgenommen worden war und daß er die Stelle eines Bruders einnahm, der zum [Sender] WBBR nach Staten Island versetzt worden war, mußte er einigen Protest über sich ergehen lassen. ‚Was machst du denn hier?‘ ,Wir sind schon genug im Zimmer, und es ist überbelegt.‘ Wir dachten, noch einer im Zimmer wäre zuviel. Aber wir beruhigten uns wieder, und es stellte sich heraus, daß der junge Bruder niemand anders war als Bruder N. H. Knorr. Das war nicht gerade ein passendes Willkommen, aber wir haben noch Jahre später gern über diese Situation gesprochen und herzlich darüber gelacht. Von Anfang an war es offensichtlich, daß er nicht ins Bethel gekommen war, um zu faulenzen. Er setzte sich eifrig in der Versandabteilung ein und machte schnell Fortschritte im Erledigen von Pflichten, und er tat alles, was ihm zu tun aufgetragen wurde.“
Später diente er in der Druckerei der Gesellschaft im Dispatchbüro, und am 8. Februar 1928 wurde er von Bruder Rutherford zum Mitherausgeber der Zeitschrift Das Goldene Zeitalter ernannt. Clayton J. Woodworth war der Herausgeber, Robert J. Martin der Geschäftsführer und Nathan H. Knorr der Sekretär und Kassierer. Als der Fabrikleiter Robert J. Martin am 23. September 1932 starb, ernannte J. F. Rutherford an seiner Stelle N. H. Knorr. Am 11. Januar 1934 wurde Bruder Knorr zum Vorstandsmitglied der Peoples Pulpit Association (jetzt Watchtower Bible and Tract Society of New York, Inc.) gewählt. Nach dem Tode von E. J. Coward wurde er am 10. Januar 1935 zum Vizepräsidenten dieser Körperschaft eingesetzt. Am 10. Juni 1940 wurde Bruder Knorr Vorstandsmitglied der pennsylvanischen Körperschaft, der Watch Tower Bible and Tract Society, und wurde als Vizepräsident eingesetzt. Seine Wahl zum Präsidenten beider Gesellschaften erfolgte am 13. Januar 1942. Er wurde auch Präsident der International Bible Students Association. Über Bruder Knorrs Einstellung zur Arbeit erzählt J. L. Cantwell: „Im Jahre 1940, als es so viel Verfolgung gab, wurden Zweigbüros geschlossen, und es fanden Pöbelaktionen statt. Eines Abends machten wir in der Fabrik Überstunden. Eine ,Feuerlöschübung‘ wurde einberufen, und Bruder Knorr, der den Vorsitz bei der anschließenden Besprechung hatte, sagte u. a.: ,Ich weiß, daß es für das Werk schlecht aussieht. Aber an eines sollte jeder von uns hier denken: Wenn Harmagedon morgen kommt, wird es unser Wunsch sein, daß die Fabrik heute die ganze Nacht in Betrieb ist.‘ “
SCHULUNG FÜR DAS LEBEN
Lange Zeit hatten Jehovas Diener die Zeugniskarte und das Grammophon in ihrem Predigtdienst benutzt. Sie sollten aber die Fähigkeit haben, von sich aus über die Bibel zu sprechen. Sie sollten ihre Hoffnung begründen können. Das war die Ansicht des neuen Präsidenten der Gesellschaft, N. H. Knorr. C. James Woodworth sagt in einem Rückblick auf die Vergangenheit: „Während zu Bruder Rutherfords Zeit besonders das Thema ,Religion ist eine Schlinge und ein Gimpelfang‘ hervorgehoben wurde, dämmerte nun eine Zeit globaler Ausdehnung, und es begann eine Schulung auf biblischem und organisatorischem Gebiet in einem Ausmaß, wie es Jehovas Volk bis dahin noch nicht erlebt hatte.“
In den folgenden Jahren sollte noch größerer Nachdruck auf biblische Schulung gelegt werden. Jehovas Zeugen waren tatsächlich in eine Zeit der Schulung für das Leben eingetreten.
KURS IM THEOKRATISCHEN DIENSTAMT
„Bruder Knorr war gerade ein paar Tage länger als einen Monat Präsident der Gesellschaft“, erklärt Henry A. Cantwell, „als Vorkehrungen für einen sogenannten Fortbildungskurs im theokratischen Dienstamt getroffen wurden.“ Und worum handelte es sich hierbei? Um eine Schule, die im Februar 1942 im Brooklyner Bethel eingeführt wurde.
C. W. Barber erklärt: „Alle männlichen Angehörigen der Brooklyner Bethelfamilie wurden eingeladen, sich eintragen zu lassen ... Der Kurs bestand zunächst aus einem Vortrag, der vor allen Teilnehmern gehalten wurde. Die Schwestern wurden eingeladen, anwesend zu sein, aber sie wurden damals noch nicht in die Schule eingetragen. Nach dem Vortrag begaben wir uns in kleinere Räume, wo alle eingetragenen Studierenden unter der Aufsicht geschulter Ratgeber Ansprachen hielten.“ L. E. Reusch fügt hinzu: „Jeden Monat hatten wir eine Wiederholung, die unser Schulunterweiser, Bruder T. J. Sullivan, vorbereitete.“
Kommt dir das bekannt vor? Wenn du ein Zeuge Jehovas bist, dann weißt du, was vor über drei Jahrzehnten im Brooklyner Bethel eingeführt wurde: die Theokratische Predigtdienstschule. Bald zogen auch andere Lobpreiser Jehovas aus dieser Schulung Nutzen. Auf ihrem Kongreß „Aufruf zur Tat“, der am 17. und 18. April 1943 in 247 Städten der Vereinigten Staaten stattfand, wurde der „Kurs im theokratischen Dienstamt“ angekündigt und demonstriert. Überraschung bereitete eine 96seitige gleichnamige Broschüre, in der erklärt wurde, wie die neue Schule in jeder Versammlung durchgeführt werden sollte, und die auch Anregungen für die wöchentlichen Unterrichtsreden enthielt. Der eingesetzte Unterweiser sollte als Vorsitzender amten und konstruktiven Rat zu sechsminutigen Studierendenansprachen geben, die die männlichen Teilnehmer über verschiedene biblische Themen halten würden.
Wenn du in die heutige Theokratische Predigtdienstschule eingetragen bist, warst du wahrscheinlich vor deiner ersten Studierendenansprache etwas nervös. Aber stell dir vor, wie es damals, Anfang der 1940er Jahre, der Fall war, als die ganze Schule noch neu war. Die erste Ansprache eines Bruders in der Schule konnte ein ziemlich aufregendes Erlebnis für ihn sein. „Meine Knie schlotterten, meine Hände zitterten, und meine Zähne klapperten“, gesteht Julio S. Ramu. „Ich blieb keine sechs Minuten auf der Bühne, denn ich hielt die fünfte Ansprache in drei Minuten. Das war mein erstes Erlebnis auf der Bühne, aber ich gab nicht auf.“ „Der König der Ewigkeit“ war das Thema der ersten Studierendenansprache von Angelo Catanzaro. „Ich werde das nie vergessen“, erzählt er. „Meine Mutter sagte, ich hätte die Ansprache mehrere Nächte lang im Schlaf gehalten.“ Aber das Gebet und das Vertrauen zu Jehova spielten eine wichtige Rolle. „Sie waren willig und versuchten es“, erklärt Louisa A. Warrington, „und es war wunderbar zu sehen, wie Jehovas Geist ihnen half ..., gewandte und sichere Redner zu werden.“
Seit Beginn des Jahres 1959 haben auch Schwestern in den Versammlungen des Volkes Gottes das Vorrecht, sich in die Theokratische Predigtdienstschule eintragen zu lassen. Sie sollten demonstrieren, wie sie sechsminutige Predigten in den Wohnungen der Menschen halten würden — eine ziemliche Herausforderung an sie! Jetzt waren sie an der Reihe, nervös zu werden. Grace A. Estep hatte eine Predigt an dem Abend zu halten, an dem Schwestern zum erstenmal in der Theokratischen Predigtdienstschule Aufgaben hatten. „Hatte ich ein Lampenfieber!“ gesteht sie. „Aber es war ein leichtes Thema, ich war sehr gut damit vertraut, und irgendwie habe ich es geschafft. Wie dankbar war ich doch hinterher für diesen zusätzlichen Segen Jehovas, obwohl es mir so schwer gefallen war!“ Ergeht es dir ebenso?
Ja, all das begann damals, im Februar 1942, im Brooklyner Bethel. Heute ist die Theokratische Predigtdienstschule ein regulärer Bestandteil des christlichen Schulungsprogramms, das auf der ganzen Erde in den Versammlungen des Volkes Jehovas durchgeführt wird. Seit ihrer Einführung hat die Theokratische Predigtdienstschule viel Gutes für Jehovas Volk bewirkt. Schon bald ließ sich eine Verbesserung der Redefähigkeit feststellen. Und so wurde die jahrzehntelange Verwendung des Grammophons nach dem Jahre 1944 durch das mündliche Zeugnisgeben der theokratischen Prediger an den Türen und in den Wohnungen der Menschen ersetzt.
Ein wichtiger Bestandteil der Theokratischen Predigtdienstschule ist das Lesen des Wortes Gottes. Es ist ein regelmäßiger Bestandteil des Programms. Eine der ersten Publikationen für die Theokratische Predigtdienstschule war das Buch „Ausgerüstet für jedes gute Werk“, das im Jahre 1946 veröffentlicht wurde. Mabel P. M. Philbrick wird dir erzählen, daß dieses Buch „ein besseres Verständnis über die Niederschrift und Bewahrung der Bibel ermöglichte sowie darüber, wie der Zusatz der Apokryphen entstand. Zum erstenmal erfuhr ich, was der Talmud, der massoretische Text und viele andere Dinge waren. Am besten von allem war die Analyse jedes Bibelbuches.“
In den darauffolgenden Jahren wurden verschiedene Publikationen für die Theokratische Predigtdienstschule vorbereitet. Darunter war das im Wachtturm-Format gedruckte Buch „Die ganze Schrift ist von Gott inspiriert und nützlich“, das 1963 erschien. Alice Babcock spricht zweifellos vielen aus dem Herzen, wenn sie es treffend als „eine wahre Fundgrube geistiger Schätze“ bezeichnet. Dies war eine weitere Publikation, in der jedes einzelne der sechsundsechzig Bibelbücher gründlich besprochen wurde, und es wurde darin besonders hervorgehoben, inwiefern jedes Bibelbuch für Christen hellte nützlich ist.
Gegenwärtig wird in der Theokratischen Predigtdienstschule und auch zum persönlichen Bibelstudium ein Werk benutzt, das das Ergebnis von sechs Jahren Forschungsarbeit ist. Etwa 250 Brüder in über 90 Ländern lieferten dafür Beiträge, und dann überarbeitete ein besonderer Redaktionsstab das eingegangene Material im Brooklyner Hauptbüro der Gesellschaft. Das Ergebnis war ein 1 700seitiges Werk, das biblische Stichwörter von „Aaron“ bis „Zuzim“ (Susim) behandelt. Der Titel? Aid to Bible Understanding, vollendet im Jahre 1970. Es hat sich wirklich als eine Vorkehrung Jehovas erwiesen.
EIN FELDZUG ÖFFENTLICHER VORTRÄGE
Die Theokratische Predigtdienstschule brachte damals, in den 1940er Jahren, bald viele befähigte Brüder hervor, die öffentliche Vorträge halten konnten. Daher wurde im Januar 1945 ein weltweiter Feldzug öffentlicher Vorträge eingeleitet. Jeder Redner arbeitete seinen eigenen Vortrag aus, aber die Watch Tower Society sorgte für eine einheitliche Darbietung, indem sie die Themen stellte und Redepläne (von einer Seite Umfang) für diese einstündigen Vorträge zur Verfügung stellte. Dieser Vortragsfeldzug begann mit einer Serie von acht Vorträgen; das Thema des ersten lautete „Wird der Mensch als Welterbauer Gelingen haben?“
Außer dem Redner hatten auch andere Königreichsverkündiger Anteil an dem Feldzug. Inwiefern? Indem sie den Vortrag durch die Verbreitung von Handzetteln auf den Straßen und von Haus zu Haus ankündigten. Manchmal trugen die Verkündiger, die die gedruckten Einladungen verteilten, Plakate, auf denen der Vortrag angekündigt wurde. Häufig wurde der Vortrag im Königreichssaal gehalten, aber eine Vortragsserie konnte auch in einem gemieteten Saal oder irgendwo anders in einem abgelegenen Teil des Versammlungsgebietes stattfinden. Wenn du die christlichen Zusammenkünfte regelmäßig besuchst, kannst du noch heute aus diesen Zusammenkünften für die Öffentlichkeit Nutzen ziehen.
In jenen Jahren war es natürlich eine große Aufgabe, einen öffentlichen Vortrag zu halten. Das war etwas ganz Neues. W. L. Pelle erzählt: „Viele, viele Jahre lang habe ich mich immer an dem Abend, bevor ich einen öffentlichen Vortrag halten sollte, an meinem Bett niedergekniet und zu Jehova gebetet, er möge mir die Fähigkeit und Kraft geben, den Vortrag auf eine ihm wohlgefällige Weise zu halten. Ich gebe jungen Brüdern in der Theokratischen Predigtdienstschule den Rat, das gleiche zu tun, denn Jehova hat meine Bitte immer erhört, und er wird auch ihre erhören“ (Ps. 65:2).
JEHOVA SORGT FÜR EIN WELTWEITES ZEUGNIS
Vor etwa drei Jahrzehnten befand sich die Menschheit inmitten der Schrecken des Zweiten Weltkrieges. Einigen mag es als unpraktisch erschienen sein, in dieser Zeit Pläne für eine weltweite Ausdehnung des Königreichspredigtwerkes zu schmieden. Aber Jehovas Geist stärkte seine Diener und veranlaßte sie voranzugehen. Es war lebenswichtig, Menschen für das Leben zu schulen.
Im September 1942 billigten Bruder Knorr und die anderen Vorstandsmitglieder der Watch Tower Society einstimmig die Gründung einer Schule, in der Missionare für die Predigttätigkeit in verschiedenen Ländern der Erde ausgebildet werden sollten. Wo sollte sie durchgeführt werden? Auf dem Besitztum der Gesellschaft in der Fingersee-Gegend im Norden des Staates New York — auf der Königreichsfarm in der Nähe von South Lansing.
Dort stand ein großes, dreistöckiges Backsteingebäude, das die Watchtower Society im Jahre 1941 gebaut hatte. Es war als Zufluchtsort für Glieder der Brooklyner Bethelfamilie gebaut worden, für den Fall, daß heftige Verfolgung ihre Versetzung an diesen Ort nötig machen sollte. Aber es hatte nie diesem Zweck gedient. Vielleicht hatte Jehova die ganze Sache gelenkt und dieses Gebäude für einen einzigartigen Zweck vorgesehen. Nun wurden Pläne für eine neue Einrichtung zur theokratischen Schulung gemacht. Die Schule selbst würde Watchtower Bible College of Gilead heißen. Später wurde sie Watchtower Bible School of Gilead (Wachtturm-Bibelschule Gilead) genannt.
Es herrschte eine fieberhafte Tätigkeit. Anfang Oktober 1942 bereiteten A. D. Schroeder, Maxwell G. Friend und Eduardo F. Keller die Kurse vor, die von der leitenden Körperschaft umrissen worden waren, arbeiteten Vorträge aus, beschafften sich Lehrbücher und stellten eine Bibliothek zusammen. Gleichzeitig wurden die bestehenden Gebäude auf der Königreichsfarm umgebaut, um Platz für eine Bibliothek, einen Hörsaal, Klassenzimmer, Schlafräume und andere Räumlichkeiten zu schaffen. Das waren aufregende Monate.
Stell dir die Überraschung gewisser Pioniere vor, die plötzlich einen Bewerbungsbogen für die neue Schule erhielten! Doch noch größere Aufregung herrschte, als die Bewerbungen angenommen wurden. „Wir fühlten uns völlig ungeeignet, aber wir waren dankbar für das Vorrecht“, erklären Bruder Charles Eisenhower und seine Frau. „Unsere Bewerbungen wurden angenommen. Wir verkauften unser Auto und den Wohnwagen und fuhren zur Schule. Es war die erste Klasse Gileads. Die Schule war neu, die Klassen waren neu, und die Unterweiser und Studenten waren neu.“
Nun kam der mit Spannung erwartete Eröffnungstag — Montag, der 1. Februar 1943. Schnee lag auf den Feldern der Königreichsfarm. Es war ein kalter Wintertag. Doch im Verwaltungsgebäude waren 49 Männer und 51 Frauen — teils verheiratet, teils ledig — freudig versammelt. Außerdem waren zur Eröffnungsfeier der Schule die Vorstandsmitglieder der Gesellschaft, die Unterweiser sowie Freunde und Verwandte erschienen — insgesamt 161 Personen.
F. W. Franz und W. E. Van Amburgh sowie andere Brüder hielten Vorträge. Bruder Knorr selbst hielt die Willkommens- und Eröffnungsansprache. Zweifellos stimmten alle Anwesenden völlig mit seinen Äußerungen überein: „Jehova Gott hat dafür gesorgt, daß dieses Land und dieses Gebäude, das ,Gilead‘ heißt, für seinen Zweck bereitstanden. Ihm zollen wir allen Dank, und ihn müssen wir loben.“ Ohne Frage war die Gründung dieser Schule ein bedeutender Schritt in der theokratischen Entwicklung.
Bibelkunde, Theokratischer Predigtdienst, Öffentliches Sprechen, Göttliches Recht, Biblische Themen — das waren einige der Fächer, denen die fleißigen Studenten während ihres fünfmonatigen Kurses ihre Aufmerksamkeit schenkten. Außerdem erlernten sie eine Fremdsprache — in der ersten Klasse war es Spanisch. Es gab wirklich vieles zu lernen. Die Gileadstudenten verrichteten aber auch an jedem Schultag bestimmte Arbeiten auf der Farm und im Haushalt. Das half ihnen unter anderem, ihre Nervosität zu überwinden. Wochentags waren die Abende dem persönlichen Studium gewidmet. Die Wochenenden boten gute Gelegenheiten, sich an dem lebenrettenden Königreichspredigtwerk zu beteiligen. Studenten und Unterweiser beteiligten sich gemeinsam am Predigtdienst.
Der Zweite Weltkrieg tobte noch, als die ersten Klassen die Gileadschule absolvierten. Da es damals praktisch unmöglich war, Missionare nach Europa und nach Westen auf die Inseln des Meeres sowie nach Asien zu senden, wurden sie zunächst nach Kuba, Mexiko, Costa Rica, Puerto Rico, Kanada und Alaska geschickt. Seither sind sie bis an die Enden der Erde ausgezogen, um die gute Botschaft vom Königreich „zu einem Zeugnis“ zu predigen (Matth. 24:14).
Die 35. Klasse der Gileadschule hatte ihre Abschlußfeier am 24. Juli 1960 auf der Königreichsfarm. Die 36. Klasse begann am Montag, dem 6. Februar 1961, in dem Besitztum der Watch Tower Society in Brooklyn (New York), Columbia Heights 107. Wie nützlich ist es doch, diese Schule im Hauptbüro der Gesellschaft zu haben! Die Studenten haben jetzt das Vorrecht, mehr Vorträge von Brüdern zu hören, die zum Mitarbeiterstab der Gesellschaft gehören, zum Beispiel von Gliedern der leitenden Körperschaft der Zeugen Jehovas.
Drei Jahrzehnte sind vergangen, seit die Wachtturm-Bibelschule Gilead ihren Anfang nahm. Bis heute haben über 5 500 Studenten diese Institution zur theokratischen Schulung besucht. Davon sind noch über 2 500 im Vollzeitdienst tätig und predigen die gute Botschaft vom Königreich in allen Teilen der Welt.
KÖNIGREICHSDIENSTSCHULE
Im Laufe der Jahre wurde immer mehr Nachdruck auf die theokratische Schulung für das Leben gelegt. Im Jahre 1958 wurde ein Studienkurs für eine neue Schule vorbereitet. Diese Schule war für Aufseher bestimmt. Sie wurde als Königreichsdienstschule bezeichnet, und ihr Kurs umfaßte ursprünglich 24 Schultage mit 96 Unterrichtsstunden und 20 Unterrichtsreden oder Vorträgen. Die Fächer waren „Königreichslehren“, „Felddienst“, „Redeschulung“ und „Aufseher“. Die erste Gruppe, die an der Königreichsdienstschule teilnahm, bestand aus 25 Teilnehmern: aus Kreisdienern (-aufsehern) und ihren Frauen, die noch keine Gileadabsolventen waren. Der erste Kurs lief vom 9. März bis 3. April 1959 in den Räumlichkeiten der Gesellschaft in der Nähe von South Lansing (New York). Am 9. April 1967 wurde die Schule in das Hauptbüro nach Brooklyn verlegt.
Im Laufe der Zeit gab es einige Änderungen in der Königreichsdienstschule. So wurde der Kurs zum Beispiel von vier auf zwei Wochen verkürzt. Zum Nutzen des Volkes Jehovas gibt es in vielen Ländern der Erde Königreichsdienstschulen. In einer Anzahl Länder reisen die Unterweiser von einem Ort zum anderen und benutzen Königreichssäle zur Durchführung der Schule. Diese Vorkehrung dient zum Nutzen der Ältesten, die so die Möglichkeit haben, die Schule an einem für sie günstig gelegenen Ort zu besuchen. Wie dankbar kann Jehovas Volk für diese großartige Schulung sein! Die Königreichsdienstschule hat viel dazu beigetragen, christliche Aufseher für ihre Pflichten und Vorrechte auszurüsten.
Eine weitere interessante Seite der theokratischen Schulung für das Leben darf nicht übersehen werden. Viele Menschen, die im Laufe der Jahre biblische Erkenntnis erlangen wollten, sind Analphabeten gewesen, aber ihr Problem ist nicht außer acht gelassen worden. In vielen Ländern hat die Organisation des Volkes Gottes Klassen eingerichtet, in denen das Lesen und Schreiben gelehrt wird. In einigen Fällen haben Regierungsvertreter diese Einrichtungen sehr gelobt. Männer und Frauen haben lesen und schreiben gelernt, und viele von ihnen haben Fortschritte gemacht und erfreuen sich großartiger Dienstvorrechte zu Jehovas Ruhm und Ehre.
„VORWÄRTS!“ LAUTET DAS SIGNAL
Im Jahre 1942 erkannten Bruder Knorr und seine Mitarbeiter, daß noch viel Arbeit zu tun war. Und so wurde auf dem „Theokratischen Neue-Welt-Kongreß“ der Zeugen Jehovas, der vom 18. bis 20. September 1942 stattfand, das „Vorwärts!“-Signal gegeben. Cleveland (Ohio) war die Hauptkongreßstadt, und mit ihr waren 51 andere Kongresse überall in den Vereinigten Staaten verbunden.
Den Schlüsselvortrag des Kongresses hielt F. W. Franz am Freitag, dem 18. September 1942, abends. Das Thema lautete: „Das einzige Licht“ und stützte sich auf Jesaja, Kapitel 49 und 60. In diesem Vortrag erklang ganz deutlich das Signal „Vorwärts!“ Julia Wilcox schreibt: „Ich glaube nicht, daß am Schluß des Schlüsselvortrages ,Das einzige Licht’ irgend jemand unter den Zuhörern dachte, nun sei die Zeit gekommen, im Eifer nachzulassen und auszuruhen. Nein, jetzt war es für Gottes Volk an der Zeit, ‘aufzustehen und zu leuchten’, um weiterhin das einzige Licht in der Finsternis dieser alten Welt widerzuspiegeln.“
Bruder Knorr folgte F. W. Franz im Programm und sprach über das Thema „ ‚Das Schwert des Geistes‘ präsentieren“. Er begann seinen Vortrag mit den bedeutsamen Worten: „Es ist noch Arbeit zu tun, viel Arbeit!“
Ein weiteres Anzeichen dafür, daß es noch Arbeit zu tun gab, waren Äußerungen, die während des öffentlichen Vortrages am Sonntagnachmittag, am 20. September, gemacht wurden. Das Thema? Das war tatsächlich merkwürdig, da die Nationen tief in den Zweiten Weltkrieg verstrickt waren. Es lautete: „Weltfriede — ist er von Bestand?“
Bruder Knorr erkannte, daß dies ein sehr wichtiger Vortrag sein würde. Er war entschlossen, mit Jehovas Hilfe sein Bestes zu geben. „Schon Monate vorher“, erzählt L. E. Reusch, „konnte ich hören, wie er buchstäblich Dutzende von Malen seinen öffentlichen Vortrag, Weltfriede — ist er von Bestand?’ laut übte. Mein Zimmer im Bethel befand sich direkt unter dem Zimmer des Präsidenten. Daher weiß ich persönlich, wie lange und gründlich er den Vortrag geübt hat.“
In diesem flüssigen einstündigen Vortrag wurde der Völkerbund mutig als das scharlachfarbene politische Tier aus Offenbarung, Kapitel 17 identifiziert. Es wurde erklärt, daß der Völkerbund, der sich damals im Abgrund der Untätigkeit befand, ‘nicht war’, aber nicht im Abgrund bleiben würde (Offb. 17:8). Er würde wieder hervorkommen. „Aber beachte folgendes“, erklärte N. H. Knorr, „die Prophezeiung zeigt, daß, wenn das ,Tier‘ am Ende dieses totalen Krieges wieder aus dem Abgrund herauskommt, es mit der Hure ,Babylon’ auf seinem Rücken herauskommen wird oder sie sich auf seinen Rücken setzen wird, sobald es wieder herauskommt.“ Doch weder der von Menschen gemachte Friede noch das scharlachfarbene wilde Tier würden von Bestand sein. Bald würde das wilde Tier selbst völlig vernichtet werden.
Über diesen Vortrag sagte Marie Gibbard später: „Wie klar wurde uns doch die Prophezeiung aus Offenbarung 17, als gezeigt wurde, daß der Völkerbund aus dem Abgrund hervorkommen und ein unsicherer Friede herrschen würde, der nicht von Bestand wäre! Welch ein wunderbarer Schutz war das doch für uns davor, von den darauffolgenden Weltereignissen mitgerissen zu werden — von dem Jubel, der in diesem Lande herrschte, als ... [die Siege über Deutschland und Japan bekannt wurden] und als dann, im Jahre 1945, die Vereinten Nationen als die Lösung für künftigen Frieden gepriesen wurden! Dieser Vortrag hinterließ bleibende Eindrücke, und wir konnten ihn praktisch anwenden.“ Auch die Schlußfolgerung war offensichtlich. Jehovas Diener hatten ein Werk zu tun, und es würde noch einige Zeit verbleiben, um es zu verrichten.
REISENDE HIRTEN DER HERDE
Auf jenem Kongreß im Jahre 1942 wurde angekündigt, daß Beauftragte der Watch Tower Society regelmäßig Versammlungen des Volkes Gottes besuchen würden. (Früher hatten die Zonendiener diese Arbeit verrichtet, aber ihre Tätigkeit und die der Bezirksdiener sowie das Abhalten von Zonenversammlungen war mit Wirkung vom 1. Dezember 1941 eingestellt worden.) Ab 1. Oktober 1942 sollten nun wieder reisende Beauftragte der Gesellschaft ausgesandt werden. Diese Brüder waren als „Diener für die Brüder“ bekannt und waren mit den heutigen Kreisaufsehern vergleichbar. „Sie überprüften die Aufzeichnungen der Versammlungen und halfen den Brüdern bei der Förderung der Königreichsinteressen“, erzählt Schwester J. Norris. „All das führte uns vor Augen, wie Jehova für sein Volk durch seine Organisation sorgt.“
Vom 15. Oktober 1946 an sollten in Verbindung mit dieser Tätigkeit einige Neuerungen eingeführt werden. Das Feld sollte in Kreise mit jeweils etwa 20 Gruppen (Versammlungen) aufgeteilt werden. Jede dieser Gruppen sollte eine Woche lang von einem reisenden Aufseher besucht werden, der in erster Linie daran interessiert wäre, den Zeugen in ihrem Predigtdienst von Haus zu Haus zu helfen. Zweimal jährlich sollten sich alle Versammlungen eines Kreises an einem bestimmten Ort zu einem dreitägigen Kreiskongreß versammeln, dessen Vorsitzender ein „Bezirksdiener“ wäre. In den folgenden Jahren gab es einige Änderungen in dieser Vorkehrung, und falls du ein Zeuge Jehovas bist, kommen sie dir heute noch zugute. Doch wie war es vor einigen Jahren?
Nehmen wir den Bezirksdienst der 1940er Jahre als Beispiel für die Anstrengungen, die diese willigen Hirten der Herde Gottes unternahmen. Blicken wir zum Beispiel auf das Ende der 1940er Jahre zurück, als Nicholas Kovalak jr. einer der wenigen Brüder war, die damals in den Vereinigten Staaten als Bezirksdiener tätig waren. Über den Oktober 1949 sagt er: „In jenem Monat reiste ich über 6 430 Kilometer mit dem Auto.“ Er erzählt: „Ich hatte fünf Kreiskongresse an den Wochenenden zu besuchen, und zwischendurch diente ich in verschiedenen Versammlungen. So reiste ich, hielt Ansprachen, gab Zeugnis, überprüfte die Unterlagen, aß, studierte, las und hatte ein wenig Zeit zum Schlafen.“ In einer Woche reiste er über 3 000 Kilometer, um zwei Versammlungen zu dienen und am Wochenende einen Kreiskongreß zu besuchen. Natürlich mußte er nicht immer so weit fahren. „Heute, wo es mehr Versammlungen gibt, ist alles viel einfacher“, gesteht Bruder Kovalak. „Jehova ist gut zu uns und hilft uns.“
Auch heute sind die Kreis- und Bezirksaufseher ernsthaft an ihren Mitanbetern interessiert. Sie bemühen sich, ihnen im Predigtdienst zu helfen und sie geistig zu erbauen. Kreiskongresse spielen ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Förderung der Königreichsinteressen. Wußtest du, daß in den Vereinigten Staaten im vergangenen Dienstjahr jede Woche durchschnittlich 20 Kreiskongresse mit einer durchschnittlichen Besucherzahl von 1 605 Personen abgehalten wurden? Im ganzen Jahr waren es 1 064 Kreiskongresse mit einer Besucherzahl von 1 708 143 Personen.
NEUTRALE CHRISTEN BEZIEHEN STELLUNG
Als die neue Verwaltung der Watch Tower Society Anfang der 1940er Jahre ihre Arbeit aufnahm, war der Zweite Weltkrieg im Gange, und eine Anzahl christlicher Männer erlebten eine Prüfung ihrer Lauterkeit gegenüber Jehova. Im Jahre 1940 trat in den Vereinigten Staaten, die damals noch nicht in den Krieg eingetreten waren, das Aushebungs-, Ausbildungs- und Wehrdienstgesetz (Selective Training and Service Act) in Kraft. Dieses Gesetz ermöglichte die Aushebung junger Männer von über achtzehn Jahren zum Militärdienst, aber „regelmäßig wirkende oder rechtmäßig ordinierte Prediger [Geistliche]“ konnten in die Klasse IV-D eingestuft und davon befreit werden. In den meisten Fällen lehnte man es ab, Jehovas Zeugen als Prediger einzustufen. Sie waren weder aufrührerisch, noch mischten sie sich in militärische oder andere Bestrebungen menschlicher Regierungen ein. Aber sie waren entschlossen, als Christen strenge Neutralität zu bewahren (Joh. 17:16). Außerdem hatten sie ‘ihre Schwerter zu Pflugscharen geschmiedet’ (Jes. 2:2-4).
In Tausenden von Fällen argumentierten die Staatsanwälte, Jehovas Zeugen müßten zuerst in die Armee eintreten, bevor sie bei den Bundesgerichten um Befreiung ersuchen könnten. Daher wurden diejenigen, die ihre Lauterkeit bewahrten, von den Bundesbezirksgerichten ins Gefängnis geschickt, und eine ganze Anzahl erhielt die Höchststrafe von fünf Jahren Haft und eine Geldstrafe von 10 000 Dollar. Interessanterweise wies bei der Verurteilung von Eugene R. Brandt und sechs anderen Zeugen der Richter auf die Flagge, die hinter seinem Richterstuhl an der Wand hing, und sagte, wie sich Bruder Brandt erinnert: „Sehen Sie diese Fahne? Nun, ich kann das Angesicht meines Gottes in dieser Fahne sehen, und daher lehne ich es nicht ab, sie zu verehren, und genauso sollten auch Sie denken.“
DIE ZEIT IM GEFÄNGNIS GUT AUSNUTZEN
Die erste Nacht hinter Gefängnisgittern war ein Erlebnis. Der Pionier Daniel Sydlik (der jetzt im Brooklyner Bethel dient) wurde im Jahre 1944 wegen seiner christlichen Neutralität eingesperrt. Er erinnert sich noch, wie er auf seiner Pritsche lag und zuhörte, wie sich die Stahltüren donnernd schlossen. Das Geräusch der sich schließenden Türen kam immer näher, bis seine Zellentür plötzlich zitterte, dann langsam rollte und sich schließlich schloß. Er sagt: „Plötzlich überwältigte mich ein Gefühl der Übelkeit. Ich fühlte mich in einer Falle gefangen, ohne Ausweg. Dann überkam mich ein anderes Gefühl, das genauso überwältigend war, und ich verspürte großen Frieden und Freude, den Frieden, von dem die Bibel spricht — ‘den Frieden Gottes, der alles Denken übertrifft’ “ (Phil. 4:7).
Bruder Sydlik wurde schließlich, wie so viele andere, ins Bundesgefängnis gebracht. Was taten diese neutralen Christen dort? Sie nutzten ihre Zeit gut. Es wurde ihnen erlaubt, nach ihrer Arbeit im Gefängnis Zusammenkünfte abzuhalten, um die Bibel und Veröffentlichungen der Watch Tower Society zu studieren. Sie verbesserten auch ihre Allgemeinbildung, indem sie Fremdsprachen lernten, zum Beispiel Spanisch oder Griechisch. Über die Christen, die in Mill Point (West Virginia) eingesperrt waren, erzählt Rudolph J. Sunal: „Wir hatten unser Versammlungsbuchstudium ... Jede Schlafraumgemeinschaft hatte ihre Dienstzusammenkunft und die Theokratische Predigtdienstschule. ... Sonntags hatten wir unser Wachtturm-Studium in der Bibliothek. ... Eine weitere Vorkehrung, die wir einrichten konnten, war das Vorrecht von Minikongressen. ... In einem Sommer benutzten wir dazu den Fußballplatz, und wir hatten ein Klavier und andere Musikinstrumente und erlebten ein äußerst lehrreiches Programm.“
Bezüglich des christlichen Schulungsprogramms, das damals im Gefängnis durchgeführt wurde, sagt F. Jerry Molohan: „Unsere Studienzusammenkünfte aller Art waren ausnahmslos gut besucht, und sie waren so lehrreich, daß wir die ,Ehrenfarm des Leavenworth-Gefängnisses‘ humorvoll ,Stonewall College‘ nannten.“
Die Watch Tower Society war sehr um das geistige Wohl dieser jungen Männer besorgt. Daher wurden Vorkehrungen getroffen, daß bestimmte Brüder, zum Beispiel A. H. Macmillan und T. J. Sullivan, sie regelmäßig besuchten. Wozu? Um ihnen biblischen Rat zu geben und sie zu ermuntern.
Ob frei oder im Gefängnis, suchen Jehovas Zeugen immer Möglichkeiten, ihren Auftrag, Jünger zu machen, zu erfüllen (Matth. 28:19, 20). Zwar hatten diese neutralen Christen damals nur begrenzte Möglichkeiten, aber dadurch wurden sie nicht völlig zum Schweigen gebracht. Bruder Molohan äußert sich diesbezüglich: „Aus einer Gelegenheit machte ich das Beste. Ein gutmütiger Mann, Frank Ryden, der zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden war, wurde mein erster ‘Empfehlungsbrief’; er wurde in einem Maultiertrog getauft“ (2. Kor. 3:1-3).
EIN GNADENGESUCH
Am 10. August 1946 wurde eine wichtige Resolution von 60 000 Delegierten des „Theokratischen Kongresses fröhlicher Nationen“, den Jehovas Zeugen in Cleveland (Ohio) durchführten, einstimmig angenommen. Darin wurde der Präsident der Vereinigten Staaten ersucht, über 4 000 unrechtmäßig verurteilten und eingesperrten Zeugen volle Amnestie zu gewähren. Durch eine solche Gnadenerweisung würden diese neutralen Christen, denen die Wehrdienstbehörden und Bundesgerichte in den Jahren 1940 bis 1946 ihre Rechte verweigert hatten, die Bürgerrechte wiedererlangen.
„Zu meiner Überraschung“, erzählt Edgar C. Kennedy, „kündigte der Vorsitzende an, daß ein Beauftragter der Gesellschaft die Resolution, in der für all diese Männer um volle Amnestie gebeten wurde, dem Präsidenten der Vereinigten Staaten persönlich überreichen würde. Da Präsident Harry Truman ein früherer Offizier war, mit dem ich im Ersten Weltkrieg gedient hatte, dachte ich, es wäre gut, wenn ich dies dem Büro des Vorsitzenden mitteilte, und das tat ich auch.“ Und so kam es, daß am Freitag, dem 6. September 1946, der Rechtsberater der Gesellschaft, ein weiterer Rechtsanwalt und Bruder Kennedy, ein Pionier, mit dem Präsidenten um 12.30 Uhr für etwa vierzig Minuten zusammenkamen. Wie Bruder Kennedy erzählt, hörte Truman, während der Rechtsanwalt der Gesellschaft die Punkte der Resolution vortrug, aufmerksam zu bis zu der Stelle, in der um Amnestie gebeten wurde. An dieser Stelle, erinnert er sich, „brach Truman in Wut aus und sagte: ,Ich habe keine Verwendung für einen Hurensohn, der nicht für sein Land kämpfen will. Außerdem kann ich die Respektlosigkeit nicht leiden, die Sie gegenüber der Fahne zeigen.‘ “ Bruder Kennedy erzählt weiter:
„Jetzt wußte ich, daß ich an der Reihe war zu sprechen. Ich gab mich als früherer Offizierskamerad zu erkennen und sagte, ich sei dafür verantwortlich gewesen, daß seine Batterie mit all der Munition versorgt worden sei, die sie während des Krieges verschossen habe. Ich nahm eine Fotografie der Regimentsoffiziere aus meiner Aktentasche und legte sie auf seinen Schreibtisch. Er sah sie sich an und sagte, das gleiche Bild hänge in seiner Bibliothek über seinem Schreibtisch. Darauf erklärte ich ihm, es sei schwerer, für christliche Grundsätze zu kämpfen, als im Krieg zu kämpfen. Ich erklärte ihm kurz den Grund, weshalb Jehovas Zeugen nicht die Fahne grüßen. Er hörte zu und sagte dann: ,Ich habe mich wohl geirrt.‘ “
Wie Bruder Kennedy erzählt, schenkte der Präsident danach dem Rechtsanwalt der Gesellschaft seine Aufmerksamkeit, „der nun das Gesuch um die Freilassung der Zeugen Jehovas, die aufgrund des Wehrdienstgesetzes im Gefängnis gehalten wurden, zu Ende vortrug. Truman sagte schließlich, er werde die Sache mit dem Justizminister besprechen.“
Einige Zeit später setzte Präsident Truman einen Amnestieausschuß ein. Dieser untersuchte Tausende von Gerichtsakten und Unterlagen der Wehrdienstbehörden und empfahl darauf, einige Personen zu begnadigen. Aber am 23. Dezember 1947 begnadigte Truman nur 136 Zeugen Jehovas, wohingegen er insgesamt 1 523 Personen Amnestie gewährte. Andere religiöse Gruppen, von denen insgesamt 1 000 Männer im Gefängnis saßen, verglichen mit den 4 300 Zeugen, erhielten den Löwenanteil. Folglich wurde die große Mehrheit dieser neutralen Christen diskriminiert, und zwar deshalb, weil sie fest entschlossen waren, Jehova Gott gegenüber die Lauterkeit zu bewahren.
DER GESETZLICHE KAMPF WIRD FORTGESETZT
In den Fällen Smith und Estep entschied das Oberste Bundesgericht am 4. Februar 1946, daß die unteren Bundesgerichte unrecht gehandelt hatten, als sie Jehovas Zeugen das Recht auf ein unparteiisches Verhör versagt und bestimmt hatten, daß sie zuerst in die Armee eintreten müßten, bevor sie sich vor Gericht verteidigen könnten. Am 23. Dezember 1946 erweiterte das Oberste Bundesgericht in Verbindung mit den Fällen Gibson und Dodez das Gesetz in dem Sinne, daß den Zeugen Jehovas, die angeklagt worden waren, sich nicht in den Lagern für Kriegsdienstverweigerer gemeldet zu haben oder nicht in solchen Lagern geblieben zu sein, nachdem sie sich gemeldet hatten, gestattet wurde, sich vor Gericht zu verteidigen.
Die Staatsanwälte argumentierten, die Vollzeitpioniere seien nicht berechtigt, vom Wehrdienst und von der militärischen Ausbildung befreit zu werden, weil sie keine festen Versammlungen hätten. Außerdem vertraten die Staatsanwälte die Ansicht, daß Gruppendiener (vorsitzführende Aufseher) keinen Anspruch auf Befreiung hätten, da sie keine aus Laien bestehenden Versammlungen hätten, sondern den Vorsitz über Versammlungen führten, die aus Zeugen Jehovas beständen. Diese Argumente wurden am 30. November 1953 vom Obersten Bundesgericht im Fall Dickinson widerlegt, der zugunsten der Zeugen Jehovas entschieden wurde. Dadurch wurde ein Präzedenzfall geschaffen, nach dem sich alle Bundesgerichte zu richten hatten.
FEST IM GLAUBEN TROTZ GEFÄNGNISHAFT
Wenn man drei Jahrzehnte zurückblickt auf die Zeit, in der so viele Christen aufgrund ihrer Lauterkeit ins Gefängnis kamen, mag man sich fragen, wie man sich wohl selbst unter ähnlichen Umständen verhalten würde. Es spielt wirklich keine Rolle, welche Entschuldigung der Feind benutzt, um Gottes Diener anzugreifen. Mit Jehovas Hilfe kann man seine Lauterkeit bewahren, wie das schon jene Hunderte von neutralen Christen vor vielen Jahren taten. Im Jahre 1965 sprach Stanley Ernest Jones zu über 34 700 Personen im New Yorker Yankee Stadium, nachdem er sieben Jahre in Rotchina inhaftiert gewesen war. Im Gefängnis hatte er viel über die Heilige Schrift nachgedacht und gebetet, und er hatte sich mit Hilfe des Geistes Jehovas geistig stark erhalten. Aber er erwähnte noch etwas: „Schließlich werden wir nur ,zehn Tage lang’ Drangsal haben. Mit anderen Worten, die Drangsal wird ein Ende haben. Alles hat zur bestimmten Zeit ein Ende, darum harren wir einfach aus; Gott hilft uns, standhaft zu bleiben“ (Offb. 2:10).
Ein Mitmissionar, Harold King, verbrachte fast fünf Jahre in einem chinesischen Gefängnis. Auch er war geistig stark geblieben. Wußtest du, daß er, während er in Haft war, sogar Lieder komponierte, die sich auf biblische Gedanken stützten? Ja, das Liederbuch, das Jehovas Zeugen heute benutzen — „Singt und spielt dabei Jehova in euren Herzen“ —, enthält eine Melodie, die Bruder King im Gefängnis komponiert hat. Es ist das Lied Nr. 10: „Von Haus zu Haus“. Habe also keine Furcht vor der Zukunft. Jehova kann dich genauso stützen, wie er die inhaftierten neutralen Christen in den Vereinigten Staaten sowie viele andere, die ihre Lauterkeit bewahrten, stützte, wie zum Beispiel Bruder Jones und Bruder King, die die harte Erfahrung machten, im kommunistischen China in einem Gefängnis eingesperrt zu sein.
HELFENDE HÄNDE RÜHREN SICH
Mit dem 2. September 1945 kam das Ende des Zweiten Weltkrieges. Bald wurden in vielen Ländern die Zweigbüros der Watch Tower Society wiedereröffnet. Versammlungen wurden neu gegründet, und immer mehr geistige Speise wurde erhältlich. Doch benötigten die Christen in den vom Krieg zerrissenen Ländern auch materielle Dinge. Daher setzte Jehovas Volk aus christlicher Liebe zu ihren bedürftigen Mitgläubigen eine zweieinhalbjährige weltweite Hilfsaktion in Gang (Joh. 13:34, 35). Zeugen Jehovas in den Vereinigten Staaten, in Kanada, der Schweiz, in Schweden und anderen Ländern spendeten Kleidung und Geld für Nahrungsmittel, um Christen in Belgien, Bulgarien, China, Dänemark, Deutschland, England, Finnland, Frankreich, Griechenland, Italien, den Niederlanden, in Norwegen, Österreich, auf den Philippinen, in Polen, Rumänien, der Tschechoslowakei und in Ungarn zu helfen.
„Am Ende des Zweiten Weltkrieges“, erinnern sich Hazelle und Helen Krull, „kehrten unsere Brüder aus den Gefängnissen zurück. Viele von ihnen waren krank und hatten all ihr Hab und Gut verloren, andere waren von ihrer Familie getrennt worden und wußten nicht, ob ihre Angehörigen noch am Leben waren. Aber trotz alledem waren sie in geistiger Hinsicht erstaunlich stark. Sie wurden von ihren Brüdern auf der ganzen Welt willkommen geheißen. Sie waren in erster Linie daran interessiert, das Königreichswerk zu reorganisieren, die gleiche gute Botschaft zu predigen, für die sie ins Gefängnis gegangen waren, und ihre biblische Erkenntnis aufzufrischen. Zu beobachten, welch großen Eifer sie nach solch großen und langwährenden Mühsalen hatten, war für uns ein Ansporn, und wir waren glücklich über das Vorrecht, ihnen wenigstens ein bißchen zu helfen, ihre materiellen Bedürfnisse zu stillen. Es wurden Kleider, Schuhe und andere notwendige Artikel gesammelt und in den Königreichssälen sortiert und schließlich von Lastwagen abgeholt, um an unsere Brüder versandt zu werden. Auf diese Weise wurden viele, viele Tonnen liebevoll gespendet.“
Die Gesamtmenge der Kleidersendungen betrug 479 114 Kilogramm. Die Gesamtmenge der Lebensmittel belief sich auf 326 081 Kilogramm. Außerdem wurden im Rahmen dieser Hilfsmaßnahmen 124 110 Paar Schuhe an bedürftige Christen geschickt. All dies belief sich auf einen Wert von 1 322 406.90 $. Diese Liebesgaben wurden sehr geschätzt. Über eine Äußerung der Dankbarkeit berichtet Esther Allen: „Als ich den Dankesbrief las, der zurückkam, kamen mir die Freudentränen.“ So kam es, daß die amerikanischen Brüder im Austausch für die materiellen Gaben große Dankbarkeit zu verspüren bekamen und einen ermutigenden Bericht der Lauterkeit erhielten.
Im Laufe der Jahre hatten Jehovas Zeugen in den Vereinigten Staaten verschiedene Gelegenheiten, ihren Mitgläubigen im eigenen Land und auch im Ausland in materieller Hinsicht zu helfen. Zum Beispiel wurde Peru im Jahre 1970 von Erdbeben heimgesucht. Versammlungen in Lima sammelten Kleider, Nahrung und Geld und brachten unverzüglich ungefähr 7 Tonnen Vorräte in das betreffende Gebiet. Jehovas Zeugen in New York spendeten über 10 Tonnen Kleider. Das war tatsächlich mehr Kleidung als benötigt wurde. Außerdem schickte die Watch Tower Society ihrem Zweigbüro 20 000 $, damit das besorgt werden konnte, was die Brüder in dem heimgesuchten Gebiet benötigten. Ähnliche Hilfe wurde geboten, als ein Erdbeben im Jahre 1972 Managua (Nicaragua) zerstörte. Solche Beispiele christlicher Liebe erinnern an die von Herzen kommende Großzügigkeit der Christen des ersten Jahrhunderts (2. Kor. 9:1-14).
Doch Jehovas Zeugen helfen ihren Mitanbetern nicht immer nur in materieller Hinsicht. Wußtest du, daß Jehovas Diener in den Vereinigten Staaten und in anderen Ländern im Jahre 1961 Tausende von Briefen an die spanische Regierung schrieben und darum baten, sie möge Gottes Volk in diesem Land Religionsfreiheit gewähren? Und im Jahre 1968 schrieben sie an die Regierung Malawis und protestierten gegen die Mißhandlung der dortigen christlichen Zeugen Jehovas. Sie haben ein wahrhaft liebevolles Interesse an ihren Brüdern auf der ganzen Erde.
HISTORISCHE KONGRESSE ZUR EHRE JEHOVAS
Große Zusammenkünfte des Volkes Gottes waren stets, in alter und in neuer Zeit, Gelegenheiten zur geistigen Erbauung. Oft waren sie auch Zeiten großer Freude (5. Mose 31:10-13; Neh. 8:8, 12). Das traf auf den „Theokratischen Kongreß fröhlicher Nationen“ zu, den Jehovas Zeugen im ersten Nachkriegsjahr, vom 4. bis 11. August 1946, in Cleveland (Ohio) abhielten. Dieser Kongreß war anders als alle vorhergehenden. Zwar hatte es schon in früheren Jahren Kongresse gegeben, bei denen mehrere Städte in verschiedenen Ländern durch Radio oder Telefon miteinander verbunden und die von großen Zuhörerscharen besucht worden waren. Aber auf dem „Theokratischen Kongreß fröhlicher Nationen“ hatte Gottes Volk zum erstenmal einen internationalen Kongreß von solchem Ausmaß, daß in einer Stadt Delegierte aus allen Teilen der Erde zusammengebracht wurden.
Eine gewaltige Aufgabe vor dem Kongreß bestand darin, Unterkünfte für die Delegierten zu finden. Dies wurde durch eine gründliche Suche von Haus zu Haus erreicht. Viele Delegierte wurden jedoch im Wohnwagenlager der Zeugen untergebracht, wo schließlich eine Gemeinschaft von 20 000 Menschen entstand, die dort bequem und billig lebten. Natürlich benötigten die Delegierten auch physische Nahrung, und so gab es auf dem Kongreßgelände eine beachtliche Cafeteria. Dort konnten innerhalb einer Stunde 15 000 bis 20 000 Personen verköstigt werden.
Am wichtigsten war natürlich die geistige Speise, und diese wurde in Fülle dargereicht. Zum Beispiel sprach F. W. Franz über das Thema „Die Ernte, die Vollendung des Zeitalters“ — eine interessante Erklärung des Gleichnisses Jesu Christi vom Weizen und vom Unkraut (von der Spreu) (Matth. 13:24-30, 36-43). Auf dem gleichen Kongreß sprach L. A. Swingle über das Thema „Erwachet!“ Er beschrieb die Welt des zwanzigsten Jahrhunderts als eine künstliche, harte, kontrollierte, elektronische Welt der Atomzertrümmerung und der Düsenflugzeuge, die sich an den Rand der Vernichtung begebe, da sie es versäume, hinsichtlich der wahren Probleme, denen die Menschheit gegenüberstehe, zu erwachen. Bruder Knorr sprach über das Thema „Eine Antwort auf den Weckruf“ und forderte seine Zuhörer auf, wach zu sein, wach zu bleiben und Erwachet! zu lesen. Ja, die neue Zeitschrift Erwachet! sollte die Zeitschrift Trost ersetzen, die früher als Das Goldene Zeitalter bekannt war. Viele Jahre später konnte Henry A. Cantwell sagen: „Die Zeitschrift Erwachet! ist zweifellos ihrem Namen gerecht geworden, indem sie vielen geholfen hat, aus dem Schlaf der Lethargie zu erwachen und sich der wahren Anbetung zuzuwenden.“
Andere werden sich an diesen begeisternden Kongreß erinnern, weil sie damals ein ausgezeichnetes Bibelstudienhilfsmittel erhielten: das Buch „Gott bleibt wahrhaftig“. Von der ersten Ausgabe wurden innerhalb von sechs Jahren über 10 500 000 Exemplare gedruckt. Am 1. April 1952 wurde es revidiert, und bis Anfang 1971 waren insgesamt 19 246 710 Exemplare dieses Buches in 54 Sprachen gedruckt worden. „Gott bleibt wahrhaftig“ stand damals auf der Bestsellerliste der Sachbücher des zwanzigsten Jahrhunderts an vierter Stelle.
Donnerstag, der 8. August, war ein besonders bemerkenswerter Tag dieses Kongresses im Jahre 1946. Bruder Knorr sprach über das Thema „Die Aufgaben des Wiederaufbaus und der Ausdehnung des Werkes“. Edgar Clay aus England schrieb später über dieses Ereignis: „Ich hatte das Vorrecht, an jenem Abend hinter ihm auf der Bühne zu sitzen; während er das Werk umriß und dann von Plänen zur Erweiterung des Brooklyner Bethelheimes und der Fabrik erzählte, brach die gewaltige Zuhörerschaft immer wieder in Applaus aus. Von der Bühne aus konnte man zwar kein Gesicht erkennen, aber es war nicht schwer, ihre Freude zu spüren.“
EIN BLICK AUF DIE WELTSZENE
Theokratischer Wiederaufbau und Ausdehnung waren nötig geworden. Das war offensichtlich. Daher begaben sich der Präsident der Gesellschaft, N. H. Knorr, und sein Sekretär, M. G. Henschel, am 6. Februar 1947, etwa sechs Monate nach dem „Theokratischen Kongreß fröhlicher Nationen“, auf eine Dienstreise, die sie um die ganze Erde führen sollte. Aufgrund persönlicher Beobachtungen während dieser 76 472 Kilometer weiten Reise konnten sie feststellen, welche Schritte unternommen werden mußten, um die weltweite Organisation zu stärken und zu vereinheitlichen.
Diese Reise zeitigte wertvolle Ergebnisse. Unter anderem wurden im Anschluß an die Reise Gileadmissionare in bestimmte Länder Asiens und auf pazifische Inseln geschickt. Auf diese Weise wurden die Königreichsinteressen gefördert. Die Theokratie erlebte einen Aufschwung.
MEHRUNG DER THEOKRATIE
Jehova kann dafür sorgen, daß ‘der Kleine zu einem Tausend wird und der Geringe zu einer mächtigen Nation’ (Jes. 60:22). Er bewirkte dies, als er die ins Exil verbannten Israeliten vor Jahrhunderten von Babylon in ihr Heimatland zurückführte. Auf ähnliche Weise hat Gott geistige Israeliten aus der Knechtschaft Babylons der Großen, des Weltreiches der falschen Religion, befreit. Darüber hinaus hat er sie mit Mehrung gesegnet. Im Jahre 1938 gab es auf der ganzen Erde eine Höchstzahl von 59 047 Königreichsverkündigern. Dann kamen die Kriegsjahre, die Christenverfolgung und danach der organisatorische Wiederaufbau unter Gottes Volk. Mit welchem Ergebnis? Nun, im Jahre 1949 gab es bereits 317 877 christliche Zeugen Jehovas. Die Mehrung der Theokratie war offensichtlich.
Wie passend war es daher, daß sich Gottes Diener zu dem Kongreß „Mehrung der Theokratie“ versammelten! Mit dem Auto, Bus, Zug, Schiff und Flugzeug kamen sie in Scharen nach New York, um vom 30. Juli bis zum 6. August 1950 im berühmten Yankee Stadium den achttägigen internationalen Kongreß zu erleben. Der Zustrom von etwa 10 000 Ausländern alarmierte die US-Einwanderungsbehörde, die gegen diese Besucher diskriminierende Maßnahmen einleitete. Später protestierten die versammelten Kongreßdelegierten energisch gegen solche Vorkommnisse.
Wie beim internationalen Kongreß in Cleveland (Ohio) im Jahre 1946 wurde auch diesmal eine große Cafeteria eingerichtet, um die vielen Tausend zu ernähren. Wie eindrucksvoll dies doch war! In der New York Times wurde ein Inspektor des Gesundheitsamtes zitiert, der gesagt hatte: „Ich bin fasziniert. Ich habe noch nie etwas gesehen, was so reibungslos ablief.“
Viele Delegierte wurden in Privatwohnungen und in Hotels untergebracht. Über 13 000 kampierten jedoch im Wohnwagenlager der Zeugen in New Jersey, 65 Kilometer von New York entfernt. Marie M. Greetham erinnert sich: „Die Brüder aus ganz New York und New Jersey arbeiteten viele Wochen lang, um die Wasser- und die Gasleitungen sowie die elektrischen Leitungen zu verlegen und um die Toiletten und Waschgelegenheiten zu installieren. ... Diese Stadt war durch eine direkte Leitung mit dem Kongreß in New York verbunden, so daß jeder Programmpunkt des New Yorker Kongresses im Wohnwagenlager gehört werden konnte.“
Als der 2. August 1950 anbrach — es war ein Mittwoch —, hatten Jehovas Zeugen im allgemeinen keine Vorstellung von den wunderbaren Segnungen, die an jenem „ ‚Predige-das-Wort‘-Tag“ auf sie warteten. An jenem Nachmittag sprach Bruder Knorr über das Thema „Den Völkern eine reine Sprache zuwenden“ (Zeph. 3:9). Unter anderem erwähnte er, daß die Watch Tower Society im Jahre 1902 in den Besitz einer Übersetzung der Christlichen Griechischen Schriften, bekannt als The Emphatic Diaglott, gekommen sei, die am 21. Dezember 1926 zum erstenmal auf eigenen Pressen gedruckt worden sei. Später habe die Gesellschaft noch weitere Bibeln gedruckt.
Aber bei jener Ansprache kam etwas besonders Begeisterndes ans Tageslicht. Bei jener denkwürdigen Gelegenheit hatte Bruder Knorr das große Vergnügen, die Neue-Welt-Übersetzung der Christlichen Griechischen Schriften in Englisch freizugeben. Eine überraschte und hocherfreute Zuhörerschaft von 82 075 Personen im Stadion und im Wohnwagenlager nahm sie mit größter Begeisterung, anhaltendem Beifall und tiefer Wertschätzung entgegen. Die Kongreßdelegierten nahmen sogleich Zehntausende von Exemplaren entgegen. Welch eine begeisternde Überraschung für alle Versammelten!
DIE „FÜRSTEN“ SIND DA
Jahrelang glaubten Jehovas Diener, daß treue Männer der alten Zeit, wie zum Beispiel Abraham, Joseph und David, noch vor Ende dieses bösen Systems der Dinge auferweckt würden. Diese Diener Gottes der Vergangenheit wurden „die alttestamentlichen Überwinder“, „die treuen Männer der alten Zeit“ und „die Fürsten“ genannt. Der Psalmist hatte verkündet: „An Stelle deiner Vorväter werden deine Söhne sein, die du zu Fürsten einsetzen wirst auf der ganzen Erde“ (Ps. 45:16). Wenn Gottes Diener daher vor Jahren zu einem Kongreß fuhren, waren sie immer in einer gewissen Erwartung. Vielleicht würden bei diesem Kongreß ein oder mehrere solche auferweckten Fürsten oder Männer der alten Zeit erscheinen.
Und nun versetze dich in die Lage der 82 601 Kongreßteilnehmer, die am Samstag, den 5. August 1950 abends aufmerksam F. W. Franz zuhörten. An einem Höhepunkt in seinem fesselnden biblischen Vortrag fragte er: „Würde sich dieser internationale Kongreß freuen zu erfahren, daß sich HEUTE ABEND HIER, in unserer Mitte, eine Anzahl der voraussichtlichen FÜRSTEN DER NEUEN ERDE befinden?“
Welch eine Reaktion auf diese Frage folgte! Hier sind einige lebhafte Erinnerungen: „Ich erinnere mich noch gut, wie wir alle vor Überraschung den Atem anhielten und dann erwartungsvoll um uns zu schauen begannen ... War David hier oder Abraham oder Daniel oder Hiob? Viele von uns Schwestern hatten Tränen in den Augen“ (Grace A. Estep). „Ich war so aufgeregt, daß ich auf der Kante meines Stuhls saß und zum Unterstand [aus dem die Redner zur Bühne kamen] starrte. Ich war fest überzeugt, daß jeden Moment ein oder mehrere Männer der alten Zeit auf die Bühne kämen“ (Schwester Kenyon). „Diejenigen, die in den Gängen standen, eilten zu den Eingängen des Stadions, um das Rednerpult sehen zu können. Vielleicht erwarteten sie, Abraham, David oder sogar Moses zu sehen. Die Menge stand auf — die Atmosphäre war spannungsgeladen. Ich bin fest überzeugt, wenn jemand mit einem langen Bart auf die Bühne gekommen wäre, wäre die Menge nicht mehr zu halten gewesen“ (L. E. Reusch).
Darauf legte sich eine tiefe Stille über die Zuhörerschaft. Jeder bemühte sich angestrengt, sich keines der Worte des Redners entgehen zu lassen. Er sprach über die wirkliche Bedeutung des mit „Fürst“ wiedergegebenen hebräischen Wortes. Er erklärte, daß die „anderen Schafe“ der Neuzeit für ihren Glauben ebensoviel gelitten hätten wie Jehovas Zeugen in der Vergangenheit. Daher spreche nichts dagegen, daß Christus Glieder dieser „anderen Schafe“ zu „Fürsten auf der ganzen Erde“ einsetze (Ps. 45:16; Joh. 10:16). Am Schluß seiner Ansprache sagte Bruder Franz dann: „Mit diesen hinreißenden Aussichten auf das uns so nahe Gerückte laßt uns an der theokratischen Organisation festhalten, und möge Gott sie als eine Neue-Welt-Gesellschaft weiterhin verbessern. Blicken wir nie zurück nach dem modernen Sodom, das zur Vernichtung bestimmt ist, sondern richten wir unser Angesicht in vollem Glauben geradeaus! Vorwärts denn beständig, wir alle zusammen, als eine Neue-Welt-Gesellschaft!“
BEWEISE FÜR DIE MEHRUNG DER THEOKRATIE
Sonntag, der 6. August, war ein begeisternder Tag für die Kongreßbesucher. Das Yankee Stadium war am Nachmittag mit 87 195 Personen gefüllt. Weitere 25 215 Personen befanden sich auf den Bürgersteigen oder in nahe gelegenen Zelten. Weitere 11 297 Zuhörer waren im Wohnwagenlager.
Somit hörten insgesamt 123 707 Personen Bruder Knorrs fesselnden, weithin angekündigten öffentlichen Vortrag „Kannst du ewig in Glück auf Erden leben?“ Dieser logisch aufgebaute, das Herz ansprechende Vortrag bot genügend biblische Beweise dafür, daß es Menschen gibt, die ewig in Glück auf Erden leben können.
DIE NEUE-WELT-GESELLSCHAFT VERSAMMELT SICH
Ein weiterer Meilenstein in der Geschichte der Theokratie wurde im Jahre 1953 erreicht. Die Zeit vom 19. bis 26. Juli wurde von Jehovas Dienern mit Spannung erwartet. Aus 96 Ländern außerhalb der Vereinigten Staaten kamen sie herbei, bis Tausende das New Yorker Yankee Stadium füllten. Dieser achttägige Neue-Welt-Gesellschaft-Kongreß lieferte der Welt einen wunderbaren Beweis für die internationale Einheit, die unter Jehovas christlichen Zeugen herrscht.
Wieder wurden Tausende von Unterkünften in Privatwohnungen für die Kongreßdelegierten beschafft. Andere übernachteten in Hotels, und weitere 45 000 lebten in der „Wohnwagenstadt der Neuen-Welt-Gesellschaft“, die in der Nähe von New Market (New Jersey) lag, 65 Kilometer vom Stadion entfernt. Übrigens erhielt ein Lieferant auf dem Markt der Wohnwagenstadt ein stummes Zeugnis über christliche Ehrlichkeit (Hebr. 13:18). Da viele Zeugen vor der Eröffnungszeit zum Stadion fuhren, um Freiwilligendienst zu leisten, und erst nach Geschäftsschluß wieder zurückkehrten, nahmen sie sich die Waren und ließen das entsprechende Geld in unbewachten Kästchen zurück. R. D. Cantwell erzählt: „Dieser Herr [der Lieferant] beobachtete das mit Erstaunen und stellte schließlich fest: ,Mr. Cantwell, eines kann ich Ihnen sagen: In meiner Kirche könnte man das nicht tun, denn da kann man keinem trauen.‘ “
Der internationale Charakter dieses Kongresses wurde durch neunzig farbenprächtige Banner hervorgehoben, die zwischen dem ersten und dem zweiten Rang des Stadions aufgespannt waren. Die Delegierten wurden mit folgenden Worten begrüßt: „Salaams aus dem Land der Zedern, Libanon“ und „Christliches Aloha aus Hawaii“ usw. An jedem Tag war das Motto auf ein bestimmtes Gebiet abgestimmt. Zum Beispiel gab es den „Nordamerikatag“ und den „Tag der Inseln des Atlantiks“.
In Übereinstimmung mit dem Kongreßmotto hielt Bruder Knorr am 20. Juli die zeitgemäße Ansprache „Jetzt als eine Neue-Welt-Gesellschaft leben“. Über jenen Nachmittag schreibt C. W. Barber: „Als die vielen Tausende so als eine ,Neue-Welt-Gesellschaft‘ versammelt waren, bot sich dieser großen Volksmenge eine glänzende Gelegenheit zu einer Kundgabe ihrer Solidarität und Einigkeit.“ Wie? Durch die Annahme einer Resolution, in der das Bewußtsein der Zeugen Jehovas, eine vereinte Neue-Welt-Gesellschaft zu sein, zum Ausdruck kam. Die Resolution wurde von den 125 040 Menschen, die im Stadion, in den Zelten und in der Wohnwagenstadt anwesend waren, einstimmig angenommen.
EIN WARNRUF ERSCHALLT
An diesen großartigen Kongreß sollte man sich noch lange erinnern, denn besonders ein Programmpunkt war nach den Worten von Webster L. Roe „ein Thriller“. Über diesen Vortrag schreibt Roger Morgan: „Der Vortrag, der mich 1953 auf dem Kongreß im Yankee Stadium am meisten beeindruckte, war derjenige von Bruder Franz über das Thema ,Neue-Welt-Gesellschaft angegriffen vom hohen Norden her‘.“
An jenem Donnerstag, den 23. Juli 1953 erscholl abends tatsächlich ein Warnruf. Der Vizepräsident der Gesellschaft, F. W. Franz, malte ein anschauliches Bild von dem kommenden Angriff Gogs von Magog und seiner Horden auf Jehovas Volk. Gog, die Hauptperson der Prophezeiung, wurde als Satan identifiziert. Und das Land Magog ist, wie Fred Franz zeigte, der Aufenthaltsort der bösen Geistermächte, ein begrenztes geistiges Reich in der Umgebung der Erde, in dem sie sich seit ihrer Vertreibung aus dem Himmel im Jahre 1918 (u. Z.) befinden (Offb. 12:7-9). Der Redner erklärte, daß Gog und seine Heere durch die gegenwärtige Wohlfahrt, Einheit und Sicherheit des Volkes Jehovas zum Angriff gereizt würden. Aber Jehova würde die Neue-Welt-Gesellschaft durch diesen schrecklichen Sturm hindurch bewahren. Wie dankbar waren doch die 112 700 Zuhörer für diese Warnung und für die Ermahnung, weiterhin auf Jehova zu vertrauen und die gute Botschaft von seinem messianischen Königreich zu verkündigen!
DER BEWEGENDE ABSCHLUSS DES KONGRESSES
Am 26. Juli kamen die Delegierten zu einem besonders schönen Sonntagnachmittagsprogramm zusammen. Zu N. H. Knorrs öffentlichem Vortrag „Nach Harmagedon — Gottes neue Welt“ versammelten sich 165 829 Personen im Yankee Stadium, in Zelten und in der Wohnwagenstadt. Im Stadion selbst befanden sich 91 562 Personen. Kurz vor dem öffentlichen Vortrag wurden Tore geöffnet, und Tausende strömten hinein, um auf dem Rasen des Spielfeldes Platz zu nehmen. Weitere Tausende hörten die Ansprache über die Rundfunkstation der Gesellschaft, WBBR.
Diese spannende Stunde ging schnell vorüber, und bald war der öffentliche Vortrag zu Ende. Eine kühle Brise erfrischte die Tausende, die noch zum Schlußprogramm des Kongresses blieben. Bruder Knorr hielt einen einstündigen Vortrag, der sich auf Psalm 145 stützte und die Notwendigkeit hervorhob, Jehova zu lobpreisen, ihn als Gott zu erhöhen, ihn als Souverän des Universums bekannt zu machen und sein Königtum zu verkündigen. Mit den Strophen des Liedes „Singt jubelnden Lobpreis!“ und einem abschließenden Gebet kam der bis dahin größte christliche Kongreß zu einem glücklichen Ende.
INTERNATIONALER KONGRESS „GÖTTLICHER WILLE“
„Wenn das Jahr 1958 erwähnt wird“, schrieb Angelo C. Manera jr., „kommt Jehovas Zeugen auch heute noch ein großes Ereignis in den Sinn: der ,große Kongreß‘, der internationale Kongreß der Zeugen Jehovas ,Göttlicher Wille‘. Welch ein Kongreß!“ Diese beachtenswerte Veranstaltung brachte Delegierte aus mindestens 123 Ländern und Inselgruppen zusammen. In einer Zeit gespannter internationaler Beziehungen und angesichts eines drohenden Krieges im Nahen Osten versammelten sich Jehovas Zeugen in Frieden und Einheit im New Yorker Yankee Stadium und in den nahe gelegenen Polo Grounds vom 27. Juli bis zum 3. August 1958.
In den zwei Wochen vor dem Kongreß kam Bruder Knorr mit über 80 Zweigaufsehern der Gesellschaft und deren Gehilfen zusammen. Sie besprachen die neuen Richtlinien für die Zweigbüros, die er in Form eines Buches zusammengestellt hatte, nachdem er in Brooklyn das größte Zweigbüro, nämlich das für die Vereinigten Staaten, persönlich inspiziert hatte. Während des Kongresses fanden noch weitere ersprießliche Zusammenkünfte mit diesen Männern sowie mit den Missionaren, Sonderpionieren und Kreis- und Bezirksaufsehern statt.
Am Mittwoch, dem 30. Juli, geschah etwas, was Ernest Jansma zu der Bemerkung veranlaßte: „Ich bin sicher, daß ihre Größe noch lange in den Annalen der Geschichte der Theokratie verzeichnet sein wird.“ Tatsächlich hatte sich seit der Taufe zu Pfingsten des Jahres 33 u. Z., als an einem einzigen Tag ungefähr 3 000 neue Nachfolger Jesu Christi in Jerusalem getauft wurden, nichts Derartiges wieder ereignet (Apg. 2:41). Im Anschluß an die Ansprache „Taufe gemäß dem göttlichen Willen“ ließen sich 7 136 Personen (2 937 Männer und 4 199 Frauen) einige Kilometer entfernt, am Orchard-Strand, taufen und symbolisierten damit ihre Hingabe an Jehova Gott. Das war die größte Massentaufe der Neuzeit.
Während dieses großartigen Kongresses wurden das irdische, das geistige und das himmlische Paradies besprochen, und zwar in dem Vortrag, den Bruder Knorr über das Thema „Unser geistiges Paradies bewahren“ hielt. Nach diesem fesselnden Vortrag erzählte der Redner, daß Missionare in Thailand einmal gefragt hätten, ob die Gesellschaft ein Studienbuch herstellen würde, in dem nicht falsche Lehren widerlegt würden, sondern lediglich die wahre biblische Lehre dargelegt würde. Um ihren Bedürfnissen und den Bedürfnissen der Christen überall zu entsprechen, habe die Gesellschaft das neue Buch Vom verlorenen Paradies zum wiedererlangten Paradies hergestellt. Das Paradies-Buch ist in einfacher Sprache geschrieben und reichlich bebildert, und es ist von jung und alt gern gelesen worden. „Eine ganze Generation von Kindern ist aufgewachsen, die im Paradies-Buch herumblätterten“, meint Grace A. Estep, „es zu den Zusammenkünften mitnahmen, mit ihren kleinen Spielkameraden darüber sprachen und die, schon lange bevor sie lesen konnten, allein über die Bilder eine ganze Menge biblische Geschichten zu erzählen wußten.“
Samstag, der 2. August, stand unter dem Motto „Dein Wille geschehe“. Das war auch das Thema des fesselnden Vortrages, den der Präsident der Gesellschaft an jenem Nachmittag hielt, worauf er seine 175 441 Zuhörer mit der Freigabe des neuen Buches „Dein Wille geschehe auf Erden“ begeisterte. Wie sehr sich doch die Delegierten darauf freuten, die Erklärungen des Buches über verschiedene Prophezeiungen, besonders über die des Buches Daniel, zu erforschen!
„WELCH EIN ZEUGNIS FÜR JEHOVA!“
Wie könnte man das beschreiben, was sich am Sonntag, dem 3. August, auf dem internationalen Kongreß „Göttlicher Wille“ abspielte? In einem gedruckten Kongreßbericht hieß es: „Welch ein Zeugnis für Jehova!“ Und das war es bestimmt. „Der Sonntag war ein Tag, den niemand, der den Kongreß besucht hat, je vergessen wird“, sagt Edgar C. Kennedy. „Der Strom von Menschen, der sich zum öffentlichen Vortrag in das Yankee Stadium ergoß, war ein Anblick, der sehenswert war. Von unseren Sitzen aus konnten wir sehen, wie die Menschen ständig in das Stadion strömten, die Tribünen füllten und das Spielfeld überfluteten. Für alle, die das beobachteten, war es eine überwältigende Zurschaustellung der ,großen Volksmenge’, die sich dem gesalbten Überrest angeschlossen hat, um Jehovas Namen zu lobpreisen und seinen ,göttlichen Willen’ zu tun. Wir danken Gott, daß wir unter dieser Menschenmenge sein konnten. Als das Stadion bis zum letzten Platz gefüllt war, geschah das gleiche in den Polo Grounds. Um 15 Uhr herrschte dann eine tiefe Stille unter den über eine viertel Million Anwesenden, als sich der Vorsitzende erhob, um den Redner, N. H. Knorr, den Präsidenten der Watch Tower Bible and Tract Society, einzuführen und das Thema seines Vortrages, ,Gottes Königreich herrscht — ist das Ende der Welt nahe?‘ anzukündigen.“
Diese gewaltige Menschenmenge zählte 253 922 Personen. Nach der großen Zuhörerschaft von Freitag zu urteilen, müssen etwa 60 000 Außenstehende anwesend gewesen sein. Während dieser Stunde hörte die große Menschenmenge überzeugende biblische Beweise dafür, daß Gottes Königreich seit 1914 u. Z. herrscht und daß das Ende der Welt nahe ist.
GOTTES WORT ERHÄLTLICH GEMACHT
Damit Menschen für das Leben geschult und die irdischen Interessen des Königreiches Gottes gefördert werden konnten, war es unbedingt nötig, daß das Buch, dem das Königreichsthema zugrunde liegt, leicht erhältlich gemacht wurde. Das war schon jahrelang Bruder Knorrs Wunsch. Und während er in der Fabrik der Gesellschaft arbeitete, hatte er lange Zeit in seinem Schreibtisch tatsächlich gewisses Material, das zum Drucken einer vollständigen Bibel hätte verwendet werden können. Aber die Umstände erlaubten es nicht, diese Idee auszuführen. Doch nachdem Bruder Knorr Präsident der Gesellschaft geworden war, verlor er keine Zeit, diesen Gedanken in die Tat umzusetzen. Wichtig war auch die Herstellung preiswerter Bibeln, damit die breite Öffentlichkeit das Wort Gottes erwerben und lesen konnte.
Als N. H. Knorr im Jahre 1942 auf dem „Theokratischen Neue-Welt-Kongreß“ der Zeugen Jehovas in Cleveland (Ohio) über das Thema „ ,Das Schwert des Geistes‘ präsentieren“ sprach, bezeichnete er die Bibel als die größte Angriffswaffe, als das „Schwert des Geistes“ (Eph. 6:17). Er brachte die Empfindungen zum Ausdruck, die Jehovas Diener im allgemeinen hatten, und sagte sinngemäß: „Wenn wir nur den Text finden könnten, den wir suchen, dann könnten wir unsere Gegner in Schach halten, wir könnten die Trauernden trösten, wir könnten anderen das, was uns so klar ist, mit einer Fülle von Beweisen klarmachen. Wenn wir doch nur eine Bibel mit einem Anhang hätten, in dem wir schnell finden könnten, was wir suchen!“
Auf diesem Kongreß wurde der Wunsch Wirklichkeit — die neue Watch-Tower-Ausgabe der King James Version wurde herausgegeben, die erste vollständige Bibel, die auf den Pressen der Gesellschaft gedruckt worden war. Über 150 Diener Jehovas hatten Monate darauf verwandt, eine Konkordanz als Teil dieser Veröffentlichung zusammenzustellen, die besonders für den Gebrauch des Volkes Gottes im Predigtwerk bestimmt war. Wie sich James W. Filson ausdrückt, erfüllte diese Bibel „ein wirkliches Bedürfnis“. „Wir benötigten sie für uns selbst; wir benötigten sie auch, um sie den Menschen in unserem Gebiet zu geben. ... Es war großartig, eine gute, preiswerte Bibel zu haben, die man ihnen für nur 1 $ anbieten konnte. In vielen Familien, die nicht in der Wahrheit sind, ist dies bis heute die einzige Bibel, die sie in der Wohnung haben.“
Bruder Knorr hatte noch einen anderen wichtigen Gedanken im Sinn — die Bewahrung des Namens Jehovas in allen Sprachen. Es gab eine Bibelübersetzung, die den Namen Gottes in den Hebräischen Schriften verwandte. Das war die American Standard Version. Die Gesellschaft erwarb das Recht auf die Benutzung der Druckplatten, um diese Bibel drucken zu können, und diese Watch-Tower-Ausgabe wurde den begeisterten Teilnehmern der „Theokratischen Versammlung der Vereinten Verkündiger“ im Jahre 1944 zur Verfügung gestellt und mit großer Dankbarkeit aufgenommen. „Wir benutzten diese Bibel gründlich bei unseren Rückbesuchen und Bibelstudien“, erklärt Edgar C. Kennedy.
EINE NEUE BIBELÜBERSETZUNG
Besonders vom Jahre 1946 an hatte der Präsident der Gesellschaft eine Übersetzung der Christlichen Griechischen Schriften gesucht, die die Wahrheit noch besser erschließt, indem sie den Sinn der Originalschriften getreu wiedergibt. Als Bruder Knorr während des internationalen Kongresses „Mehrung der Theokratie“ am 2. August 1950 zu 82 075 Zuhörern sprach, berichtete er, daß im Bethel Brooklyn am 3. September 1949 eine gemeinsame Sitzung der Vorstände der pennsylvanischen und der New Yorker Gesellschaft stattgefunden hatte, bei der nur ein Vorstandsmitglied gefehlt und bei der er das Vorhandensein eines „Neue-Welt-Bibelübersetzungskomitees“ bekanntgegeben hatte. Das Komitee hatte eine Übersetzung der Christlichen Griechischen Schriften fertiggestellt und der Watch Tower Bible and Tract Society of Pennsylvania zu ihrer freien Verfügung übereignet. Am 29. September 1949 hatte die Fabrik begonnen, den ersten Teil des Manuskripts zu setzen.
An jenem Nachmittag, dem 2. August 1950, freute sich Bruder Knorr, den begeisterten Kongreßteilnehmern die Neue-Welt-Übersetzung der Christlichen Griechischen Schriften in Englisch freizugeben. Es handelte sich nicht um die Revision einer schon vorhandenen Übersetzung. Sie war völlig neu übersetzt. Das Neue-Welt-Übersetzungskomitee hatte den bekannten griechischen Grundtext der Gelehrten Westcott und Hort benutzt, doch auch andere griechische Texte der Bibel zu Rate gezogen. Veraltete Ausdrücke wie „thee“ und „thou“ in der Anrede Gottes erschienen nicht mehr. Die Bibel war in zeitgemäßem, leichtverständlichem Englisch geschrieben.
Besonders beachtenswert war die Verwendung des göttlichen Namens „Jehova“, der im Haupttext der Neuen-Welt-Übersetzung der Christlichen Griechischen Schriften 237mal erschien. Im Vorwort gab das Übersetzungskomitee die stichhaltigen Gründe für den Gebrauch des Namens deutlich an. Die Neue-Welt-Übersetzung hatte viele gute Merkmale.
Im Laufe der Zeit übte die Neue-Welt-Übersetzung einen weitreichenden Einfluß auf den Sprachgebrauch des Volkes Gottes im allgemeinen aus. Zum Beispiel sagte sie anstelle von „brethren“ „brothers“, und so gebrauchten Gottes Diener diesen zeitgemäßen Ausdruck (im Deutschen ließ man den Ausdruck „Geschwister“ fallen) (Röm. 1:13). Von Anfang 1953 an verwendete man auch das in der Neuen-Welt-Übersetzung erscheinende Wort „Versammlung“ anstatt „Gruppe“, um eine Gemeinde des Volkes Gottes zu bezeichnen. (Vergleiche Apostelgeschichte 20:17; Kolosser 4:15, Neue-Welt-Übersetzung.)
Im Laufe der Jahre wurden fünf Bände der Neuen-Welt-Übersetzung der Hebräischen Schriften fertiggestellt und auf Kongressen des Volkes Gottes freigegeben. Auf den Bezirkskongressen „Vereinte Anbeter“ im Jahre 1961 waren Jehovas christliche Zeugen hoch erfreut, die vollständige einbändige Neue-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift zu erhalten. Inzwischen gab es weltweit bereits 965 169 Königreichsverkündiger. Jehova hatte ihre Anstrengungen gewiß gesegnet und durch seinen Geist für das Wachstum gesorgt (1. Kor. 3:6, 7).
DIE HERSTELLUNG VON BIBELN BEGINNT
Jehovas Diener waren auch weiterhin beständig bemüht, das Wort Gottes in die Hände der Menschen zu legen. Sie haben daher die verschiedensten Bibelausgaben veröffentlicht. Auf dem Kongreß der Zeugen Jehovas „Ewige gute Botschaft“ im Jahre 1963 wurde beispielsweise eine Taschenausgabe der 1961 erschienenen revidierten englischen Neuen-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift herausgegeben. Außerdem erschien, ebenfalls in Englisch, die wertvolle Erstausgabe in Großdruck in einem Band mit Parallelstellen, Fußnoten und einem umfangreichen Anhang. Doch man stelle sich die Freude der italienischen, niederländischen, französischen, deutschen, portugiesischen und spanischen Delegierten vor, die die Freigabe der Neuen-Welt-Übersetzung der Christlichen Griechischen Schriften in ihrer Sprache erlebten! Ein italienisch sprechender Delegierter rief aus: „Bravo! Bravissimo!“ Ein deutscher Delegierter sagte: „Welch eine Gelegenheit für Jehovas Zeugen, das Interesse an der Bibel wiederzuentfachen, das die Deutschen einmal hatten!“ Später kam auch die vollständige Neue-Welt-Übersetzung in den erwähnten Sprachen heraus.
Auf den Bezirkskongressen „Göttlicher Name“ im Jahre 1971 wurde u. a. die 1971 revidierte Großdruckausgabe der Neuen-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift in Englisch freigegeben. Für diejenigen, die an einem tiefer gehenden Studium der Bibel interessiert sind, wurde 1969 die 1 184seitige Kingdom Interlinear Translation of the Greek Scriptures veröffentlicht.
Der beständige Wunsch, den Namen Jehovas unter den Menschen bekanntzumachen, war auch der Beweggrund für eine weitere Bibelveröffentlichung. Im Jahre 1972 druckte die Watch Tower Society The Bible in Living English des verstorbenen Steven T. Byington. Sie gibt das hebräische Tetragrammaton durchgehend mit „Jehovah“ wieder.
Von der Neuen-Welt-Übersetzung sind seit 1950 Millionen von Exemplaren auf der ganzen Erde verbreitet worden, davon viele in englischer Sprache. Darum wurde auch die umfassende Konkordanz zur Neuen-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift sehr geschätzt, die 1973 in Englisch freigegeben wurde und unter mehr als 14 700 Stichwörtern etwa 333 200 Anführungen enthält. Viele Glieder der Bethelfamilie in Brooklyn hatten fleißig beim Zusammenstellen, Korrekturlesen usw. mitgeholfen. Mit diesem Werk spart man beim Auffinden von Bibelstellen viel Zeit.
Die ganze Neue-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift ist jetzt in 7 Sprachen erhältlich. Darüber hinaus wird an den Christlichen Griechischen Schriften in 5 weiteren Sprachen gearbeitet. Dabei handelt es sich keineswegs um teure Bibelausgaben, denn die Normalausgabe der englischen Neuen-Welt-Übersetzung der ganzen Bibel kostet immer noch 1 $ je Exemplar, und in fremden Währungen kostet diese ausgezeichnete Übersetzung der Bibel in anderen Sprachen etwa dasselbe. Warum wird der Preis so niedrig gehalten? Dies geschieht, damit die Heilige Schrift allen zugänglich ist, so daß Ehrlichgesinnte sie lesen und „nicht als Menschenwort ..., sondern als das, was es wahrhaftig ist, als das Wort Gottes“, annehmen können (1. Thess. 2:13).
Es sind nun mehr als drei Jahrzehnte verflossen, seitdem das erste Exemplar der Wachtturm-Ausgabe der King-James-Bibel von den Druckpressen der Gesellschaft kam. In all diesen Jahren haben sich viele Gott hingegebene Mitarbeiter angestrengt, damit immer mehr Exemplare des Wortes Gottes verbreitet werden konnten. In der Druckerei der Gesellschaft in Brooklyn wurden von 1942 bis zum Ende des Dienstjahres 1974 28 533 890 Bibeln oder Bibelteile hergestellt. Während des Jahres 1974 waren 15 Rotationsdruckpressen der Watchtower Society in Brooklyn vollauf allein damit beschäftigt, Bibeln zu drucken.
Neben der Herstellung dieser enormen Anzahl von Bibeln wurden auch Millionen von Bibelstudienhilfsmitteln veröffentlicht, darunter das Buch „Die ganze Schrift ist von Gott inspiriert und nützlich“ sowie das Nachschlagewerk Aid to Bible Understanding. Sie alle haben dazu beigetragen, aus Tausenden von Personen aller Lebensbereiche tüchtige Erforscher der Bibel und fähige Verkündiger der guten Botschaft zu machen. Da einige die Glaubwürdigkeit der Bibel anzweifelten, bemühte man sich besonders, nachzuweisen, daß sie wirklich göttlichen Ursprungs ist. Eine bemerkenswerte Veröffentlichung auf diesem Gebiet ist das 192seitige Buch Ist die Bibel wirklich das Wort Gottes?, von dem mehr als 18 768 000 Exemplare in 27 Sprachen gedruckt wurden. Dieses Buch, das die Gesellschaft 1969 herausgab, zeigt meisterhaft, daß die Wahrhaftigkeit der Bibel nicht von dem abhängt, was die Archäologen zutage fördern. Die Bibel ist nicht auf die Unterstützung von weltlichen „Kapazitäten“ angewiesen. Die Beweisführung des Buches gründet sich auf die kraftvolle Aussage der Bibel, auf ihr eigenes machtvolles Zeugnis, ihre Vernünftigkeit und auf die Tatsache, daß sie Fragen beantwortet, die sonst unbeantwortet blieben. „Dieses Buch kam zu einer Zeit heraus, als die Geistlichen sich immer offener gegen die Bibel aussprachen“, sagt Webster L. Roe, „und trug so dazu bei, den schwindenden Glauben vieler Menschen so weit zu stärken, daß sie ernsthaft die Bibel zu studieren begannen.“
‘OB WIR LEBEN ODER STERBEN, WIR GEHÖREN JEHOVA’
Jehovas Zeugen hausieren nicht mit dem Wort Gottes (2. Kor. 2:17). Sie treten aufrichtig dafür ein und glauben auch selbst daran. Deshalb halten sie an Gottes Gesetz über das Blut unerschütterlich fest. Weltweit sind sie dafür bekannt geworden, daß sie der Verordnung Gottes gegenüber treu bleiben, kein Blut zu essen oder in den Körper aufzunehmen, um die Lebenskraft zu erhalten (Apg. 15:28, 29). Selbst wenn anscheinend das Leben in Gefahr stand, haben Christen wiederholt dem Sinne nach gesagt: ‘Ob wir leben oder sterben, wir gehören Jehova’ (Röm. 14:7, 8).
Der Wacht-Turm vom 15. Januar 1928 hob die Heiligkeit des Blutes hervor. In dem Artikel „Ein Grund für Gottes Rache“ hieß es u. a.: „Gott sagte Noah, daß jedes lebende Wesen Speise für ihn sein sollte, daß er jedoch nicht das Blut essen dürfe, weil das Leben in dem Blute ist.“ Einige Jahre später stellte Der Wachtturm (englisch: 1. Dezember 1944; deutsch [Ausgabe Bern]: 15. Dezember 1946) fest: „Nicht allein als Nachkommen Noahs, sondern auch als einem, der durch Gottes dem Volke Israel gegebenes Gesetz gebunden ist, ... war dem Fremdling verboten, Blut zu sich zu nehmen, sei es durch Blutübertragung oder durch den Genuß von Speisen (1. Mose 9:4; 3. Mose 17:10-14).“ In den Jahren darauf wurde das Verständnis noch klarer.
Im Wachtturm (englisch) vom 1. Juli 1945 wurde die Haltung des Christen gegenüber dem Blut klargestellt. Unter anderem wurde darauf hingewiesen, daß es zwar schon zur Zeit der Ägypter Bluttransfusionen gab, der erste geschichtliche Fall jedoch aus dem Jahre 1492 berichtet wird, als man sich vergeblich bemühte, das Leben des Papstes Innozenz VIII. zu retten, was drei jungen Männern das Leben kostete. Was noch wichtiger war, diese Ausgabe des Wachtturms zeigte, daß das Gesetz Gottes über das Blut, das er Noah gab, für alle Menschen gültig ist und daß Christen sich des Blutes enthalten müssen (Apg. 15:28, 29). Zusammenfassend hieß es im Wachtturm:
„Wir sehen also, daß der allerhöchste und heilige Gott im Zusammenhang mit seinem ewigen Bund mit Noah und allen seinen Nachkommen unmißverständliche Anweisungen über die Verwendung des Blutes gab; wir erkennen weiter, daß der einzige Verwendungszweck, den er für das Blut zur Vermittlung von Leben für die Menschheit vorsah, dessen Verwendung zur Sühnung von Sünden war; und wir sehen, daß dies auf seinem heiligen Altar oder Gnadenstuhl getan werden sollte und nicht durch die direkte Aufnahme des Blutes in den menschlichen Körper; daher gehört es sich für alle Anbeter Jehovas, die ewiges Leben in seiner neuen Welt der Gerechtigkeit erlangen möchten, die Heiligkeit des Blutes zu achten und sich den gerechten Anforderungen Gottes in dieser lebenswichtigen Angelegenheit anzupassen.“
Damit war der Standpunkt des Christen gegenüber Bluttransfusionen klargestellt. Samuel Muscariello sah sich einer Prüfung seiner Lauterkeit in dieser Frage gegenüber. Blosco Muscariello erzählt uns: „Kurz nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis [wo er wegen seiner christlichen Neutralität eingesperrt war] zog sich mein jüngerer Bruder Samuel eine Halsentzündung zu, die Harnvergiftung zur Folge hat. Die Ärzte verordneten eine Operation, bei der natürlich Blut transfundiert werden sollte, und sagten, er würde höchstens noch 2 Jahre leben, falls man ihn nicht operiere und ihm kein Blut geben würde. Sam ließ sie einfach stehen und ging weg. Das war im Jahr 1947. ... Außer dem, was im Wachtturm stand, klangen uns die Worte Bruder Sullivans [der sie im Gefängnis besucht hatte] in den Ohren ...: ,Es ist nicht richtig, Blut zu sich zu nehmen.‘ Genau zwei Jahre darauf brachte man Sam wieder ins Krankenhaus. Er lag im Sterben. Unter Druck gesetzt, ging ich zu ihm ans Bett und sagte: ,Sam, sie wollen dir Blut geben.‘ Von den Drogen benommen, versuchte er aus dem Bett zu steigen [damit man ihm kein Blut übertragen würde, was dann auch nicht geschah]. ... als Familie waren wir zwar betrübt [über seinen Tod], doch wir waren gestärkt, weil Sam selbst bis zum Tode klares Denken gezeigt und seine Lauterkeit gegenüber Jehova bewahrt hatte.“
Anfang der 1950er Jahre begann sich eine Kontroverse zu entwickeln, weil Jehovas Zeugen sich kein Blut übertragen ließen. Am 18. April 1951 ging die Behörde in Chicago vor Gericht, um ein Kind seinen Eltern zu entziehen, damit die Ärzte ihm eine Bluttransfusion geben könnten. Es hieß, die sechs Tage alte Cheryl Labrenz leide an einer seltenen Blutkrankheit, die die Zerstörung der roten Blutkörperchen bewirke. Die Ärzte waren der Meinung, daß nur eine Blutübertragung ihr Leben retten könnte. Als christliche Zeugen Jehovas betrachteten ihre Eltern, Darrell und Rhoda Labrenz, Bluttransfusionen als eine Verletzung des Gesetzes Gottes, womit sie auch recht hatten, und verweigerten ihre Zustimmung. Sie waren um das ewige Wohl ihres Kindes besorgt, denn Aussicht auf ewiges Leben hat nur, wer Gottes Gesetz befolgt. Durch einen Gerichtsbeschluß übertrug man Cheryl aber trotz der Einwände ihrer Eltern Blut.
Doch der Fall Labrenz war nur der Anfang. Da Jehovas Zeugen das Gesetz Gottes über das Blut achten, stehen sie seit nunmehr über zwei Jahrzehnten im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Marie M. Greetham kann sich noch gut entsinnen, was mit ihrem Bruder Dan Morgan geschah. Er hatte Krebs im Endstadium und war schon dreimal aus einem Krankenhaus in New York entlassen worden, weil er sich standhaft gegen Bluttransfusionen wehrte. Als man ihn das vierte Mal einwies, weigerte er sich immer noch. Schwester Greetham berichtet: „Das war im August 1951, und im Oktober 1951 starb Dan mit 54 Jahren. Er war so friedlich und glücklich. Ganze vier Tage vor seinem Tode sagte er einer anderen Schwester, daß er sehr bald seine Augen schließen werde und doch glücklich sei, da er treu gewesen sei und eine große Belohnung erhalten werde, da er zur ,kleinen Herde‘ der Nachfolger Jesu gehörte“ (Luk. 12:32; Offb. 2:10).
Muß jemand aber unbedingt sterben, wenn er eine Bluttransfusion verweigert? Ganz sicher nicht! Das wird deutlich an Gladys Bolton. Ihr Arzt sagte ihr, daß die Hauptarterie zu ihrer Milz krankhaft erweitert sei und daß die Milz entfernt werden müsse. Sie stimmte einer Operation unter der Bedingung zu, daß man ihr kein Blut übertragen würde. Obwohl der Arzt überrascht war, hörte er sich ihre Erklärungen an und stellte fest, daß sie gegen „Blutersatzmittel“ nichts einzuwenden hatte. Er erklärte sich bereit, ohne Blut zu operieren. Dies geschah am 21. Mai 1959. Bevor jedoch die Milz entfernt werden konnte, riß die Arterie, und Schwester Bolton verlor über 70 Prozent ihres Blutes. Obwohl die Ärzte und Krankenschwestern im Operationsraum auf Blutübertragung drängten, hielt ihr Arzt sein Versprechen. Zwei Wochen lang war sie bewußtlos, und drei Wochen mußte sie in einem Sauerstoffzelt bleiben. Sie hatte eine Komplikation nach der anderen, doch ihr Arzt kümmerte sich sehr um sie, und so besserte sich ihr Zustand allmählich. Sie schreibt: „Einmal, als niemand im Zimmer war, sagte er: ,Frau Bolton, geben Sie Ihren Gott Jehova niemals auf! Nach allem, was der Medizin bekannt ist, müßten Sie jetzt eigentlich tot sein. Noch nie hat jemand so viel Blut verloren und ist doch am Leben geblieben!‘ Ich erwiderte: ‚Doktor Davis, ich habe nicht vor, Jehova untreu zu werden, doch Jehovas Zeugen lehren nicht, daß Gott heute Menschen heilt. Wir sind sehr dankbar für gute Ärzte und Krankenschwestern, und Sie alle haben hart daran gearbeitet, mich am Leben zu erhalten. Aber da wir Jehovas Gebot über das Blut befolgt haben, sind wir alle gesegnet worden.‘ Er schien über meine Antwort erfreut zu sein und dankte mir.“ Am 1. Juli 1959 wurde Schwester Bolton aus dem Krankenhaus entlassen.
Im Laufe der Jahre hat Jehova durch seine unverdiente Güte reichlich für die gesorgt, die sein Gesetz über das Blut befolgen möchten. Zu diesem beständigen Fluß geistigen Beistandes gehört vor allem die 64seitige Broschüre Blut, Medizin und das Gesetz Gottes, die 1961 herauskam. Hast du anhand dieser Broschüre dieses wichtige Thema mit deinem Arzt schon besprochen?
DIE WAHRE ANBETUNG WIRD VORANGETRIEBEN
Jehovas Diener wissen, daß sie sich der Gunst Gottes nur erfreuen können, wenn ihre Anbetung rein und unbefleckt ist (Jak. 1:27). Sie müssen sittlich und geistig rein sein (Jes. 52:11; 1. Kor. 6:9-11). Es war daher angebracht, daß solche Themen in Ansprachen auf Kongressen, in Wachtturm-Artikeln usw. hervorgehoben wurden, insbesondere in jüngster Zeit, da die Welt im allgemeinen immer tiefer in den Morast der sittlichen Entartung sinkt.
Im Jahre 1951 lernten Unterstützer der wahren Anbetung etwas Wichtiges über den Ausdruck „Religion“ kennen. Manche von ihnen konnten sich noch gut an das Jahr 1938 entsinnen, als sie zu besonderen Anlässen ein auffälliges Plakat mit der Aufschrift „Religion ist eine Schlinge und ein Gimpelfang“ bei ihren Märschen mitgeführt hatten. Gemäß dem damaligen Standpunkt galt „Religion“ schlechthin als unchristlich und vom Teufel stammend. Im Wachtturm vom 1. Juli 1951 dagegen wurde der Gebrauch der Worte „wahr“ und „falsch“ im Zusammenhang mit Religion gutgeheißen. Darüber hinaus sagte das packende Buch Was hat die Religion der Menschheit gebracht? (das im Jahre 1951 [deutsch: 1953] veröffentlicht und während des Kongresses „Reine Anbetung“ im Wembley-Stadion in London freigegeben wurde) folgendes: „Nach der einfachsten Erklärung bedeutet das Wort ,Religion‘, so, wie es gebraucht wird, ein System der Verehrung, eine Form der Anbetung, sei es die wahre oder falsche Anbetung. Dies stimmt mit dem Sinn des dafür gebrauchten hebräischen Wortes ’abohdáh überein, das buchstäblich ,Dienst‘ bedeutet, ungeachtet, wem er dargebracht wird.“ Von da an waren die Ausdrücke „falsche Religion“ und „wahre Religion“ unter Jehovas Zeugen üblich.
Das Volk Gottes war entschlossen, die wahre Religion auszuüben und für den Dienst Jehovas sittlich und geistig rein zu bleiben. Dies wurde besonders im Wachtturm vom 1. Mai 1952 hervorgehoben, der die äußerst bedeutenden Artikel „Die Organisation rein erhalten“, „Die Richtigkeit eines Gemeinschaftsentzuges“ und „Sünde, welche die Wiederaufnahme verunmöglicht“ enthielt. Die Zeitschrift zeigte, daß es angebracht sei, einen getauften Übeltäter, der nicht bereut, aus der Christenversammlung auszustoßen (1. Kor. 5:1-13). Falls er seine Sünde später bereute, so wurde gezeigt, daß er wiederaufgenommen werden konnte (2. Kor. 2:6-11).
Dies war nicht das erste Mal, daß Der Wachtturm davon sprach, Sünder, die nicht bereuten, aus der Versammlung auszustoßen. Doch vom Jahr 1952 an wurde die Notwendigkeit, die Christenversammlung geistig rein zu erhalten, besonders hervorgehoben. Im Laufe der Jahre verstand man auch immer besser, daß man denen, die bereuen, Barmherzigkeit erweisen muß (Jak. 2:13). Aufseher konnten daher Irrende geistig wieder zurechtbringen, bevor ein Gemeinschaftsentzug notwendig war (Gal. 6:1).
Christen verbinden sich mit Personen, denen die Gemeinschaft entzogen wurde, nicht in einem Geist der Bruderschaft, noch dulden sie jemand in ihren Reihen, der Böses verübt. Was wird aber getan, wenn jemand, dem die Gemeinschaft entzogen wurde, seine verkehrte Handlungsweise nicht mehr fortsetzt? Dies ist genau die Frage, die in den Artikeln „Gottes Barmherzigkeit weist Sündern den Weg zurück“ und „Ausgeschlossenen gegenüber einen ausgeglichenen Standpunkt einnehmen“ im Wachtturm vom 1. November 1974 behandelt wird. Diese Artikel zeigen, daß man solchen Ausgeschlossenen eine wirkliche Ermunterung geben kann, damit sie wieder auf den Weg des Lebens zurückgelangen.
Eine Reihe von Kongreßvorträgen spielte bei der Reinerhaltung der Organisation eine beträchtliche Rolle. L. E. Reusch erwähnt zum Beispiel besonders die Ansprache „Die Organisation öffentlicher Diener rein erhalten“, die F. W. Franz im Jahr 1964 hielt. Bruder Reusch sagt: „Er verglich ein junges Mädchen, das großzügige Moralbegriffe hat, mit einem schmutzigen Handtuch in einer öffentlichen Bedürfnisanstalt. Offen und freimütig wurde hier in klarer Sprache über Sittlichkeit gesprochen. ... Dies war äußerst zeitgemäßer Rat, der uns auf den lawinenartigen Verfall der Sittlichkeit vorbereitete.“
Durch die Jahre hindurch hat es weiterhin gesunden, schriftgemäßen Rat in unverminderter Fülle gegeben. Geistig gesprochen, wurde dem Volk Gottes durch die Veröffentlichungen der rechte Weg, auf dem es wandeln sollte, gezeigt.
AUSDEHNUNG DES KÖNIGREICHSZEUGNISSES
In den 1950er Jahren wurden entschiedene Anstrengungen unternommen, das Werk der Verkündigung der Königreichsbotschaft auszudehnen. Im Jahr 1951 unternahm man einen sehr bedeutenden Schritt in dieser Richtung. Im Oktober 1951 gab Bruder Knorr auf einem Kongreß in Washington (D. C.) bekannt, daß fast 50 Prozent der Landkreise in den Vereinigten Staaten (1 469 von 3 062) entweder überhaupt nicht oder nur teilweise bearbeitet wurden. Doch das sollte sich ändern. In den Monaten Juni, Juli und August 1952 würden diese Gebiete Verkündigern und Pionieren zugeteilt werden. Dies wurde mit Begeisterung aufgenommen. Auch heute noch wird diese Tätigkeit in abgelegenen Gebieten durchgeführt.
Die Bezirkskongresse „Lebengebende Weisheit“ im Jahr 1957 waren durch einen weiteren beachtenswerten Schritt zur Förderung des Königreichszeugnisses gekennzeichnet. Marie Gibbard schreibt: „Damals hörten wir zum erstenmal den Ausdruck ,Dort dienen, wo Hilfe not tut‘. Familien konnten jetzt praktisch wie Missionare dienen. Diese neue Dienstvorkehrung war eine gute Gelegenheit für Alleinstehende und für Familien, die die Gileadschule nicht besuchen und nicht offiziell als Missionare dienen konnten.“
Viele Christen, die in Gebiete der Vereinigten Staaten oder ins Ausland gezogen sind, wo der Bedarf an Königreichsverkündigern größer war als in ihrer Heimatversammlung, konnten Mitgläubige ermuntern und erbauen, Neuen helfen, zu einer Erkenntnis der Wahrheit Gottes zu kommen, oder sogar einen Anteil an der Gründung einer Versammlung haben.
ZU BESSEREN PREDIGERN DER GUTEN BOTSCHAFT GESCHULT
„Jeder einzelne sollte in der Lage sein, die gute Botschaft von Haus zu Haus zu predigen“, erklärte Bruder Knorr und sagte, daß dies eines der Hauptziele eines Christen sei. Das war am 22. Juli 1953 auf dem internationalen Neue-Welt-Gesellschaft-Kongreß. In der Vergangenheit hatten Jehovas Zeugen Schallplattenaufnahmen und Zeugniskarten beim Predigen der guten Botschaft verwendet, doch damit hatte man jetzt aufgehört. Trotzdem war noch viel Schulung nötig. Bruder Knorr kündigte in seiner Ansprache über das Thema „Hauptarbeit aller Diener“ ein neues Haus-zu-Haus-Schulungsprogramm an. Die Kreis- und Bezirksdiener (-aufseher) hätten daran einen großen Anteil, doch würden alle ernannten Diener in den Versammlungen Hilfe leisten, so daß jeder Königreichsverkündiger mit der Zeit regelmäßig die gute Botschaft von Tür zu Tür predigen könnte. Der Kreisdiener sollte während seiner Besuche in den Versammlungen Verkündiger, die Erfahrung in der Arbeit von Haus zu Haus hätten, auswählen, damit sie mit Neuen und Unerfahrenen im Schulungsprogramm zusammenarbeiteten. Dies war eine tiefgreifende Vorkehrung, durch die viele christliche Zeugen zu Predigern geschult wurden. Das Programm begann am 1. September 1953 und war bald in vollem Gange.
„Das Schulungsprogramm ... war etwas ganz Ausgezeichnetes“, sagt James W. Filson. „Manche, die schüchtern waren, bekamen die Gelegenheit, sich zu verbessern. Einige, die meinten, sie würden nur einen Zweig des Dienstes beherrschen — zum Beispiel den Zeitschriftendienst —, erhielten jetzt Hilfe, auch an anderen Zweigen [des Dienstes Gottes] einen Anteil zu haben. Viele verbesserten sich in ihrem eigenen Dienst, während sie bemüht waren, anderen zu helfen.“
DAS „SCHWERT DES GEISTES“ MIT FREIMUT GEBRAUCHEN
Ein Christ muß in der Lage sein, „das Schwert des Geistes, das ist Gottes Wort“, zu gebrauchen (Eph. 6:17). Das Schulungsprogramm half dabei sehr. Im Laufe der Zeit veröffentlichte die Watchtower Society im monatlichen Dienstanweisungsblatt Informator und in seinem Nachfolger, im Königreichsdienst, verschiedene Vorschläge für 3-bis-8-Minuten-Predigten für die Tätigkeit von Haus zu Haus und 10-bis-15-Minuten-Predigten für den Gebrauch bei Rückbesuchen. Manche Zeugen fanden es später einfacher oder günstiger, kurze Predigten zu verwenden, die sich auf eine Schriftstelle stützen, beispielsweise auf Jesaja 2:4 oder Johannes 17:3.
Nach Ansicht Walter R. Wissmans war es „ein Meilenstein in unserem theokratischen Fortschritt“, daß jetzt in der Predigttätigkeit von Haus zu Haus und bei Rückbesuchen biblische Predigten gehalten wurden. Die Öffentlichkeit brachte Gottes Volk immer öfter mit der Bibel in Verbindung. R. D. Cantwell sagt dazu: „Es dauerte nicht lange, und man hörte an der Tür kaum noch den alten Vorwurf, Jehovas Zeugen seien ,Bücherverkäufer‘.“
Myrtle Strain äußert sich begeistert: „Wir haben uns in unserem Haus-zu-Haus-Dienst wirklich sehr verbessert! Wir brauchen den Leuten jetzt keine Karte mehr zum Lesen in die Hand zu drücken oder ihnen eine Schallplatte vorzuspielen oder uns hinzusetzen und ihnen das ganze Vorhaben Gottes in einer Stunde zu erklären. Jetzt wissen alle von uns, wie man an der Tür eine kurze Predigt hält, die gut vorbereitet ist, ein bestimmtes Thema hat und von zwei oder drei treffenden Schriftstellen untermauert wird. Uns stehen viele kurze Predigten zur Verfügung, die sich alle auf wichtige, zeitgemäße Schrifttexte stützen. Außerdem sind wir immer sehr bemüht, den Wohnungsinhaber ins Gespräch zu ziehen.“ So wird den Menschen ein Zeugnis gegeben, ob sie die Botschaft nun annehmen oder nicht.
EIN FALSCHES LICHT WIRD BLOSSGESTELLT
Während Jehovas Zeugen im Gebrauch der Heiligen Schrift an den Türen der Menschen immer wirkungsvoller wurden, verloren sie nichts von dem Feuereifer, der für ihre Tätigkeit in den früheren Jahren so kennzeichnend war. Daher verbreiteten sie Anfang des Jahres 1955 furchtlos eine Botschaft, die ein falsches Licht bloßstellte.
Am Sonntag, dem 3. April 1955, wurde eine kühne Gerichtsbotschaft gegen die Christenheit verkündet, die sich in Wahrheit gegen das ganze System der falschen Religion richtete. Auf der ganzen Erde wurde ein öffentlicher Vortrag zur gleichen Zeit in vielen Sprachen gehalten. Er hatte das Thema „Christenheit oder Christentum — was ist ,das Licht der Welt‘?“ und wurde vor über einer halben Million Menschen gehalten.
Jehovas Diener waren darauf bedacht, die Menschen wissen zu lassen, daß die Christenheit ein falsches Licht ist. Im Laufe der Zeit druckte die Watch Tower Society wegen der großen Nachfrage diese Botschaft auch in Form einer Broschüre und veröffentlichte 22 Millionen Exemplare in 30 Sprachen. Tausende neuer Verkündiger nahmen im April 1955 das erste Mal am Predigtdienst teil, weil auch sie einen Anteil an der Verbreitung dieser Botschaft haben wollten. In jenem Monat erreichte man eine noch nie dagewesene Höchstzahl von 625 256 Königreichsverkündigern auf der ganzen Erde. Ende Juli des Jahres 1955 verschickten Jehovas Zeugen diese eindrucksvolle Broschüre zusammen mit einem Brief an Geistliche und Zeitungsherausgeber.
„DAS WORT“ — VON WEM SPRICHT JOHANNES?
Die Bloßstellung der Christenheit als falsches Licht war sicher nicht nach dem Geschmack vieler Geistlicher, doch sollte dies bei weitem nicht die letzte Botschaft sein, die sie von Jehovas Zeugen erhalten würden. Viele Geistliche leugneten die göttliche Inspiration der Heiligen Schrift. Andere behaupteten, die Bibel zu vertreten, verbreiteten dabei aber Gott entehrende Lehren. Zu diesen falschen Lehren gehörte auch die von der Dreieinigkeit. Zu diesem Thema erhielten die Geistlichen, ob sie dies nun gern mochten oder nicht, Ende 1962 eine Botschaft von Jehovas christlichen Zeugen.
Es handelte sich um eine 64seitige Broschüre mit dem Titel „Das Wort“ — von wem spricht Johannes? Darin wurde die Lehre von der Dreieinigkeit als unhaltbar bloßgestellt. Für den November des Jahres 1962 war eine besondere Tätigkeit zur Verbreitung dieser Broschüre geplant. Sie wurde nicht nur von den Königreichsverkündigern im Haus-zu-Haus-Dienst angeboten, sondern jeder protestantische und katholische Geistliche erhielt ein Exemplar, zusammen mit einem Begleitschreiben, das die Gesellschaft vorbereitet hatte. Auf diese Weise wurde ein großartiges Zeugnis gegeben, indem darauf hingewiesen wurde, daß das „Wort“ in Johannes 1:1 nicht Gott ist, sondern der Sohn Gottes, Jesus Christus, in seiner vormenschlichen Existenz.
„KONGRESSE AUF REISEN“
Die regelmäßigen Kongresse des Volkes Gottes haben beträchtlich dazu beigetragen, den christlichen Freimut im Predigtwerk zu fördern. Einige dieser Kongresse waren in besonderer Hinsicht ungewöhnlich. Es waren „Kongresse auf Reisen“, wobei einige der Delegierten von einem Ort zum anderen um die ganze Welt reisten. Diese Kongresse übten einen großen Einfluß auf die Einheit aus. Christen mögen zwar über die Erfahrungen und die Tätigkeit ihrer Mitgläubigen in anderen Ländern lesen, sie hingegen kennenzulernen und mit ihnen zusammen zu sein, selbst wenn Sprachenschranken vorhanden sind, lohnt sich wirklich. Obwohl Gottes Diener sich nicht in derselben Sprache unterhalten können, so sprechen sie doch — ganz gleich, welcher nationalen oder rassischen Herkunft — nur eine einzige Sprache, die „reine Sprache“ der Wahrheit, die Gott in seiner unverdienten Güte all denen auf Erden gegeben hat, die ihn lieben (Zeph. 3:9).
Unter den „Kongressen auf Reisen“ ist besonders im Jahr 1955 der Kongreß der Zeugen Jehovas „Triumphierendes Königreich“ hervorzuheben. In nur 10 Wochen fanden in den Vereinigten Staaten und im Ausland 13 Kongresse statt, und viele Delegierte reisten zu mehreren Kongressen. Eine Zeitung schrieb, daß dies „wahrscheinlich der größte Massendurchzug von Amerikanern durch Europa seit der Invasion der Alliierten während des Zweiten Weltkrieges“ gewesen sei.
Die Watch Tower Society charterte 42 Flugzeuge und 2 Überseedampfer, Arosa Kulm und Arosa Star. Diese Schiffe wurden zu schwimmenden Kongreßsälen, in denen zur Erbauung aller Passagiere an Bord jeden Tag besondere Programme durchgeführt wurden.
Eine der Versammlungsstätten in Europa war die Zeppelinwiese in Nürnberg, wo 107 423 Personen zusammenkamen. „Wir in Amerika waren voller Freude“, sagt C. James Woodworth, „zu erfahren, daß Jehovas Zeugen dort, wo Hitler geschrien hatte, sie ‚auszurotten‘, jetzt den größten ihrer Kongresse ,Triumphierendes Königreich‘ abhielten! Und Hitler?“
EIN KONGRESS RUND UM DIE WELT
Ein Ereignis von besonderer Bedeutung für Jehovas Volk begann am 30. Juni 1963 in Milwaukee (Wisconsin) und endete am 8. September 1963 in Pasadena (Kalifornien). Es war der Kongreß der Zeugen Jehovas „Ewige gute Botschaft“, ein Kongreß, der rund um die Welt in mehr als 24 Städten abgehalten wurde. Insgesamt 583 Delegierte nahmen an der Reise rund um den Erdball teil. Die Weltreisenden folgten teilweise unterschiedlichen Reiserouten und versammelten sich mit Tausenden ihrer Mitgläubigen in vielen Städten, so zum Beispiel in London, Stockholm, München, Jerusalem, Neu-Delhi, Rangun, Bangkok, Singapur, Melbourne, Hongkong, Manila, Seoul und Honolulu.
Viele Delegierte des Kongresses in London besuchten das Britische Museum. Dort sahen sie unter anderem die Chronik des Nabonid, die dazu beiträgt, daß man den Sturz Babylons auf das Jahr 539 v. u. Z. festlegen kann. Von Interesse war auch eine Leber aus Ton, wie man sie in der Religion Babylons zum Wahrsagen verwendete. (Vergleiche Hesekiel 21:21.)
Die Kongreßteilnehmer, die die biblischen Länder bereisten, besuchten viele bedeutende Orte der Bibel. Die berühmten Zedern des Libanon, die Ebene Moabs oder das Tal Hinnom zu sehen trug sehr zu einem besseren Verständnis des Wortes Gottes bei.
Im Fernen Osten konnten die Delegierten die Auswirkungen der Religion Babylons sehen. Nahe am Wat Po in Bangkok (Thailand) sahen die Delegierten ein Phallussymbol, vor dem unfruchtbare Frauen Gebete darbrachten in der Hoffnung, Kinder zu bekommen. Im buddhistischen Wat Saket, das sich in derselben Stadt befindet, konnten sie Wandbilder besichtigen, in denen sowohl das Nirwana als auch eine Hölle der Qual abgebildet waren. Die Delegierten sahen die Ähnlichkeiten zu Dantes Inferno so deutlich, daß man den gemeinsamen Ursprung dieser beiden religiösen Vorstellungen nicht mehr bezweifeln konnte.
Nach der Besichtigung dieser Merkmale falscher Religion verstanden die Delegierten den Kongreßvortrag „Die Vollstreckung des göttlichen Urteils an der falschen Religion“ besser. In diesem Vortrag wurden die Zuhörer in das alte Babel (Babylon) versetzt. Als Gott in jener Stadt die Sprache der Turmbauer verwirrte, zogen sie in andere Länder und nahmen dabei ihre unreine Religion mit. Sie übten sie in den verschiedenen Sprachen aus, und so entstand ein Weltreich der falschen Religion. Da es seinen Ursprung in Babylon hat, nennt die Bibel es in Offenbarung „Babylon die Große“ (Offb. 18:2). In Verbindung mit diesem Vortrag erhielten die Kongreßdelegierten das neue 704seitige englische Buch „Babylon die Große ist gefallen!“ Gottes Königreich herrscht! Es waren eigentlich zwei Bände in einem, wobei der erste Teil das Verhältnis des alten Babylon zum Volke Gottes behandelt; Teil 2 schließt eine Vers-für-Vers-Betrachtung von Offenbarung, Kapitel 14 bis 22 ein.
FILME UND DIAS TRAGEN ZUM JÜNGERMACHEN BEI
In den Monaten nach dem Kongreß stellte die Gesellschaft einen Film her, der zum Nachdenken anregte. „Gewaltig!“ „Begeisternd!“ „Aufschlußreich!“ „Gewagt!“ Das waren die Äußerungen vieler Zuschauer über den zweistündigen Farbfilm „Eine ,ewige gute Botschaft‘ geht rund um die Welt“. Der Film behandelt die weltumspannenden Kongresse „Ewige gute Botschaft“ des Jahres 1963, bei denen eine Gesamtzahl von 580 509 Anwesenden beim Hauptvortrag „Wenn Gott König ist über die ganze Erde“ gezählt wurde. Der Film ist aber mehr als nur ein Reisebericht. Er zeigt deutlich, daß eine Stadt, die jetzt in Trümmern liegt, noch heute das Leben von Millionen von Menschen beeinflußt. Aus jener Stadt, dem alten Babylon, stammen Symbole und Zeremonien, die in das Leben beinahe aller Menschen auf Erden eingedrungen sind. Es wird hervorgehoben, wie wichtig es jetzt ist, Babylon die Große zu verlassen. Die herzliche Liebe wahrer Christen wird deutlich, die auf allen ihren Kongressen rund um die Welt zum Ausdruck gebracht wurde. Die Zuschauer können erkennen, daß es eine Organisation gibt, mit der man sich verbinden sollte, nachdem man Babylon die Große verlassen hat. Gerechtigkeitsliebende Menschen werden ermutigt, das Weltreich der falschen Religion zu verlassen und sich mit Anbetern Jehovas zu verbinden (Offb. 18:4, 5).
Im Jahre 1963 waren es schon 10 Jahre, daß die Watch Tower Society begonnen hatte, Filme als Anschauungsmaterial beim Jüngermachen einzusetzen. Nach dem internationalen Kongreß 1953 hatte die Gesellschaft den fesselnden Film „Die Neue-Welt-Gesellschaft in Tätigkeit“ freigegeben. Dies war der erste Film, den die Gesellschaft fast 40 Jahre nach dem Photo-Drama fertiggestellt hatte. Der Film dauerte 80 Minuten und erwies sich als ein wirksames Mittel, die Zuschauer mit dem Umfang der irdischen Organisation Gottes vertraut zu machen sowie mit der enormen Arbeit, die die Bethelfamilie leistet, der Tätigkeit der Zeugen Jehovas im allgemeinen, ihren großen Kongressen, dem reibungslosen Ablauf und der Leistungsfähigkeit der Neuen-Welt-Gesellschaft. H. A. Cantwell stellt fest: „Er war eine wunderbare Hilfe, Neuinteressierten zu zeigen, wie groß und umfassend die Organisation ist.“
Weitere Filme, die die Gesellschaft nach den großen Kongressen 1955 und 1958 freigab, waren „Die glückliche Neue-Welt-Gesellschaft“ und „Internationaler Kongreß der Zeugen Jehovas ,Göttlicher Wille‘ “. Jehovas Diener setzten den Film auch gegen die „Gott-ist-tot“-Philosophie ein. Im Jahr 1966 stellte die Watch Tower Society den packenden Farbfilm „Gott kann nicht lügen“ her. Dieser glaubensstärkende Film erbrachte den Beweis, daß Gott lebt und sein Vorhaben mit der Erde und den Menschen darauf ausführt. Farbaufnahmen und eindrucksvolle bunte Zeichnungen halfen den Zuschauern, sich die wichtigsten der in der Bibel berichteten Geschehnisse vorzustellen und deren Bedeutung für uns heute zu begreifen. Ein Zuschauer erklärte: „Mir gefiel der Film besonders deshalb, weil er mit Hilfe historischer Tatsachen, durch die biblische Prophezeiungen erfüllt wurden, beweist, daß ,Gott nicht lügen kann‘. Die verschiedenen Ruinen zum Beispiel, die gezeigt wurden, bezeugen jedermann, daß Gott nicht gelogen hat. Seit ich dies gesehen habe, bin ich jetzt noch überzeugter davon, daß das, was Gott über unsere Zeit und die Zukunft voraussagen ließ, auch keine Lüge ist.“
Der Film „Heritage“, den die Watch Tower Society ebenfalls 1966 herstellte, behandelte verschiedene Versuchungen, denen sich junge Leute heute gegenübersehen. Angelo C. Manera jun. weist jedoch darauf hin, daß der Film zeigte, „was die Jugendlichen in der Neuen-Welt-Gesellschaft tun und wie sie mit diesen Versuchungen fertig werden und einem christlichen Lebenswandel folgen“. Im Gegensatz zu den anderen Filmen der Gesellschaft hatte dieser Film eine Tonspur und wurde von vielen Fernsehanstalten gesendet. So sahen ihn Tausende daheim in ihrer Wohnung. „Heritage“ wurde auch auf Kreiskongressen und bei anderen Zusammenkünften für die Öffentlichkeit vorgeführt.
In den letzten Jahren haben die Kreisaufseher während ihrer Besuche den Versammlungen des Volkes Gottes in der Zusammenkunft für die Öffentlichkeit Lichtbilder vorgeführt. Der erste Vortrag dieser Art wurde im September 1970 gehalten. Er trug das Thema „Ein Besuch in der Weltzentrale der Zeugen Jehovas“ und war dazu gedacht, die Menschen mit der Organisation Gottes auf eine Weise vertraut zu machen, die sie zum rechten Handeln anspornen würde. Ein anderer Diavortrag, „Eine nähere Betrachtung der Kirchen“, half den Zuhörern erkennen, daß die Kirchen der Christenheit nichts für Menschen sind, die Wahrheit und Gerechtigkeit lieben. In diesen Menschen wurde nicht nur der Wunsch geweckt, sich vom Weltreich der falschen Religion abzusondern, sondern sie wurden auch dazu angeregt, anderen bei der Flucht aus Babylon der Großen behilflich zu sein. Dies sind nur einige der Diavorträge, die die Kreisaufseher vorführten, um damit biblische Belehrung zu vermitteln.
EINE BEGEISTERNDE NEUERUNG!
„Höre auf Daniels Worte für unsere Tage“. Erinnerst du dich an diesen Programmpunkt der Bezirkskongresse „Gottes Söhne der Freiheit“ im Jahre 1966? Während die Delegierten dem Vortrag zuhörten, geschah plötzlich etwas Überraschendes. Aus dem Lautsprecher kamen verschiedene Stimmen, die Daniel, die drei treuen Hebräer und sogar Engel darstellten. Es ertönte Musik, und die drei Hebräer erhielten eine letzte Gelegenheit, vor dem Bild von Gold niederzufallen, das Nebukadnezar in der Ebene Dura aufgerichtet hatte. Sie blieben jedoch standhaft in ihrer Lauterkeit und weigerten sich niederzufallen, und Jehova befreite sie (Dan., Kap. 3).
Dies war eine neuartige und ganz andere Art, biblische Belehrung zu vermitteln. Die Zuhörer hatten das Gefühl, sie seien in das alte Babylon versetzt worden. Ähnlich begeistert waren sie von der Darbietung mit dem Thema „Betrachtet das in unseren Tagen benötigte Ausharren Jeremias“. Die Zuschauer konnten das Ausharren Jeremias tatsächlich „betrachten“. Vor ihren Augen lief ein Bibeldrama ab, in dem kostümierte Schauspieler das Leben und die Verhältnisse zur Zeit des hebräischen Propheten im alten Jerusalem darstellten. Die Wirkung wurde noch durch den Einsatz von Schalleffekten erhöht. Die schwere Glaubensprüfung und die Treue Jeremias, der allein inmitten einer schreienden Volksmenge stand, die forderte, ihn umzubringen — all dies kam den Zuhörern viel deutlicher zu Bewußtsein. Auf besondere Weise wurde hier hervorgehoben, welch ein Vertrauen Anbeter Jehovas zu ihrem Gott haben müssen. Sie sahen sehr deutlich, daß man selbst angesichts des Todes im Dienst Gottes ausharren muß.
Mit dem Jahr 1966 begann daher etwas Neuartiges: eine neue Lehrmethode für die Kongresse des Volkes Gottes. In den Jahren, die seit 1966 vergangen sind, gehörten Bibeldramen regelmäßig zum Programm der großen Kongresse von Jehovas Zeugen. Oft wurden sie vorher bei Graduierungen der Wachtturm-Bibelschule Gilead aufgeführt, wobei die Studenten die Rollen der Charaktere aus alter und neuer Zeit übernahmen.
James W. Filson sagt über die Segnungen und guten Auswirkungen dieser Bühnenstücke folgendes: „Ich glaube, die Dramen sind ein ausgezeichnetes Mittel gewesen, uns den Rat und die Lehren der Bibel einzuprägen.“ Mancher fühlte sich sogar durch Kongreßdramen gedrängt, verkehrte Handlungen zu bekennen und geistigen Beistand zu suchen (Spr. 28:13; Jak. 5:13-20).
BEFÜRWORTER DES KÖNIGREICHES GOTTES — KEINER ANDEREN REGIERUNG
Jehovas christliche Zeugen unterstützen das Königreich Gottes. Dies haben sie im Laufe der Zeit wiederholt gezeigt. Gehen wir zum Beispiel ein Vierteljahrhundert zurück zum Dienstag, dem 1. August 1950, dem „Tag der theokratischen Hingabe“ auf dem Kongreß der Zeugen Jehovas „Mehrung der Theokratie“. An diesem Tag wies Bruder Knorr in seinem Vortrag „Die Mehrung Seiner Herrschaft“ auf zahlreiche Beweise hin, die zeigten, daß die Anschuldigung religiöser Gegner, Jehovas Zeugen unterstützten den Kommunismus, nicht stimmte. Verschiedene Behörden der Regierung der USA hatten sich geweigert, die Zeugen zu den umstürzlerischen Organisationen und Mitläufern des Kommunismus zu zählen. Darüber hinaus bewiesen die Veröffentlichungen der Watch Tower Society seit 1879 eindeutig, daß Jehovas Diener gegen den Kommunismus sind. Bruder Knorr zeigte deutlich, daß nicht wahres Christentum, sondern die heuchlerische Christenheit dem Entstehen und Anwachsen des Kommunismus den Weg bereitet. Nach dieser Ansprache legte der Präsident der Gesellschaft eine Resolution gegen den Kommunismus vor, die von den 84 950 Zuhörern begeistert angenommen wurde.
Ein paar Jahre später nahmen 462 936 Delegierte von 199 Kongressen der Zeugen Jehovas, die zwischen Juni 1956 und Februar 1957 abgehalten worden waren, einstimmig eine Petition an. Jeder Kongreß sandte eine Petition an Nikolai A. Bulganin, den damaligen Ministerpräsidenten der UdSSR. In der Petition wurde beschrieben, wie Jehovas Zeugen in Rußland und Sibirien behandelt wurden. Man ersuchte darum, die Zeugen aus dem Gefängnis freizulassen und ihnen zu gestatten, sich zu organisieren. Ferner wurde darum ersucht, daß ihnen gestattet würde, normale Beziehungen mit ihrer leitenden Körperschaft anzuknüpfen sowie biblische Literatur zu veröffentlichen und einzuführen. Die Petition verwies darauf, daß Jehovas Zeugen das Königreich predigten und dabei weder politische Interessen verfolgten noch politische Bindungen unterhielten. Darüber hinaus wurde in der Petition ein Gespräch zwischen Vertretern der Watch Tower Bible and Tract Society und der russischen Regierung vorgeschlagen. Es wurde angeregt, daß man einer Delegation der Zeugen gestatte, zu diesem Zweck nach Moskau zu reisen sowie die verschiedenen Lager zu besuchen, in denen Jehovas Zeugen interniert waren.
Am 1. März 1957 sandten die sieben Vorstandsmitglieder der Watch Tower Society eine Petition an die russische Regierung, die sie gemeinsam unterzeichnet hatten. Die Kommunisten antworteten nicht, noch bestätigten sie den Empfang der Resolution. Dennoch haben Jehovas Zeugen in Rußland als Vertreter des Königreiches Gottes und keiner anderen Regierung weiterhin mutig das Wort Gottes verkündigt.
Jehovas Zeugen sind nicht nur unerschütterlich für Gottes Königreich eingetreten, sondern sie haben auch gezeigt, was die Geistlichkeit der Christenheit in dieser Hinsicht zu tun versäumt hat. Am Freitag, dem 1. August 1958, nahm Gottes Volk auf dem internationalen Kongreß „Göttlicher Wille“ eine bedeutsame Resolution an. Die Kongreßteilnehmer waren dringend darum gebeten worden, zum Nachmittagsprogramm anwesend zu sein, und so hatten sich 194 418 Personen versammelt. Sie hörten aufmerksam zu, als F. W. Franz, der Vizepräsident der Watch Tower Society, über das Thema „Warum dieser Kongreß eine Resolution fassen sollte“ sprach. Nach ihm sprach Bruder Knorr, der in eindringlichen Worten eine Resolution vorlegte, die die Geistlichkeit der Christenheit als die verwerflichste Gruppe von Menschen bloßstellte, die heute auf Erden lebt. Ferner wurden die theokratischen Grundsätze, an die sich Jehovas Volk hält, erneut bekräftigt; Gottes Königreich unter Christus wurde freimütig als einziges Mittel zur Rettung verkündet. Jehovas Zeugen seien fest entschlossen, dieses Königreich unablässig in Liebe, Frieden und Eintracht zu verkündigen, bis Jehova das Zeugniswerk in Harmagedon zum Abschluß bringe. Bruder Knorr beantragte, diese Resolution unverändert anzunehmen. Nachdem jemand anders seinen Antrag befürwortet hatte, fragte er die große Zuhörerschaft, ob sie der Resolution zustimme, worauf alle einstimmig mit Ja antworteten.
Später wurden 72 348 403 Traktate mit dieser Resolution in 53 Sprachen gedruckt und weltweit verbreitet, hauptsächlich im Dezember 1958. Die Resolution und ihr Begleitvortrag erfuhren ebenfalls eine weite Verbreitung durch den Wachtturm vom 1. Dezember 1958.
Hatte die Verbreitung Erfolg? Man kann dies bejahen, wenn man zum Beispiel liest, was Peter D’Mura schreibt: „Im Frühjahr 1959 lernte ich einen jungen Mann kennen, den die Resolution dazu veranlaßt hat, die Wahrheit kennenzulernen, sich Gott hinzugeben und später den Pionierdienst aufzunehmen.“ C. James Woodworth fügt hinzu: „Einige, die jetzt in unseren Versammlungen in Cleveland (Ohio) tatkräftige Zeugen Jehovas sind, begannen ihren Auszug aus Babylon, nachdem sie diese Resolution gelesen und das Angebot des Bibelstudiums angenommen hatten“ (Offb. 18:4).
Während ihres Kongresses „Ewige gute Botschaft“, der im Jahre 1963 rund um die Welt abgehalten wurde, hatten Jehovas Diener eine ausgezeichnete Gelegenheit zu zeigen, daß sie einzig und allein Gottes Königreich befürworteten. Sie nahmen begeistert eine Resolution an, durch die sie bekanntmachten, daß sie Jehova als den ewigen Souverän des Universums anerkennen und sich weigern, dem politischen Bild, den Vereinten Nationen, götzendienerische Anbetung darzubringen, so, wie dies die Nationen getan haben, die von unsichtbaren bösen Geistern nach Harmagedon geführt werden (Offb. 13:11-18; 16:14, 16). Jehovas Zeugen seien vielmehr entschlossen, mit der Hilfe der Engel unter der Leitung Christi und des heiligen Geistes Gottes und seines Wortes die „ewige gute Botschaft“ von Gottes messianischem Königreich und seinen Gerichtsurteilen allen Völkern zu verkündigen (Offb. 14:6). Nachdem 454 977 Personen auf den Kongressen „Ewige gute Botschaft“ rund um die Erde diese Resolution angenommen hatten, stimmten ihr auch Delegierte auf Kongressen in anderen Ländern zu. Darüber hinaus wurde sie im Wachtturm vom 15. Januar 1964 in 66 Sprachen veröffentlicht und weltweit verbreitet.
Zusammen mit der einleitenden Ansprache „Warum wir alle eine Resolution fassen sollten“ enthielt diese weitreichende Resolution alle sieben Plagen aus Offenbarung, Kapitel 16. Sie schloß daher die Gerichtsbotschaften ein, die dem Volke Gottes zuerst in sieben aufeinanderfolgenden Resolutionen auf Kongressen in den Jahren 1922 bis 1928 vorgelegt worden waren. Dadurch konnten Hunderttausende, die den damaligen Resolutionen nicht zustimmen konnten, vor aller Öffentlichkeit bekunden, daß sie das Ausgießen der Plagen Jehovas, die in Offenbarung, Kapitel 16 prophetisch beschrieben sind, unterstützten. Auch hier zeigten Jehovas Diener wieder unmißverständlich, daß sie außer für das Königreich Gottes für keine andere Regierung oder politische Einrichtung eintreten.
Auf den Kongressen „Friede auf Erden“ im Jahr 1969 wurde in dem Vortrag „Die letzten Wehe für die Feinde des Friedens mit Gott“ das Blasen der sieben symbolischen Trompeten, die in Offenbarung, Kapitel 8 bis 11 erwähnt werden, behandelt. Diesem Vortrag folgte eine kraftvolle Erklärung, die einprägsam zeigte, daß Friede mit dem Schöpfer nur durch sein messianisches Königreich kommen könne. Durch die Annahme der Erklärung bekräftigte Jehovas Volk, daß Gott die Christenheit gerichtet hat. Es gab seine vollständige Neutralität hinsichtlich aller politischen Streitigkeiten bekannt und ließ keinen Zweifel darüber bestehen, daß es vollständig auf Gottes Königreich vertraute und bis zum Ende nicht aufhören würde, dieses Königreich allen Nationen zu predigen.
Auf den internationalen Kongressen „Göttlicher Sieg“, die zwischen Juni 1973 und Januar 1974 in verschiedenen Städten überall auf der Erde stattfanden, zeigten Jehovas christliche Zeugen wiederum, daß sie für Gottes Königreich und keine andere Regierung eintreten. Einer der Kongreßvorträge, „Den Reichtum des neuen Königs der Erde vermehren“, drehte sich um das fesselnde Gleichnis Jesu von den Minen (Luk. 19:11-27). Nach seiner Ansprache legte der Redner eine Erklärung und Resolution vor, die darauf von den Kongreßteilnehmern mit lautem Ja angenommen wurde. Die Resolution wies unter anderem darauf hin, daß die Zeiten der Heiden mit der Zerstörung des irdischen Jerusalem im Jahre 607 v. u. Z. begannen, 2 520 Jahre dauerten und am „himmlischen Jerusalem“, in dem Jesus Christus 1914 als messianischer König eingesetzt wurde, ihre vollständige Erfüllung erlebten (Hebr. 12:22). Sie wies darauf hin, daß die Menschheit auch weiterhin vor der bevorstehenden „großen Drangsal“ gewarnt werden muß (Matth. 24:21). Jehovas christliche Zeugen sind fest entschlossen, auch in Zukunft an den göttlichen Sieg zu glauben, die Warnung bekanntzumachen und Gottes messianisches Königreich, das Allheilmittel für die bedrängte Menschheit, zu verkündigen.
Es besteht daher kein Zweifel daran, daß Jehovas Diener für Gottes Königreich eintreten und für keine andere Regierung. Die gute Botschaft von diesem Königreich predigen sie weltweit. Sie haben ihre Ergebenheit gegenüber Gottes messianischem Königreich wiederholt bewiesen und tun dies auch weiterhin überall auf Erden.
GEISTIGE SPEISE ZUR RECHTEN ZEIT
Wie konnten Jehovas christliche Zeugen ihre feste Haltung als Verfechter des Königreiches Gottes aufrechterhalten? Wie haben sie es fertiggebracht, „fest im Glauben“ zu bleiben, während andere ihren Glauben verloren? (1. Kor. 16:13). Dies war möglich, weil Jehova Gott barmherzigerweise durch die Gruppe des „treuen und verständigen Sklaven“ für geistige Speise zur rechten Zeit sorgte (Matth. 24:45-47).
Nehmen wir die 1960er Jahre als Beispiel. Auf sozialem und religiösem Gebiet gab es damals überall in den Vereinigten Staaten stürmische Veränderungen. Man hörte immer häufiger, daß Geistliche der Christenheit Teile der Bibel als Mythen ansahen und den biblischen Sittenmaßstab für veraltet hielten. Manche sagten sogar: „Gott ist tot.“
Es waren soziale, psychologische, politische und wirtschaftliche Gründe, die in den 1960er Jahren in den Vereinigten Staaten Rassenkrawalle und Gewalttat hervorriefen. Im sogenannten „langen, heißen Sommer“ des Jahres 1964 wurden zum Beispiel drei Bürgerrechtskämpfer in Mississippi ermordet; darüber hinaus waren Unruhen überall im Süden des Landes. Auch die Städte im Norden wurden davon betroffen. Manche wurden von Zusammenstößen erschüttert. Allein bei Kämpfen, Plünderungen und Brandstiftungen durch Pöbelrotten bei den Unruhen in Los Angeles vom 11. bis 16. August 1965 kamen 35 Personen ums Leben; der Sachschaden wurde auf 200 Millionen Dollar geschätzt.
Inmitten dieser religiösen und sozialen Unruhen vertrauten Jehovas Zeugen in den Vereinigten Staaten und in anderen Ländern weiterhin auf Jehova und hielten sich an sein Wort. Er wiederum sorgte dafür, daß sie in der rechten Weise geleitet wurden. Während der Bezirkskongresse „Mutige Diener Gottes“ im Jahr 1962 zogen sie beispielsweise großen Nutzen aus den Ansprachen über die Themen „Ordnet euch unter — Wem?“, „Unterordnung unter die obrigkeitlichen Gewalten — Warum?“ und ähnliche. Dieser wichtige Aufschluß wurde später wieder im Wachtturm veröffentlicht. (Siehe die Ausgaben vom 1. Januar bis zum 1. Februar 1963.)
Darin wurde gezeigt, daß die „obrigkeitlichen Gewalten“ aus Römer, Kapitel 13 weltliche Regierungsgewalten sind, denen Jehova noch gestattet, eine Stellung der Verantwortung zu bekleiden. Alle Diener Gottes von heute wurden aufgefordert, sich den obrigkeitlichen Regierungsgewalten bedingt unterzuordnen und die Gesetze irdischer Regierungen, die dem Gesetz Gottes nicht widersprechen, nicht geringschätzig zu behandeln (Röm. 13:1-7; Apg. 5:29).
„Wie weise uns doch Jehova in unserem Verhältnis zu den politischen Herrschern der Welt geleitet hat“, hebt L. E. Reusch hervor. Er fährt fort: „Wie hätten wir auch wissen sollen, daß 1964 die Bürgerrechtsfrage zu einem solch großen Problem werden und zu Straßenunruhen und offener Gewalttat sowie passivem bürgerlichen Ungehorsam führen würde? ... Wir hätten vielleicht genauso gedacht wie die Geistlichen, die sich an Protestmärschen beteiligten und für die sozialen Tagesprobleme Stellung bezogen. Wir bekamen die ,Speise zur rechten Zeit‘ [Matth. 24:45] genau dann, als wir sie brauchten, nämlich auf den Kongressen im Sommer 1962. ... Es wurde deutlich herausgestellt, daß wir uns bedingt unterordnen sollten, was uns geholfen hat, unsere Stellung vor Jehova und den politischen Gewalten zu bewahren, die er so lange bestehen läßt, bis die Königreichsherrschaft Jesu Christi sie beseitigen wird.“
Jehova Gott hat wirklich für eine Fülle geistiger Speise gesorgt. Man betrachte nur einmal ein Bücherbord, auf dem die Bücher stehen, die die Watch Tower Society in den letzten Jahren veröffentlicht hat. Darunter finden wir das 1958 veröffentlichte Buch „Dein Wille geschehe auf Erden“, in dem das Buch Daniel behandelt wird. Das gesamte Bibelbuch Offenbarung wird in den Büchern „Dann ist das Geheimnis Gottes vollendet“ und „Babylon die Große ist gefallen!“ Gottes Königreich herrscht! Vers für Vers besprochen. Das Buch ‘Die Nationen sollen erkennen, daß ich Jehova bin’ — Wie?, 1971 veröffentlicht, bespricht die Prophezeiung Hesekiels, und die Erfüllung der Wiederherstellungsprophezeiungen von Haggai und Sacharja aus der Sicht des zwanzigsten Jahrhunderts wird in dem Buch Das Paradies für die Menschheit durch die Theokratie wiederhergestellt behandelt.
Für alt und jung gleichermaßen wurde geistig gut gesorgt. Schon im Jahr 1958 wurde das Buch Vom verlorenen Paradies zum wiedererlangten Paradies herausgegeben, das in einfacher Sprache geschrieben und mit vielen Bildern versehen ist. Im Jahr 1971 trug das 192seitige Buch Auf den Großen Lehrer hören dazu bei, das Aufkommen eines Generationskonflikts zu verhindern. Dieses Buch ist dazu gedacht, daß Eltern es gemeinsam mit ihren Kindern lesen. Die verständliche Sprache und die schönen Bilder geben den Kindern das Gefühl, daß dieses Buch für sie geschrieben worden ist.
DAS JÜNGERMACHEN WIRD BETONT
Einige der christlichen Veröffentlichungen des Volkes Jehovas sind besonders als Hilfe dafür gedacht, den Auftrag zu erfüllen, die gute Botschaft zu predigen und Jünger zu machen (Matth. 24:14; 28:19, 20). Eines dieser Bücher war „Gott bleibt wahrhaftig“, das ursprünglich 1946 (deutsch: 1948) veröffentlicht wurde. Es behandelte grundlegende Lehren der Bibel. Das 1950 (deutsch: 1952) erschienene Buch „Dies bedeutet ewiges Leben“ vermittelte Belehrung über fortgeschrittene biblische Themen und über den christlichen Lebenswandel. Auch das 416seitige Buch „Dinge, in denen es unmöglich ist, daß Gott lügt“, das 1965 herauskam, hat sich in den Händen der Königreichsverkündiger als nützliches grundlegendes Bibelstudienhilfsmittel erwiesen.
Jehovas Diener werden ständig mit dem versorgt, was sie in ihrem Werk des Predigens und Jüngermachens benötigen. C. W. Barber erinnert sich an die Bezirkskongresse 1967 und erwähnt etwas, was er als „Neuerung“ bezeichnet. Er sagt: „Jehovas Organisation sorgt immer wieder von neuem für Begeisterung und Freude. Diesmal handelte es sich um eine neue Art Feldzugsliteratur, ein kleines gebundenes Buch mit dem Titel Hat sich der Mensch entwickelt, oder ist er erschaffen worden? ..., es sollte für 25 Cent angeboten werden. Von Anfang an war klar, daß es denkende Menschen sehr gut ansprechen würde.“
Die Königreichsverkündiger haben von diesem Buch Millionen von Exemplaren im Predigtdienst verbreitet. Im Mai 1968 bemühte man sich besonders, es in die Hände von Lehrern und Erziehern zu legen, wobei ausgezeichnete Ergebnisse erzielt wurden. Marie Gibbard sagt: „In White Plains (New York) ist ein Lehrer heute ein getaufter Zeuge, weil ein zwölfjähriger Schüler bei ihm ein Buch abgab und man dem Interesse nachging.“
ETWAS, WAS DAS WERK DER KOMMENDEN JAHRE BEEINFLUSSEN WIRD
Das Jahr 1968 brachte eine weitere bemerkenswerte Neuerung. In der Ankündigung der Bezirkskongresse „Eine gute Botschaft für alle Nationen“ hieß es im Wachtturm: „Für den Freitag ist etwas vorgesehen, was dich nicht nur begeistern, sondern auch überraschen wird, denn es wird das Werk, das wir in den kommenden Jahren durchführen werden, wesentlich beeinflussen.“
Jehovas Diener waren neugierig. Worum konnte es sich dabei handeln? Sie erhielten die Antwort im Anschluß an den eindringlichen Schlüsselvortrag „Die ,gute Botschaft‘ von einer Welt ohne falsche Religion“, als ein neues 192seitiges Bibelstudienhilfsmittel in Taschenformat freigegeben wurde. Dieses Buch, Die Wahrheit, die zu ewigem Leben führt, wurde sehr freudig aufgenommen. „Wer ist Gott?“, „Wo sind die Toten?“, „Warum hat Gott das Böse bis heute zugelassen?“, „Die letzten Tage dieses bösen Systems der Dinge“, „Das Familienleben glücklich gestalten“, „Die wahre Gottesanbetung — ein Lebensweg“ — so lauten einige fesselnde Kapitel dieses Buches. Die neue Veröffentlichung erweckt das Interesse des Lesers ständig von neuem.
Doch es gab noch eine Überraschung für die Kongreßteilnehmer. Das neue Wahrheits-Buch sollte in einem sechsmonatigen Bibelstudienkurs verwendet werden. Wegen der ansprechenden Darlegungsart des Buches würde jemand, der es durchstudiert hat, entweder für oder gegen die Wahrheit Stellung beziehen. Jehovas Zeugen würden nicht mehr jahrelang mit jemand die Bibel studieren, ohne daß derjenige wirklich Fortschritte in geistiger Hinsicht macht und nach dem handelt, was er gelernt hat.
EINE VORKEHRUNG ZUR RICHTIGEN ZEIT
Zwischen 1960 und 1965 hatte es jährlich etwa 60 000 Täuflinge gegeben. Im Jahr 1966 indessen sank die Zahl auf 58 904. Unter diesen Umständen konnte man sich wirklich fragen, ob das Werk nachließe. Es zeigte sich aber, daß dies nicht der Fall war.
Während des Dienstjahres 1967 wurden 74 981 Personen getauft. Dies war ein Aufschwung, der wieder Grund zu Optimismus gab. Dann kam das Jahr 1968 und mit ihm das Wahrheits-Buch und das sechsmonatige Bibelstudienprogramm. Edgar C. Kennedy sagt dazu: „Viele verbanden es mit der Ankündigung, die 2 Jahre zuvor gemacht worden war, daß 6 000 Jahre [der Existenz des Menschen auf der Erde] 1975 enden würden.“ C. W. Barber spricht gleichermaßen von der „Kürze und Dringlichkeit der Zeit“ und bezeichnet das Jahr 1968 als einen „Wendepunkt“. Er stellt fest: „Überall wachten die Brüder auf und gingen kraftvoll daran, mit Hilfe dieser ‚leichteren‘ Methode die gute Botschaft zu verbreiten. Die Zahl der Verkündiger begann auf der ganzen Erde wieder anzusteigen. Aus Hörern wurden Täter des Werkes. ... Es war wirklich Jehova, der die Herstellung dieses kleinen, doch machtvollen Hilfsmittels zum Jüngermachen geleitet hatte.“
Das Buch Die Wahrheit, die zu ewigem Leben führt hat eine erstaunliche Verbreitung erlebt. Wußtest du, daß es jetzt in 91 Sprachen erschienen ist? In den 6 Jahren seit seiner Freigabe sind außerdem schon 74 000 000 Exemplare von den Druckpressen gekommen. Dieses Bibelstudienhilfsmittel hat Hunderttausenden von Personen geholfen, zu einer genauen Erkenntnis der Heiligen Schrift zu gelangen und sich ‘mit festem Griff an das Wort des Lebens zu klammern’ (Phil. 2:16). Obwohl Jehovas Zeugen bei ihren Bibelstudien mit den Menschen nicht nur das Wahrheits-Buch verwenden, so besteht doch kein Zweifel darüber, daß sich die Mehrzahl der 1 351 404 Heimbibelstudien, die Jehovas Zeugen zur Zeit in den Wohnungen der Menschen auf der ganzen Erde durchführen, auf den ausgezeichneten biblischen Stoff stützt, der in diesem Buch zu finden ist.
EINE FLUT VON LITERATUR DIE JEHOVAS KÖNIGREICH VERKÜNDIGT
Heute wird die gute Botschaft von Gottes messianischem Königreich auf der ganzen Erde gepredigt. Und die wahre Flut von Literatur, die Jehovas Königreich verkündigt, spielt bei diesem Werk eine beachtliche Rolle. Nimm zum Beispiel den Wachtturm. Die erste Ausgabe von Zions Wacht-Turm (Juli 1879), wie die Zeitschrift damals genannt wurde, hatte eine Auflage von nur 6 000 Exemplaren. Und nun, im Jahre 1975, werden von jeder Ausgabe durchschnittlich 8 700 000 Exemplare in 79 Sprachen gedruckt.
Seit 1879 hat Der Wachtturm einige Male seinen Namen und sein Format geändert. Ursprünglich hieß er Zions Wacht-Turm und Verkünder der Gegenwart Christi. Heute liest man auf der Titelseite: Der Wachtturm verkündigt Jehovas Königreich“. Jahrelang wurden die Titelseiten des Wachtturms in Schwarzweiß gedruckt. Mit der Ausgabe vom 1. Januar 1939 wurde dann eine neue, farbige Umschlagseite eingeführt. Die Zeitschrift hatte damals größere, dafür aber weniger Seiten als heute. Die Ausgabe vom 15. August 1950, die auf dem Kongreß der Zeugen Jehovas „Mehrung der Theokratie“ veröffentlicht wurde, trug ein völlig neues Titelbild, enthielt farbige Illustrationen und hatte nunmehr 32 statt 16 Seiten. Hat Der Wachtturm zur Mehrung der Theokratie beigetragen? Ganz bestimmt! Du wirst zweifellos überrascht sein zu erfahren, daß allein in den Dienstjahren 1942 bis 1974 2 836 041 443 Exemplare des Wachtturms gedruckt worden sind.
Erwachet!, die Begleitzeitschrift des Wachtturms, ist der Nachfolger des Goldenen Zeitalters und der Zeitschrift Trost. Von der ersten Ausgabe an (22. August 1946) hat Erwachet! die zuversichtliche Hoffnung verkündigt, daß Gottes gerechte neue Ordnung in unserer Generation eingeführt wird. Auch diese Zeitschrift ist ein Teil der großen Flut von Literatur, durch die das Königreich verkündigt wird. Tatsächlich sind in den Dienstjahren 1942 bis 1974 2 600 751 501 Exemplare der Zeitschrift Erwachet! (und Trost) gedruckt worden.
Nicht zu übersehen ist die Flut gebundener Bücher, die Jehovas Königreich verkündigen, einschließlich des 1973 erschienenen Buches Gottes tausendjähriges Königreich hat sich genaht. Es mag dich überraschen zu erfahren, daß die Watchtower Society von 1942 an bis zum Dienstjahr 1974 352 513 470 gebundene Bücher in ihrer Zentrale und in anderen Druckereien auf der ganzen Erde hat drucken lassen.
AUSDEHNUNG DER DRUCKEREIEN
Dieser immer größer werdende Strom biblischer Schriften hat eine ständige Ausdehnung der Druckereien der Watch Tower Society erforderlich gemacht, und zwar nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch in verschiedenen anderen Ländern der Erde. Im Jahre 1927 zog die Gesellschaft in das moderne, feuerfeste Gebäude aus Stahlbeton um, das in Brooklyn (New York), Adams Street 117 steht. Mit 6 500 Quadratmeter Bodenfläche schien dieses Gebäude sehr geräumig zu sein, aber die Beschleunigung des Werkes des Predigens und Jüngermachens erforderte bald eine Ausdehnung der Druckerei der Gesellschaft.
Einen bedeutenden Schritt in dieser Richtung gab Bruder Knorr am 8. August 1946 auf dem „Theokratischen Kongreß fröhlicher Nationen“ bekannt. Er teilte seinen Zuhörern mit, daß die Druckerei und das Bethelheim der Gesellschaft in Brooklyn erweitert würden. Und so wurde das Gebäude auf dem Nachbargrundstück der ursprünglichen Fabrik gekauft, geräumt und dann abgerissen. Die Ausschachtungsarbeiten für die neue Fabrik wurden am 6. Dezember 1948 begonnen, und die Bauarbeiten nahmen dann im Januar 1949 ihren Anfang. Als der neunstöckige Anbau fertig war, war die ursprüngliche Bodenfläche fast verdoppelt worden. Im Jahre 1950 nahm die Druckerei der Gesellschaft in der Adams Street 117 einen ganzen Häuserblock ein.
Im Jahre 1954 stellte die Watch Tower Society ein neues Gebäude in Pittsburgh (Pennsylvanien), Bigelow Boulevard 4100 fertig. Grant Suiter erläutert dazu: „Dieses Gebäude ist nicht nur das eingetragene Büro der Gesellschaft, sondern auch der Tagungsort der Jahresversammlung der pennsylvanischen Körperschaft, und es befindet sich darin auch ein Königreichssaal“, der von einigen Versammlungen der Zeugen Jehovas benutzt wird. Einige Jahre lang, bis zum 4. Mai 1974, wurde darin auch eine der Königreichsdienstschulen durchgeführt.
Mitte der 1950er Jahre dehnte sich das Königreichspredigtwerk sehr schnell aus. Noch wenige Jahre früher, im Jahre 1944, hatte die Gesellschaft von den Zeitschriften Der Wachtturm und Trost (jetzt Erwachet!) 17 897 998 Exemplare gedruckt. Im Jahre 1954 jedoch waren es insgesamt 57 396 810 Exemplare. Daher wurde eine Erweiterung der Einrichtungen der Gesellschaft in Brooklyn (New York) unbedingt erforderlich. Und so begannen im Frühjahr des Jahres 1955 die Ausschachtungsarbeiten für eine neue Fabrik, und im Jahre 1956 wurde ein dreizehnstöckiges Fabrikgebäude fertiggestellt. Dieses Gebäude in der Sands Street 77, „The Watchtower Building“ genannt, hat eine Bodenfläche von 17 837 Quadratmetern, mehr also als die Fabrik in der Adams Street 117, mit der es durch eine Brücke verbunden ist. Im Jahre 1958 erwarb die Gesellschaft eine neunstöckige Fabrik in einem angrenzenden Häuserblock, und diese wird fast ausschließlich für Lagerzwecke benutzt.
Mitte der 1960er Jahre überstieg die Zahl der Königreichsverkündiger auf der ganzen Erde eine Million. Wieder war in der Brooklyner Fabrik der Gesellschaft der Platz knapp geworden, und so begann im Jahre 1966 auf einem Nachbargrundstück die Errichtung einer weiteren großen Fabrik. Durch dieses elfstöckige Gebäude, das am 31. Januar 1968 der Bestimmung übergeben wurde, wurden dem Komplex der Wachtturm-Fabriken 20 995 Quadratmeter Bodenfläche hinzugefügt. Nun nahmen die Fabrikgebäude der Gesellschaft in Brooklyn, die durch Brücken miteinander verbunden wurden, vier Häuserblocks ein.
Ende 1969 wurde dann der Fabrikraum erheblich erweitert. Am 25. November 1969 erwarb die Watchtower Bible and Tract Society of New York, Inc. den gewaltigen, 10 Gebäude umfassenden Komplex der pharmazeutischen Fabrik Squibb in Brooklyn. Durch diesen Kauf wurden dem Hauptbüro der Gesellschaft 58 788 Quadratmeter Bodenfläche hinzugefügt. C. W. Barber erinnert sich noch, wie er vor Jahren einmal beim Bau der Squibb-Gebäude zugeschaut hatte. Jehovas Organisation hatte sich um dieses Grundstück bemüht, aber der Firma Squibb gelang es, es zu erwerben. Er erzählt: „Die Firma Squibb hatte viele Schwierigkeiten, denn es war nicht einfach, ein Fundament für die Gebäude zu legen, da der Boden dort so sandig war.“ Er fügt hinzu: „Schließlich wurde eine Gruppe schöner Gebäude errichtet, und oft dachte ich daran, wie gut es wäre, wenn sie der Gesellschaft gehörten. Und siehe da! Jetzt gehören sie uns.“
AUSDEHNUNG DES BETHELS HÄLT SCHRITT
Während sich die Fabrik der Watchtower Society in Brooklyn ausdehnte, wurde natürlich auch eine entsprechende Erweiterung des Bethelheims erforderlich. Daher wurde im Jahre 1950 ein zwölfstöckiger Anbau vollendet. Aber die Zahl der Mitarbeiter des Hauptbüros wurde immer größer. Und so wurde am 8. Dezember 1958 mit dem Abbruch der alten Gebäude begonnen, die auf einem Nachbargrundstück standen, wo ein neues Bethelheim an der Columbia Heights in Brooklyn entstehen sollte. Die Bauarbeiten begannen im Jahre 1959, und es dauerte nicht lange, bis der zwölfstöckige Neubau vollendet war. Die Bestimmungsübergabe fand Montag, den 10. Oktober 1960 abends in dem schönen Königreichssaal des neuen Gebäudes statt. Anwesend waren Glieder der Bethelfamilie sowie Brüder, die beim Bau mitgewirkt hatten — insgesamt 630 Personen. Die Zahl der Mitarbeiter des Hauptbüros war inzwischen von 355 im Jahre 1950 bis auf 607 im Jahre 1960 angewachsen.
Im Jahre 1965 wurde der Stadtbezirk, in dem das Bethelheim liegt — die Brooklyn Heights —, zu New Yorks erstem „historischen Viertel“ erklärt. Obwohl die Gesellschaft ein weiteres zwölfstöckiges Wohngebäude errichten wollte, kam sie den Wünschen der Denkmalschutz-Kommission entgegen und änderte ihre Baupläne entsprechend ab. Die Fassade dreier alter Gebäude wurde stehengelassen, und dahinter wurde ein siebenstöckiges Wohnheim gebaut und mit der Fassade der alten Gebäude verbunden. Dieses neue Gebäude, Columbia Heights 119, wurde am 2. Mai 1969 seiner Bestimmung übergeben. Daneben steht ein großes Wohnhaus, das Jehovas Zeugen gehört, und zum großen Teil wird es von Mitarbeitern des Hauptbüros bewohnt. Übrigens war die Bethelfamilie (die regulären Mitarbeiter und die Aushilfsarbeiter in Brooklyn und auf den Farmen der Gesellschaft) bis zum Ende des Dienstjahres 1970 auf 1 449 Personen angewachsen. Außerdem wohnten zu dieser Zeit 70 Studenten der Gileadschule im Hauptbüro, so daß die Gesamtzahl 1 519 betrug. Um so viele Menschen unterbringen zu können, mietete die Gesellschaft zusätzlich drei Stockwerke des in der Nähe gelegenen Towers-Hotels.
DIE AUSDEHNUNG GEHT WEITER
Doch mit diesen Entwicklungen war die Ausdehnung der Räumlichkeiten nicht zu Ende. „Im Jahre 1964“, erzählt Grant Suiter, „unternahm die Gesellschaft Schritte, um einen Teil der Königreichsfarm, darunter auch die Gebäude, die früher von der Wachtturm-Bibelschule Gilead [in der Nähe von South Lansing (New York)] benutzt worden waren, zu verkaufen.“ Ein paar Jahre später war der Verkauf abgeschlossen. Damit wurde die Farm verkleinert.
In der Zwischenzeit hatte der Vorstand der Watchtower Bible and Tract Society of New York, Inc. bei Pine Bush (New York) Land gekauft. Die ursprüngliche, 330 ha große Farm wurde im Jahre 1963 erworben und Wachtturmfarm genannt. Im Jahre 1968 wurde dort ein schönes Wohnhaus errichtet, und später folgten noch weitere Gebäude. Außerdem wurde in der Nähe eine weitere Farm gekauft. Heute haben beide Wachtturmfarmen zusammen 688 ha Land.
Die Wachtturmfarmen liefern Gemüse, Obst, Fleisch und Milchprodukte für die Mitarbeiter im Hauptbüro der Gesellschaft. Außerdem befinden sich auf der Farm 1 unter anderem zwei Fabriken. In Fabrik Nr. 1 stehen 4 Rotationsmaschinen, die je 12 500 Zeitschriften pro Stunde drucken können. In Fabrik Nr. 2 ist reichlich Platz für ein Papierlager und für 14 weitere Rotationsmaschinen und andere Maschinen. 6 Rotationsmaschinen sind dort schon in Betrieb, so daß in den beiden Fabriken insgesamt 10 Pressen laufen. Wenn die Bauarbeiten beendet sind, werden diese Fabriken ungefähr 37 000 Quadratmeter Bodenfläche bieten. Im Oktober 1974 dienten über 460 reguläre Mitarbeiter und Aushilfsarbeiter auf den Wachtturmfarmen.
Doch die Watch Tower Society hat ihre Druckereien nicht nur in den Vereinigten Staaten erweitert. Auf der ganzen Erde ist „Ausdehnung“ die Parole geworden. Jehovas Zeugen haben jetzt Druckereien in Australien, Brasilien, Kanada, England, Finnland, Frankreich, Deutschland, Ghana, Japan, Nigeria, auf den Philippinen, in Südafrika, Schweden und in der Schweiz. Ja, Jehovas Volk hat 37 Druckereien in der ganzen Welt. Und von 1955 an hat sich die Zahl der großen Rotationsmaschinen auf der ganzen Erde von 9 auf 64 erhöht. Es stehen also Druckereien zur Verfügung, um den wachsenden Bedarf an biblischer Literatur zu decken.
Warum ist diese Ausdehnung auf der ganzen Erde vorgenommen worden? Weil diejenigen, die in Jehovas Organisation für solche Entscheidungen verantwortlich sind, daran interessiert sind, daß Menschen geholfen wird, die Bibel kennenzulernen. Ist das auch dein Wunsch? Zweifellos, wenn du zu Jehovas christlichen Zeugen gehörst. Die Mitarbeiter des Hauptbüros haben ebenfalls diesen Wunsch. Deshalb haben sie so fleißig gearbeitet, um biblische Schriften herzustellen. Ihre vereinten Anstrengungen im Dienstjahr 1974 ermöglichten es, daß allein in den Vereinigten Staaten 268 509 382 Exemplare der Zeitschriften Der Wachtturm und Erwachet! gedruckt wurden sowie 13 874 957 Broschüren, 45 189 920 Bücher und Bibeln und 261 387 772 Traktate.
Wem ist diese theokratische Ausdehnung zu verdanken? Sie ist nicht einfach das Ergebnis menschlicher Pläne und ernsthafter Bemühungen. Der Dank gilt Jehova Gott, der das Wachstum gibt. Er ist es, der seinem Volk beim Predigen der guten Botschaft vom Königreich Gelingen geschenkt hat (1. Kor. 3:5-7).
EIN JAHRHUNDERT GÖTTLICHER FÜHRUNG
Im Jahre 1970 war ein Jahrhundert vergangen, seit Charles Taze Russell und ein paar seiner Gefährten anfingen, zu einem ernsthaften, gebetsvollen Studium der Heiligen Schrift zusammenzukommen. In all diesen Jahrzehnten haben sich Jehovas Diener geistiger Erleuchtung und göttlicher Führung erfreut. Die achtzigjährige Edith R. Brenisen ist seit einem guten Teil dieser Zeit mit Jehovas Organisation verbunden. Als sie 1970 einen der Bezirkskongresse „Menschen guten Willens“ besuchte, war sie tief bewegt. Schwester Brenisen schreibt: „Als ich 1970 den Kongreß in Boston besuchte und die große Menschenmenge im Fenway Park sah, erinnerte ich mich an den ersten eintägigen Kongreß, den ich im Jahre 1902 im Park Square in Boston besuchte, um mir einen Vortrag von Bruder Russell anzuhören. Damals waren wirklich nur eine Handvoll Personen da. Bei dieser Gelegenheit traf ich übrigens zum erstenmal Bruder Macmillan. Ich kann nicht schildern, was ich empfand, als ich achtundsechzig Jahre später dort, in Boston, saß und die große Schar von Zeugen sah, die mich umgab. Wie in jenen frühen Tagen, als wir noch so wenige an Zahl waren, erfüllte der gleiche heilige Geist, der gleiche Eifer und die gleiche Liebe zu Jehova unser Herz.“
In jenem Jahr war die Eröffnungsansprache des Kongreßvorsitzenden betitelt: „Hundert Jahre göttlicher Führung“. Margaret Green erinnert sich, daß dieser Vortrag „uns über das nachdenken ließ, was wir über die Organisation der 1870er Jahre gelesen hatten, und über den kleinen Anfang und das unglaubliche Wachstum in den vergangenen 100 Jahren“. (Vergleiche Sacharja 4:10.)
SICH DER GÖTTLICHEN LEITUNG UNTERSTELLEN
Jehovas Diener waren entschlossen, sich weiterhin Gottes Leitung zu unterstellen. Das ließen sie deutlich auf den fünftägigen Bezirkskongressen erkennen, die im Jahre 1971 unter dem Motto „Göttlicher Name“ durchgeführt wurden. Der Name Jehovas wurde in den Vordergrund gerückt, und es wurde gezeigt, wie man den göttlichen Grundsätzen gehorchen kann, für die dieser Name steht. Unter anderem wurde dargelegt, wie die neuzeitliche Christenversammlung noch theokratischer ausgerichtet werden sollte.
Doch bevor wir die organisatorischen Entwicklungen betrachten, die durch die Bezirkskongresse im Jahre 1971 in den Vordergrund gerückt wurden, sollten wir einen Blick in die Vergangenheit werfen. Ende der 1930er und Anfang der 1940er Jahre ereignete sich nämlich etwas sehr Bemerkenswertes. Laßt uns also zunächst das Rad der Zeit um ein paar Jahrzehnte zurückdrehen.
„DIE THEOKRATIE IST MÜNDIG GEWORDEN“
Die Zeit vom 30. September bis 2. Oktober 1944 war für Jehovas Volk hoch bedeutsam. Tausende kamen damals in Pittsburgh (Pennsylvanien) zum „Theokratischen Kongreß“ der Zeugen Jehovas und zur Jahresversammlung der Watch Tower Bible and Tract Society zusammen. Zu diesem Kongreßprogramm gehörten die Vorträge „Zum Schlußwerk organisiert“ von T. J. Sullivan, „Theokratische Organisation in Tätigkeit“ von F. W. Franz und „Heutiges Anpassen an theokratische Richtlinien“ von N. H. Knorr. Der Inhalt dieser Vorträge hob die Wichtigkeit der Beschlüsse hervor, die auf der Jahresversammlung gefaßt werden sollten. Daher blieben Tausende in Pittsburgh zur Geschäftsversammlung der Gesellschaft, die am Montag, dem 2. Oktober 1944, stattfand.
„Hier traf ich Bruder Van Amburgh zum letzten Mal“, erzählt W. L. Pelle. „Als er mich sah, waren seine ersten Worte: ,Bruder Pelle, die Theokratie ist mündig geworden.‘ “ Doch was veranlaßte den alternden Sekretär-Kassierer der Gesellschaft zu einer solchen Bemerkung? Die Ereignisse, die sich bei jener Gelegenheit abspielten, sollten es zeigen.
Von größter Wichtigkeit war die Verabschiedung von sechs Resolutionen, die Vorschläge zur Abänderung der Statuten der Watch Tower Society durch Zusatzartikel beinhalteten. Der erste Änderungsvorschlag, der in Form einer Resolution angenommen wurde, sah eine Erweiterung von Zweck und Ziel der Gesellschaft vor, um die Durchführung des noch bevorstehenden weltweiten Werkes zu ermöglichen. Durch diese Änderung wurde auch der Name Gottes, Jehova, in die Satzung aufgenommen. Durch die dritte Änderung wurde die in der ursprünglichen Satzung vorgesehene Methode, die Mitgliedschaft von einer bestimmten Spende an die Gesellschaft abhängig zu machen, völlig abgeschafft. Nach Inkrafttreten dieser Zusatzartikel würde die Zahl der Mitglieder auf 500 beschränkt sein, und sie sollten alle aufgrund ihrer Beteiligung am Dienste Jehovas ausgewählt werden. Es war so, wie es im Wachtturm vom 1. November 1944 (engl. Ausgabe) ausgedrückt wurde: „Durch diese Änderung wird erreicht, daß die Statuten der theokratischen Ordnung so weit entsprechen, wie es das Gesetz des Landes zuläßt.“ Alle sechs Änderungsvorschläge (bezüglich der Artikel 2, 3, 5, 7, 8 und 10) wurden angenommen.
Obwohl Jehovas Volk es damals noch nicht erkannte, war das, was im Jahre 1944 in organisatorischer Hinsicht geschah, offensichtlich von biblischer Bedeutung. Daniel hatte in seiner Prophezeiung vorausgesagt, daß ein symbolisches „kleines Horn“ (die anglo-amerikanische Weltmacht) 2 300 „Abende und Morgen“ oder Tage Jehovas theokratische „heilige Stätte“, durch Jesu gesalbte Nachfolger auf Erden vertreten, niedertreten würde (Dan. 8:9-14). Das geschah während des Zweiten Weltkrieges.
Zu Beginn der vorhergesagten 2 300 Tage erschien der zweiteilige Artikel „Organisation“ im Wachtturm (engl. Ausgabe vom 1. Juni und 15. Juni 1938). Im ersten Teil hieß es: „Jehovas Organisation ist in keiner Weise demokratisch. Jehova ist der Höchste, und seine Herrschaft oder Organisation ist streng theokratisch.“ Teil 2 enthielt eine Resolution, die von den Versammlungen der Zeugen Jehovas angenommen wurde und in der darum gebeten wurde, daß in sämtlichen Versammlungen alle amtierenden Diener theokratisch (von oben nach unten) ernannt würden.
Wenn man vom 1. Juni 1938 an zählt, endeten die 2 300 Tage am 8. Oktober 1944. Rechnet man sie vom 15. Juni 1938 an, so endeten sie am 22. Oktober 1944. Am Ende dieser Zeit wurde wieder Nachdruck auf die theokratische Organisation gelegt, indem auf dem Kongreß und der Jahresversammlung, die nacheinander vom 30. September bis zum 2. Oktober 1944 in Pittsburgh (Pennsylvanien) stattfanden, Vorträge über die Organisation und die Änderungen gehalten wurden und indem im englischen Wachtturm vom 15. Oktober („Zum Schlußwerk organisiert“) und vom 1. November 1944 („Theokratische Organisation in Tätigkeit“ und „Heutiges Anpassen an theokratische Richtlinien“) Artikel über die theokratische Organisation veröffentlicht wurden. Somit traten Gottes Diener am Ende der prüfungsreichen 2 300 Tage fester für Jehovas theokratische Regierung durch Jesus Christus ein als je zuvor. Wie vorhergesagt, wurde das „Heiligtum“ damals wieder „in seinen rechtmäßigen Stand gesetzt“ (Dan. 8:14, Revised Standard Version; siehe Wachtturm vom 15. März 1972, Seite 167—184).
APOSTOLISCHER AUFBAU DER VERSAMMLUNG
Nun wollen wir uns wieder dem Bezirkskongreß „Göttlicher Name“ (1971) zuwenden. Besonders wichtig waren die Programmpunkte, die sich mit der Organisation der Versammlung der ersten Christen befaßten.
Die leitende Körperschaft hatte sich seit einiger Zeit mit dem apostolischen Aufbau der Christenversammlung, wie er in der Bibel dargelegt wird, beschäftigt. Im Laufe dieses Studiums war es offenkundig geworden, daß einige Änderungen in der neuzeitlichen Organisation erforderlich waren. Während in früheren Jahren ein reifer Christ als Versammlungsdiener oder vorsitzführender Aufseher geamtet hatte, dem andere „Diener“ zur Seite gestanden hatten, war in der Zeit der Apostel jede Versammlung von einer Ältestenschaft geleitet worden (Apg. 20:17-28; 1. Tim. 4:14). Außerdem hatte es im ersten Jahrhundert u. Z. offenbar einen turnusgemäßen Wechsel des Vorsitzes gegeben. Daher wurde es für passend erachtet, daß in den Versammlungen, in denen es mehr als einen Ältesten gibt, jedes Jahr jemand anders als Vorsitzender der Ältestenschaft dient.
AUSWAHL DER ÄLTESTEN UND DIENSTAMTGEHILFEN
Die leitende Körperschaft der Zeugen Jehovas sandte an jede Versammlung einen aufschlußreichen Brief und erläuterte darin die Auswahl der „Ältestenschaft“ und auch der Dienstamtgehilfen. Gemäß diesem Brief vom 1. Dezember 1971 sollten alle getauften Männer der Versammlung im Alter von zwanzig Jahren und darüber in Betracht gezogen werden (siehe Esra 3:8). Die Brüder, die an diesen Besprechungen über die Ältesten und Dienstamtgehilfen teilnahmen, bereiteten sich gut vor und betrachteten die Artikel „Die theokratische Organisation inmitten der Demokratien und des Kommunismus“, „Eingesetzte Beamte in der theokratischen Organisation“ und „Eine Ältestenschaft, bei der der Vorsitzende turnusgemäß wechselt“, die im Wachtturm vom 15. Februar 1972 erschienen. Außerdem wurden folgende Wachtturm-Artikel sorgfältig studiert, die in der Ausgabe vom 1. März 1972 veröffentlicht wurden: „Wer ist weise und verständig unter euch?“ und „Ernannte Älteste sollen die Herde Gottes hüten“. Und soweit es ihnen die Zeit erlaubte, lasen die Brüder in dem Buch Aid to Bible Understanding den Aufschluß unter den Stichwörtern „Älterer Mann“, „Aufseher“ und „Diener“.
Als die Glieder des Versammlungskomitees und andere befähigte Brüder zusammenkamen, sprachen sie ein Gebet. Unter anderem lasen und besprachen sie dann die Erfordernisse für Älteste und Dienstamtgehilfen, wie sie in Gottes Wort in 1. Timotheus 3:1-10, 12, 13, Titus 1:5-9 und 1. Petrus 5:1-5 dargelegt werden. „Viele sahen sich zum erstenmal richtig“, bemerkt R. D. Cantwell, „und alle spürten deutlich die Verpflichtung vor Jehova, ehrlich mit sich selbst und anderen zu sein. Einige mußten zugeben, daß sie nicht geeignet waren. Durch diese Vorkehrung kam eine solche Ehrlichkeit und Demut ans Licht, wie es nie möglich gewesen wäre, hätte es nicht diesen Fortschritt im Verständnis der biblischen Grundsätze hinsichtlich der Organisation gegeben.“ (Auch schon in früheren Jahren waren die in der Bibel dargelegten Erfordernisse die Grundlage für die Entscheidung, wer mit Verantwortung in der Versammlung betraut werden sollte. Siehe Rat über Theokratische Organisation für Jehovas Zeugen, S. 19; In Einheit miteinander predigen, S. 26, 27.)
Nachdem dann schließlich die Qualifikationen der Brüder analysiert worden waren, wurden der leitenden Körperschaft Empfehlungen unterbreitet. Nach dem 1. August 1972 erhielten dann die Versammlungen Briefe mit den Ernennungen der Aufseher und Dienstamtgehilfen.
ANERKENNUNG DER GÖTTLICHEN HERRSCHAFT
Während Jehovas Volk gespannt auf die völlige Durchführung dieser Vorkehrung wartete, versammelten sich Jehovas Zeugen in den Vereinigten Staaten, in Kanada und auf den Britischen Inseln von Ende Juni bis Ende August 1972 zu den Bezirkskongressen „Göttliche Herrschaft“. Auf diesen Veranstaltungen wurde der göttlichen Herrschaft die Hauptaufmerksamkeit geschenkt.
Eine der bedeutsamen Kongreßfreigaben war das neue 192 Seiten starke Buch Organisation zum Predigen des Königreiches und zum Jüngermachen. Unter anderem wurden darin die Verbesserungen dargelegt, die im Aufbau der Christenversammlung vorgenommen wurden. Das Organisations-Buch und auch das Kongreßprogramm zeigten die praktischen Aspekte dieser Reorganisation und ließen erkennen, wie sich die Neuerungen auswirken würden.
Auf diesen Bezirkskongressen wurde besonders auf die Anerkennung der göttlichen Herrschaft Wert gelegt, zum Beispiel in dem öffentlichen Vortrag „Die göttliche Herrschaft — die einzige Hoffnung für die ganze Menschheit“. Die Delegierten erkannten, daß sie, um ewiges Leben erlangen zu können, als einzelne persönlich Jehovas Herrschaft anerkennen mußten. Im neuen Organisations-Buch und in verschiedenen Programmpunkten des Kongresses wurde aber auch die Wichtigkeit hervorgehoben, daß die Versammlung die göttliche Herrschaft anerkennt.
DIE LEITENDE KÖRPERSCHAFT GIBT EIN BEISPIEL
Doch drehen wir nun die Zeit zurück bis zum Montag, den 13. September 1971. Um 7 Uhr morgens haben die Mitarbeiter des Hauptbüros der Watch Tower Society in den verschiedenen Speisesälen des Brooklyner Bethelheims Platz genommen. Sie sind bereit für die übliche Besprechung des für den Tag vorgesehenen Bibeltextes und das anschließende Frühstück. Bis jetzt hat immer der Präsident der Gesellschaft bei diesen Besprechungen den Vorsitz geführt, wenn er zu Hause gewesen ist. Heute ist Bruder Knorr im Bethel, aber er sitzt nicht am Tischende. Statt dessen führt F. W. Franz, der Vizepräsident der Gesellschaft, den Vorsitz bei der morgendlichen Textbesprechung. Warum? Weil die leitende Körperschaft der Zeugen Jehovas einen turnusgemäßen wöchentlichen Wechsel für die morgendliche Tagestextbesprechung und für das Wachtturm-Studium der Bethelfamilie am Montagabend eingeführt hat.
Somit begann im Brooklyner Bethel ein turnusgemäßer Wechsel, schon ein Jahr bevor eine ähnliche Einrichtung in den Versammlungen des Volkes Gottes im allgemeinen in Kraft trat. Aber die Vorkehrung ging noch weiter. Am 6. September 1971 nahm die leitende Körperschaft der Zeugen Jehovas eine Resolution an, nach der ihr Vorsitzender in alphabetischer Reihenfolge jährlich wechseln sollte. So kam es, daß F. W. Franz am 1. Oktober 1971 für ein Jahr Vorsitzender der leitenden Körperschaft wurde. Auf diese Weise gab die leitende Körperschaft ein passendes Beispiel in der Einführung der neuen organisatorischen Vorkehrung.
„DAS HAT GOTT BEWIRKT“
Als Roger Morgan über die neue Vorkehrung der Ältesten und Dienstamtgehilfen nachdachte, fühlte er sich bewogen zu sagen: „Das hat Gott bewirkt.“ Damit hat er zweifellos anderen aus dem Herzen gesprochen, die über die aus dieser Vorkehrung erwachsenden Vorteile nachgedacht haben. Der erste Wechsel und die damit verbundene Übergabe der Verantwortung begann im September 1972, und bis zum 1. Oktober waren in den meisten Versammlungen die Änderungen vollzogen worden. In vielen Fällen wurde der frühere Hilfsversammlungsdiener jetzt vorsitzführender Aufseher, der frühere Versammlungsdiener wurde Aufseher der Theokratischen Predigtdienstschule usw. Hier war der Beweis, daß Christen Jehovas Herrschaft und seine Verfahrensweise mit der Versammlung seines Volkes anerkennen. Jedes Jahr würden nun die Ältesten einer Versammlung turnusgemäß verschiedene Stellungen bekleiden, und sie würden als eine Körperschaft zusammenwirken und dabei das geistige Wohl der Versammlung sowie die Notwendigkeit, beim Hüten der ihnen anvertrauten Herde Gottes zusammenzuarbeiten, im Sinn behalten (1. Petr. 5:2).
Diese neue Vorkehrung für die Versammlungen hat viele Vorteile. Zum Beispiel meint Edgar C. Kennedy, sie ermögliche „stärkere Solidarität für den Fall, daß eine Versammlung eine Zeitlang von der leitenden Körperschaft abgeschnitten wäre“. „Das ist ganz bestimmt ein außergewöhnlicher Fortschritt in Jehovas Organisation“, erklärt Grace A. Estep, „und es zeigt, wie gut Gott sein Volk für die Zeit nach diesem System der Dinge vorbereitet.“ Nicht ohne Grund schrieb Der Wachtturm in seinem Bericht über die Bezirkskongresse 1972: „In der Tat, Jehova organisiert sein versammeltes Volk heute so, daß es Harmagedon überstehen und dann in seiner neuen Ordnung leben kann — unter der göttlichen Herrschaft.“
INTERNATIONALER KONGRESS „GÖTTLICHER SIEG“
Jehovas christliche Zeugen haben bestimmt bewiesen, daß sie sich der göttlichen Führung unterstellen und sich bereitwillig der göttlichen Herrschaft unterwerfen. Von Ende Juni 1973 bis Januar 1974 hielten sie auf der ganzen Erde einen internationalen Kongreß ab, auf dem sie deutlich zum Ausdruck brachten, daß sie mit Spannung Gottes Sieg erwarten. Diese Veranstaltungen dauerten im allgemeinen fünf Tage und fanden in den Vereinigten Staaten, in Kanada, Europa, Asien, Mittel- und Südamerika, im südpazifischen Raum und in Afrika statt. Viele Diener Gottes reisten in ferne Länder, um dort das geistig erbauende Kongreßprogramm mit ihren Mitgläubigen aus anderen Ländern zu erleben. Gewöhnlich wurde das Programm nur während des Tages abgehalten, so daß die Delegierten früh in ihre Unterkunft zurückkehren konnten und nicht nach Einbruch der Dunkelheit in Gegenden unterwegs sein mußten, in denen das nicht ratsam ist. Oft unterhielten sie sich in den Abendstunden über die Höhepunkte des Kongresses.
Einer der vielen ausgezeichneten Programmpunkte war der fesselnde Vortrag: „Behaltet die Gegenwart des Tages Jehovas fest im Sinn“. Wie eindringlich wurde doch gezeigt, daß Christen den Tag Jehovas in ihrem Sinn nicht einfach hinausschieben dürfen! Die immer schlechter werdenden Weltverhältnisse und die Entwicklungen innerhalb der theokratischen Organisation in Verbindung mit der Vorkehrung für Älteste und Dienstamtgehilfen sowie der große Zustrom von Menschen, die die „große Volksmenge“ bilden werden, sind ein sicheres Anzeichen dafür, daß Jehovas Tag nahe ist (2. Petr. 3:11-13; Offb. 7:9). Im Anschluß an diesen nachdenklich stimmenden Vortrag wurde ein 192seitiges Buch freigegeben, das sehr geschätzt wurde: Wahrer Friede und Sicherheit — woher zu erwarten?
Andere Kongreßfreigaben waren die Umfassende Konkordanz zur Neuen-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift (englisch) und das 416seitige Buch Gottes tausendjähriges Königreich hat sich genaht. Herzerfreuend war der öffentliche Vortrag mit dem Thema „Göttlicher Sieg — was bedeutet er für die bedrängte Menschheit?“ Mutig wurde die Aufmerksamkeit auf den universellen Krieg von Har-Magedon gelenkt, in dem sich Jehova durch seinen göttlichen Sieg rechtfertigen wird. Es wurde erklärt, daß die „Könige der ganzen bewohnten Erde“ unter der treibenden Kraft unreiner inspirierter Äußerungen zum Krieg gegen Gott versammelt werden, zu einem Krieg, bei dem es um die Herrschaft über die Erde geht (Offb. 16:13-16). Daher muß jeder Stellung beziehen — entweder auf der einen Seite oder auf der anderen. Nur diejenigen, die auf der Seite Jesu Christi, des Königs der Könige, Stellung beziehen, werden verschont werden. Nur sie werden Zeugen des göttlichen Sieges sein und an dem Fest teilnehmen, das danach folgt.
Auf den 19 internationalen Kongressen „Göttlicher Sieg“, die im Juni und Juli 1973 auf dem Festland der Vereinigten Staaten stattfanden, symbolisierten 15 851 Personen ihre Hingabe an Jehova Gott durch die Wassertaufe. Insgesamt kamen bei diesen Veranstaltungen 665 945 Personen zusammen, um die reichen geistigen Segnungen zu genießen, die Jehova seinem Volk schenkte. Auf der ganzen Erde fanden 140 Kongresse statt, auf denen 81 830 Personen getauft wurden, und die Gesamtbesucherzahl betrug 2 594 305. Welch ein Grund, Gott, dem Sieger, dankzusagen!
EIN BESONDERES WERK BESCHLEUNIGT DIE MEHRUNG
Die internationalen Kongresse „Göttlicher Sieg“ hatten jedoch noch etwas Besonderes zu bieten. Monate im voraus konnte man im Wachtturm lesen, daß das Programm die Aufmerksamkeit besonders auf das Werk des Predigens und Jüngermachens lenken würde. Es hieß dann wörtlich: „Es wird ein besonderes Werk umrissen und gezeigt werden. Alle Versammlungen der Zeugen Jehovas auf der ganzen Erde werden sich zu bestimmten Zeiten nach dem Kongreß daran beteiligen.“ Was war dieses besondere Werk?
Die Antwort wurde im Anschluß an den Schlüsselvortrag des Kongresses, „Die Welt besiegen — ohne Waffengewalt“, offenbar. Danach wurde ein vierseitiges Traktat, Königreichs-Nachrichten Nr. 16, freigegeben, das den Titel trug: „Läuft die Zeit für die Menschheit ab?“ Jedem Zuhörer, der über zwölf Jahre alt war und bei der Verbreitung mithelfen wollte, wurden kostenlos acht Traktate ausgehändigt. Der Sprecher erklärte, daß für die Verbreitung dieser Traktate zehn Tage — der 21. bis 30. September — eingeräumt würden. Die Traktate würden den Menschen persönlich im Haus-zu-Haus-Dienst überreicht oder — wenn niemand zu Hause wäre — unter die Tür geschoben werden. Die Watch Tower Society würde an jede Versammlung 100 Traktate pro Verkündiger schicken. In jeder Wohnung sollte ein Traktat zurückgelassen werden; daher war damit zu rechnen, daß Millionen Exemplare kostenlos verbreitet würden. Jehovas Volk freute sich über die Aussicht, dieses besondere Werk in Verbindung mit der Verkündigung des Königreiches zu verrichten.
Und so verbreiteten Jehovas Zeugen in den Vereinigten Staaten und auch in anderen Ländern im Jahre 1973 während der letzten zehn Tage des Monats September Millionen von Exemplaren der Königreichs-Nachrichten Nr. 16. Vom 22. bis 31. Dezember 1973 beteiligten sie sich wieder an einer Massenverbreitung der Königreichs-Nachrichten. Diesmal war es Nr. 17, und darin wurde die Frage aufgeworfen und beantwortet: „Hat die Religion Gott und die Menschen verraten?“ Vom 3. bis 12. Mai zogen sie wieder durch ihre Gebiete, diesmal mit den Königreichs-Nachrichten Nr. 18, in denen die entscheidende Frage aufgeworfen wurde: „Die Regierung Gottes — sind Sie dafür oder dagegen?“
Viele, die die Wahrheit des Wortes Gottes kennen, hatten den Wunsch, die gute Botschaft anderen mitzuteilen, indem sie sich an der Verbreitung der Königreichs Nachrichten beteiligten. Tatsächlich nahmen im September 1973 in den Vereinigten Staaten (ohne Alaska und Hawaii) 512 738 Königreichsverkündiger an diesem Werk teil. Aus Berichten geht hervor, daß sie 43 320 048 Exemplare der Königreichs-Nachrichten Nr. 16 verbreiteten. Im Dezember beteiligten sich sogar 525 007 Verkündiger an der Verbreitung der Königreichs-Nachrichten Nr. 17. Das waren 103 112 Verkündiger mehr als sich nur ein Jahr zuvor am Predigtdienst beteiligt hatten. Und im Mai 1974 waren 539 262 Arbeiter im Predigtdienst tätig.
Erfahrungen zeigen, daß die Verbreitung der Königreichs-Nachrichten das Werk des Jüngermachens beschleunigte. Zum Beispiel ließen zwei Verkündiger ein Exemplar bei einem Herrn zurück und gingen ihres Weges, wurden aber später von ihm wieder zurückgerufen. Als sie zu seiner Wohnung kamen, trafen sie seine Frau, die das Buch Die Wahrheit, die zu ewigem Leben führt in einer Mülltonne gefunden hatte. Sie hatte nicht schlafen können, weil sie erkannt hatte, daß sich das, was darin stand, erfüllte. So wurde ein Bibelstudium eingerichtet. Die Frau begann, regelmäßig die christlichen Zusammenkünfte zu besuchen, und machte so weit Fortschritte, daß sie sich später selbst an der Verbreitung der Königreichs-Nachrichten beteiligte und den Wunsch äußerte, sich taufen zu lassen.
Ein Exemplar der Königreichs-Nachrichten entfachte das Interesse zweier langhaariger leiblicher Brüder, die rauchten, Drogen nahmen und in einer Rock-and-Roll-Band spielten. Bald studierten beide die Bibel mit dem Zeugen, der ihnen das Traktat gegeben hatte. Sie ließen sich das Haar schneiden, gaben das Rauchen auf, nahmen keine Narkotika mehr und machten schnell geistige Fortschritte. Nur drei Monate nachdem sie ein Exemplar der Königreichs-Nachrichten erhalten hatten beteiligten sie sich am Predigtdienst und nahmen an der Verbreitung der nächsten Ausgabe teil. Beide wurden im Dezember 1973 getauft, und kurz darauf waren sie schon als Pionier auf Zeit tätig.
EINE „GROSSE VOLKSMENGE“ WIRD EINGESAMMELT
Der Apostel Johannes sah in einer Vision, daß eine „große Volksmenge“ aus allen Nationen, Stämmen, Völkern und Zungen vor dem Throne Gottes stand und ihm in seinem Tempel Tag und Nacht heiligen Dienst darbrachte (Offb. 7:9, 15). Diese Menschen mit einer irdischen Hoffnung haben die gesalbten Nachfolger Jesu Christi in dem ihnen von Gott aufgetragenen Werk der Verkündigung der guten Botschaft vom Königreich ganzherzig unterstützt. Wie begeisternd ist es zu sehen, wie infolgedessen Tausende und aber Tausende zum ‘Berg des Hauses Jehovas’ strömen! (Jes. 2:2-4).
Diese Personen, die sich in den Vorhöfen des ‘Hauses Jehovas’ versammelt haben, haben sich Jehova Gott hingegeben und dies durch die Wassertaufe symbolisiert. Im Anschluß an den Vortrag „Taufe gemäß dem göttlichen Willen“ ließen sich am 30. Juli 1958 in New York 7 136 solche Personen taufen. Seit Pfingsten 33 u. Z. hatte es nichts dergleichen gegeben (Apg. 2:41). Gewiß konnte die Welt diese Taufe im Jahre 1958 nicht ignorieren, denn H. L. Philbrick schrieb vor nicht allzu langer Zeit: „Die Presse brachte gute Bilder von der großen Zahl derer, die getauft wurden ... Alle Zeitungsleser mußten den Eindruck erhalten, daß Jehovas Zeugen nicht mehr als eine kleine ,Sekte‘ betrachtet werden dürfen.“ Die Wahrheit war auf dem Vormarsch.
Doch Jehovas Zeugen sind nicht an bloßen Zahlen interessiert. Wichtig ist, daß die Taufbewerber verstehen, was sie tun. Deshalb wurde die Vorkehrung sehr geschätzt, die in Verbindung mit dem Buch „Dein Wort ist eine Leuchte meinem Fuß“ (1967 veröffentlicht) eingeführt wurde. Auf Seite 7 bis 39 standen 80 biblische Fragen, die reife Brüder mit Taufbewerbern besprechen sollten. „Wenn sie die achtzig Fragen mit dem Versammlungskomitee studiert hatten“, meinen Bruder und Schwester Newell, „erkannten sie, daß ihre Hingabe und ihre Taufe den Beginn eines neuen Lebensweges bedeuteten und daß sie die damit verbundene Verantwortung nicht leichtnehmen durften.“ Das neuere Buch Organisation zum Predigen des Königreiches und zum Jüngermachen (1972 veröffentlicht) enthält eine ähnliche Vorkehrung zur Besprechung biblischer Fragen mit Taufbewerbern. Wenn verschiedene Älteste der Versammlung diese Fragen mit jedem einzelnen besprechen, erhalten diejenigen, die sich taufen lassen möchten, die Gelegenheit, sich zu biblischen Themen zu äußern und ihr Verhältnis zu Jehova Gott richtig einzuschätzen. Diese Vorkehrung hat dazu beigetragen, wahre Jünger zu machen.
Betrachten wir kurz, wie sich das Werk des Jüngermachens und Taufens ausgedehnt hat. Im Jahre 1968 wurden 82 842 Personen getauft. In den Jahren 1969 bis 1973 wurden insgesamt 792 019 Personen getauft. Während die Bemühungen, die „große Volksmenge“ einzusammeln, begeistert fortgesetzt werden, lassen sich jedes Jahr viele Tausende taufen. Ja, allein im Dienstjahr 1974 ließen sich 297 872 Personen zum Zeichen ihrer Hingabe an Jehova Gott taufen. Wie begeisternd ist es doch für Gottes Volk, sich zur Ehre Jehovas an diesem wunderbaren Einsammlungswerk zu beteiligen! Heute predigen über 2 000 000 christliche Zeugen Jehovas die gute Botschaft von Gottes Königreich.
„WACHT ... BEHARRLICH“
Jesus ermahnte seine Nachfolger eindringlich, wachsam zu bleiben und darauf zu achten, wann er komme, um das Gerichtsurteil gegen dieses böse System der Dinge zu vollstrecken. Er tat dies, indem er die Jünger mit einem Türhüter verglich, dem sein Herr gebot, auf seine Rückkehr von einer Auslandsreise zu warten. „Wacht also beharrlich“, lautete Jesu weiser Rat (Mark. 13:32-37).
Der Bezirkskongreß „Gottes Vorsatz“ trug viel dazu bei, Jehovas christliche Zeugen die Dringlichkeit der Zeit verspüren zu lassen und sie zu erhöhter geistiger Wachsamkeit anzuspornen. In den Vereinigten Staaten, in Kanada und auf den Britischen Inseln fanden in den Monaten Juni bis August 1974 85 solche Kongresse statt. Diese Zusammenkünfte halfen Gottes Volk gewiß, zu erkennen, wo wir uns im Strome der Zeit befinden.
Aus jedem der drei bewegenden biblischen Dramen, die aufgeführt wurden, konnte man wichtige Lehren ziehen. Die Notwendigkeit, sich vor Unglauben zu hüten, wurde auf dramatische Weise deutlich gemacht, als die Kongreßteilnehmer ihre Aufmerksamkeit auf die Israeliten richteten, die nach ihrer Befreiung aus der ägyptischen Gefangenschaft durch die Wildnis wanderten. Ein anderes Drama lenkte ihre Aufmerksamkeit auf 1. Könige, Kapitel 13 und zeigte, welche Gefahren damit verbunden sind, nicht auf Gottes Autorität zu hören. Und wie ergreifend war doch die Schilderung des Lebens und der Werke des Apostels Paulus als Christ! Sie erfüllte die Zuschauer mit neuem Eifer für die Anbetung und den Dienst Jehovas Gottes.
Wie kann man sich vor dem Materialismus, dem Einfluß von Dämonen und der Ausnutzung durch die falsche Religion schützen? Die Antwort darauf gab der fesselnde Vortrag „Behütet durch den Glauben und die Hoffnung, die auf Jehova gerichtet sind“. Im Anschluß an diesen Kongreßvortrag wurde das neue 192 Seiten starke Buch Ist mit dem jetzigen Leben alles vorbei? freigegeben. Es kritisiert scharf Babylon die Große, das Weltreich der falschen Religion, und gibt den Lesern gleichzeitig vernünftige Gründe für den Glauben, daß mit dem jetzigen Leben längst nicht alles vorbei ist. Dieses Buch stärkt den Glauben an Jehovas Verheißung, eine gerechte neue Ordnung zu schaffen, in der die Menschen ewig leben werden, und an die erhabene Auferstehungshoffnung.
Die gesalbten Nachfolger Jesu Christi und auch ihre Gefährten, die eine irdische Hoffnung hegen, möchten gern Gottes Vorsatz dienen. Sie wissen, daß er nicht scheitern wird, und diese Überzeugung kommt in dem Titel und dem Inhalt einer weiteren Kongreßfreigabe zum Ausdruck — in dem Buch Gottes „ewiger Vorsatz“ jetzt zum Wohl des Menschen glorreich verwirklicht. Wir haben wirklich allen Grund, unser Vertrauen auf Gottes Vorsatz zu setzen. Diese Gründe wurden besonders beim Höhepunkt des Kongresses hervorgehoben, als der öffentliche Vortrag mit dem Thema „Menschenpläne scheitern — Gottes Vorsatz gelingt“ gehalten wurde. Dieser und anderer wichtiger Aufschluß begeisterte die 891 819 Personen, die die 69 Bezirkskongresse „Gottes Vorsatz“ in den Vereinigten Staaten besuchten.
Jehovas Zeugen in den Vereinigten Staaten und anderswo wissen, daß sich die Menschen weiterhin bemühen werden, die wankende Welt zu stabilisieren. Doch ganz gleich, wie grandios die Pläne der Menschen auch erscheinen mögen und wie lautstark versichert wird, daß sie gelingen werden, so weiß doch Jehovas Volk, daß nur Gottes Vorsatz glorreich verwirklicht werden wird, und es dankt ihm für das großartige Vorrecht, sein Wort und sein Königreich verkündigen zu dürfen.
Treffend prophezeite Jesaja, daß „im Schlußteil der Tage“ der Berg des Hauses Jehovas über dem Gipfel der Berge fest gegründet sein würde und daß viele Völker zu ihm strömen würden (Jes. 2:2-4). Wir leben jetzt im „Schlußteil der Tage“. Die Tatsache, daß sich immer größere Scharen der „großen Volksmenge“ anschließen, sollte uns vor Augen führen, wie dringlich die Zeit ist. Heute ist es für Jehovas Diener nicht angebracht, selbstgefällig, gleichgültig oder untätig zu werden. Sie haben ein Werk zu tun.
Denke daran, wo wir uns im Strom der Zeit befinden! Die Wichtigkeit dieser Tatsache wurde uns im Jahre 1966 eindringlich eingeprägt. Gottes Volk erhielt damals das fesselnde Buch Ewiges Leben — in der Freiheit der Söhne Gottes. Es dauerte bei den meisten nicht lange, bis sie darin eine Zeittafel entdeckten, in der das Jahr 1975 als das „Ende des sechsten 1 000-Jahr-Tages der Existenz des Menschen (im Frühherbst)“ angegeben wurde.
Das gab natürlich Anlaß zu verschiedenen Fragen. Bedeutet das, daß Babylon die Große 1975 beseitigt ist? Wird dann Harmagedon vorüber und Satan gebunden sein? „Es könnte das bedeuten“, gab F. W. Franz, der Vizepräsident der Watch Tower Society, zu, nachdem er ähnliche Fragen auf dem Bezirkskongreß „Gottes Söhne der Freiheit“ in Baltimore (Maryland) aufgeworfen hatte. Er fügte jedoch hinzu: „Doch wir sagen das nicht. Alle Dinge sind bei Gott möglich. Doch wir sagen das nicht. Und möge auch niemand von euch sich irgendwie bestimmt äußern und etwas sagen, was zwischen der Gegenwart und dem Jahr 1975 vor sich gehen soll. Doch der wichtige Gedanke bei all diesem, liebe Freunde, ist der: Die Zeit ist kurz. Die Zeit läuft ab, darüber besteht keine Frage.“ Unter anderem ermahnte Bruder Franz: „Laßt uns unsere Zeit so gut wie möglich verwenden und die ganze gute, schwere Arbeit für Jehova getan bekommen, während noch Gelegenheit dazu ist.“
Seitdem sind einige Jahre vergangen, aber dadurch ist die Dringlichkeit des Predigtwerkes nur noch größer geworden. Jehovas Diener wissen, daß sie sich Gott nicht bis zu einem bestimmten Jahr hingegeben haben. Sie sind für immer sein ihm hingegebenes Volk. Heute ist die gesamte Menschenwelt Gottes Feld zur Bebauung, und das Werk ist dringlich. Welch ein Vorrecht haben doch Jehovas Diener als seine Mitarbeiter auf diesem Feld, indem sie Gottes Vorsätze und seine Rettungsvorkehrungen bekanntmachen dürfen! Mit tiefer Wertschätzung für Jehovas unverdiente Güte sind diese Gott hingegebenen Christen fest entschlossen, in ihrer Tätigkeit voranzudrängen, „mit ihm zusammenarbeitend“ (1. Kor. 3:9; 2. Kor. 5:18 bis 6:2).
Mit der Hilfe des heiligen Geistes Gottes werden Jehovas christliche Zeugen in den Vereinigten Staaten zusammen mit ihren Mitanbetern auf der ganzen Erde ihrem himmlischen Vater weiterhin treu dienen. Mögen wir doch alle Jehova gegenüber unerschütterlich die Treue bewahren! Mögen wir wachsam und tätig bleiben, während sich das Ende naht! Wir müssen ‘beharrlich wachen’. Jetzt ist es nicht an der Zeit, geistig schläfrig zu sein. Jetzt ist es an der Zeit, im Dienste Gottes, dessen wunderbarer und unvergleichlicher Vorsatz nicht scheitern kann und wird, wachsam, fleißig und treu zu sein.
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