Sieh dich vor! Du kannst gewinnen und dennoch verlieren!
ES MAG wie ein Widerspruch klingen, aber man kann tatsächlich gewinnen und dennoch verlieren. Das wird sowohl von der Weltgeschichte als auch von der Bibel bestätigt, und wir würden gut daran tun, aus dem Prinzip, um das es dabei geht, zu lernen.
Hast du schon einmal den Ausdruck Pyrrhussieg gehört? Er geht zurück auf den griechischen König Pyrrhus von Epirus. Dieser König lebte im dritten Jahrhundert v. u. Z. und war ein Vetter zweiten Grades von Alexander dem Großen. Eine der vielen Schlachten, die er schlug, war die Schlacht bei Ausculum. In dieser Schlacht siegte er, aber der Sieg wurde mit so großen Opfern erkauft, daß er in die Worte ausbrach: „Noch ein solcher Sieg, und wir sind verloren.“ Seither wird der Ausdruck „Pyrrhussieg“ auf einen Sieg angewandt, dessen Gewinn durch den Verlust überboten wird.
Dieses Prinzip kann auf viele Beziehungen im Leben angewandt werden, unter anderem auf solche, bei denen Liebe eine Rolle spielt. Es mag Gelegenheiten geben, da wir einen Sieg erringen, dabei aber jemand, den wir lieben, verletzen. Ein Beispiel dafür finden wir in dem Gedicht des amerikanischen Dichters John Greenleaf Whittier (1807—1892), das er mit „Schulzeit“ überschrieb. Darin läßt er ein junges Mädchen zu einem Jüngling sagen: „‚Hätt’ ich nur das Wort nicht buchstabiert. Ich hasse es, dich zu besiegen, denn‘ — sie schlug die braunen Augen nieder —, ,denn mein Herz treibt mich, dich zu lieben.‘“ Sie war in einem Buchstabierwettbewerb Siegerin geworden, bedauerte es aber, weil sie dadurch den verletzt hatte, den sie liebte.
Wir mögen gegen jemand obsiegen, indem wir beharrlich sind oder indem wir lange und laut argumentieren oder immer wieder von einer Sache anfangen. Aber was gewinnen wir dadurch? Wir erringen auf diese Weise einen Sieg, durch den wir die Gefühle eines anderen verletzen und etwas von seiner Zuneigung oder von seinem Wohlwollen verlieren.
Wir mögen im Recht gewesen sein. Wir mögen für etwas gekämpft haben, worauf wir nach unserer Meinung Anspruch hatten. Aber wie hat es der andere empfunden? Können wir mit ihm fühlen? Wenn jemand nur widerstrebend nachgibt oder nur widerstrebend gewährt, was wir fordern, mögen verletzter Stolz und ein Abkühlen der Freundschaft die Folge sein. Es kann sogar sein, daß der Unterlegene nur darauf wartet, sich zu revanchieren. Lohnt sich somit ein solcher Sieg? Man könnte ihn mit der Erfahrung eines Mannes vergleichen, der auf einen bestimmten Gegenstand oder auf ein bestimmtes Grundstück, das versteigert wird, erpicht ist. Um es zu bekommen, bietet er dafür mehr, als es wert ist, doch hinterher bereut er es. Er hat gewonnen und dennoch verloren.
Diese Gefahr besteht auch bei dem Verhältnis eines Vorgesetzten — Chefs, Vorarbeiters oder Managers — zu denen, die ihm unterstellt sind. Er mag fordern, daß eine Arbeit nach einer bestimmten Methode — obschon es nicht die beste ist — getan wird, weil es seine Methode ist. Zufolge seiner Stellung mag er seinen Willen durchsetzen, er mag obsiegen — aber zu welchem Preis? Nicht nur das Geschäft leidet darunter, weil diese Arbeit nicht so rationell getan wird, wie sie getan werden könnte, sondern ein solches Vorgehen kann sich auch nachteilig auf die Einstellung des Angestellten zur Firma und auf seine Freude an der Arbeit auswirken.
Wie über andere Themen, die mit dem täglichen Leben und dem menschlichen Verhalten zu tun haben, so gibt die Bibel auch über dieses Thema weisen Rat. Und ihr Rat ist uns sowohl jetzt als auch in der Zukunft von Nutzen. So sagte Jesus Christus, der Sohn Gottes, einmal warnend: „Was hat ein Mensch davon, wenn er die ganze Welt gewinnt, am Ende aber doch sein Leben verliert?“ (Matth. 16:26, Die Gute Nachricht).
Wie zutreffend und wie angebracht ist diese Warnung! Der selbstsüchtige, gefallene Mensch hat stets dazu geneigt, nach Macht, Reichtum oder Ruhm zu streben; das hat er auf Kosten seiner geistigen Bedürfnisse getan. Was sind die Folgen gewesen? Viele haben diesem Streben nicht nur wertvolle Freundschaften und die Interessen ihrer eigenen Familie geopfert, sondern sie haben dabei auch ihre Gesundheit verloren. Weil sie die Welt und deren Lebensweise liebgewannen, haben sie sich außerdem Gottes Mißbilligung zugezogen und die Hoffnung auf ewiges Leben eingebüßt. Sie haben das, wofür sie kämpften, errungen, aber zu welch hohem Preis!
Der Jünger Jakobus, ein Halbbruder Jesu, stellte mit aller Deutlichkeit fest: „Ihr Ehebrecherinnen, wißt ihr nicht, daß die Freundschaft mit der Welt Feindschaft mit Gott ist? Wer immer daher ein Freund der Welt sein will, stellt sich als ein Feind Gottes dar.“ Und was bedeutet es, ein Feind Gottes zu sein? Es bedeutet, alles zu verlieren, auch die Aussicht auf ewiges Leben (Jak. 4:4).
Das Prinzip, daß man gewinnen und dennoch verlieren kann, ist auch in dem Rat mit enthalten, den der Apostel Paulus unter Inspiration Christen gab: „Macht meine Freude dadurch voll, daß ihr gleichen Sinnes seid und die gleiche Liebe habt und mit vereinter Seele auf das e i n e bedacht seid, indem ihr nichts aus Streitsucht oder aus Ichsucht tut, sondern in Demut die anderen höher achtet als euch selbst, indem ihr nicht nur eure eigenen Dinge im persönlichen Interesse im Auge behaltet, sondern im persönlichen Interesse auch die der anderen“ (Phil. 2:2-4). In anderen Worten: Sei nicht allzusehr darauf erpicht, recht zu bekommen, oder poche nicht zu sehr auf dein Recht. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.
Wenn wir unseren Nächsten lieben wie uns selbst, werden wir uns freuen, wenn er etwas erlangt, was wir gern gehabt hätten. Gestehen wir es ihm ohne Neid zu, mag die Freundschaft inniger werden.
Diesen Grundsatz kann man auch auf das Lehren anwenden. Ein christlicher Prediger mag bemüht sein, jemand zu unterweisen, der hartnäckig eine Irrlehre verteidigt. Der Prediger mag versuchen, seinen Schüler von seinem Irrtum zu überzeugen; er führt vielleicht viele Bibeltexte an und macht Bemerkungen, durch die sich der im Irrtum Befangene dumm vorkommen muß. Doch der Prediger wird sein Ziel nicht erreichen. Warum nicht? Weil er den anderen durch seine Methode und sein Verhalten weiter von der Wahrheit weggetrieben hat, anstatt ihn zu überzeugen. Es wäre vernünftiger gewesen, einige wenige Beweise freundlich, ruhig und höflich zu unterbreiten und dann das Gespräch bei einer anderen Gelegenheit fortzusetzen.
Einen Sieg zu erringen ist schön und erfreulich, weniger erfreulich ist es, eine Niederlage zu erleiden. Sei daher nicht allzusehr darauf erpicht zu gewinnen, besonders dann nicht, wenn es auf Kosten der Interessen oder Gefühle eines anderen ginge. Ein Pyrrhussieg lohnt sich einfach nicht, denn der Gewinner ist gleichzeitig ein Verlierer.