Junge Leute fragen sich:
Warum bin ich so schüchtern?
„ICH bin 21, blond, habe blaue Augen, bin 1,75 m groß, wiege 122 Pfund, und alle sagen mir, wie gut ich aussehe“, schrieb eine junge Frau in einer Leserzuschrift an eine Zeitung. Doch dann fügte sie hinzu: „Es fällt mir schwer, mit anderen zu reden. Wenn ich jemandem beim Reden in die Augen schaue, läuft mein Gesicht rot an, und der Hals ist mir wie zugeschnürt — besonders wenn ich mich mit einem Mann unterhalte. Macht mir jemand ein Kompliment, so kann ich spüren, wie ich rot werde, und ich muß in eine andere Richtung schauen. Bin ich mit einer Gruppe von Leuten zusammen, die sich miteinander unterhalten, dann sage ich nie etwas, weil meine Stimme so leise ist, daß mich sowieso keiner hört. An meiner Arbeitsstelle hat man mir schon oft nachgesagt, ich sei hochnäsig, weil ich mit keinem rede. ... Ich bin nicht hochnäsig, ich bin nur schüchtern.“
Geht es dir genauso? Jagt dein Puls, wenn du mit Fremden oder mit Autoritätspersonen zusammen bist? Spürst du, wie du rot wirst, wenn dir jemand ein Kompliment macht? Hast du Herzklopfen, wenn du einer Gruppe von Personen gegenüberstehst? Bleibt dir das Wort im Hals stecken, und fängst du spürbar an zu schwitzen?
Wenn ja, so bist du nicht allein. Eine Umfrage hat ergeben, daß 80 Prozent aller Befragten irgendwann in ihrem Leben schüchtern gewesen sind, und 40 Prozent halten sich gegenwärtig für schüchtern. Das bedeutet, daß rund die Hälfte aller Menschen, denen du begegnest, ähnlich fühlen wie du, wenigstens bis zu einem bestimmten Grad.
Schon in frühesten Zeiten hatten Menschen mit dem Problem der Schüchternheit zu kämpfen. Die Bibel berichtet, daß Moses es wegen seiner Schüchternheit ablehnte, der Nation Israel als Sprecher Gottes zu dienen, und daß er alle möglichen Ausreden gebrauchte, um seinen Auftrag nicht ausführen zu müssen (2. Mose 3:11, 13; 4:1, 10, 13). Anscheinend war auch der christliche Jünger Timotheus schüchtern und zögerte, freiheraus zu reden und von seiner Autorität Gebrauch zu machen (1. Timotheus 4:12; 2. Timotheus 1:6-8).
Fasse daher Mut! Du bist nicht unnormal, und es kann dir geholfen werden. Aber was genau ist Schüchternheit?
Was Schüchternheit ist
Schüchternheit äußert sich darin, daß man sich in Gegenwart anderer beklommen fühlt — besonders in Gegenwart von Personen, die einem unbekannt sind oder bei denen man sich nicht sicher fühlt. Dabei kann es sich um Fremde handeln, um Amtspersonen, um jemand vom anderen Geschlecht oder sogar um Leute, mit denen man täglich Umgang hat. Schüchternheit ist eine extreme Befangenheit, die man in Gegenwart anderer verspürt. Sie ist deine Reaktion auf die Art und Weise, wie du über dich selbst denkst.
Schüchternheit wirkt sich unterschiedlich aus. Einige reagieren wie die eingangs erwähnte junge Frau. Sie sind verlegen, ihr Puls erhöht sich, sie fühlen sich ganz beklommen. Sie stehen da mit gesenktem Blick und klopfendem Herzen und können nicht reden. Oder sie reden so leise, daß sie kaum zu verstehen sind. Am liebsten würden sie weglaufen. Andere werden schnell nervös. Sie verlieren die Fassung und reden fortwährend mit erhöhter Stimme. Sie mögen Dinge sagen und tun, die sie später bereuen. Wieder anderen fällt es schwer, sich zu behaupten — freiheraus zu reden und ihre Meinung zu sagen.
Für einige ist Schüchternheit ein ständiger Begleiter. Andere sind nur in bestimmten Situationen schüchtern. Doch ganz gleich, wie sich die Schüchternheit auswirkt, würden die meisten Schüchternen gern etwas dagegen tun. Geht es dir auch so?
Das Problem verstehen
Wenn du erst einmal das Problem verstehst, ist schon ein guter Anfang gemacht. „Ein Verständiger ist der, der sich geschickte Lenkung erwirbt“, heißt es in der Bibel (Sprüche 1:5). Schüchternheit beschreibt ein Verhalten, eine Reaktion auf eine Situation. Sie ist das, was du tust, nicht das, was du bist. Sie hat damit zu tun, wie du über dich denkst, mit deiner Selbstachtung. Sie ist ein Verhaltensmuster, das du erworben hast und das auf vergangenen Erlebnissen mit anderen beruht. Doch was man erworben hat, kann man auch wieder loswerden.
Schüchternheit ist nicht angeboren. Du hast lediglich den Ruf erworben, schüchtern zu sein. Deine Schüchternheit ist durch deine Erlebnisse mit anderen verstärkt worden. Du hast gelernt, dich in Übereinstimmung mit der Ansicht, du seist schüchtern, zu verhalten. Deine Schüchternheit ist somit lediglich ein Verhalten, das auf deiner Ansicht beruht, du seist irgendwie komisch und weniger wert als andere. Du bildest dir ein, andere würden schlecht über dich denken und könnten dich nicht leiden. Du bildest dir ein, andere seien besser oder normaler als du. Du bildest dir ein, alles ginge schief, wenn du versuchen würdest, zu anderen eine Beziehung aufzubauen. Und dann verhältst du dich so, als seien alle diese Annahmen richtig. Du erwartest, daß die Sache schlecht ausgeht, und oft geht sie tatsächlich schlecht aus — weil du voller Spannung bist und dich so verhältst, wie du es von dir erwartest.
Überlege einmal, was gewöhnlich im Sinn vor sich geht. Wenn du mit anderen zusammen bist, fängst du an, dir Gedanken zu machen; du fragst dich, wie sie über dich denken und wie du den Eindruck, den sie von dir haben, beeinflussen kannst. Du denkst negativ über dich — wie unangenehm alles ist, wie du aus der Situation am besten wieder herauskommst. Da du dich unsicher fühlst, sprichst du leise, wenn überhaupt. Du vermeidest es, dem anderen in die Augen zu sehen und die Initiative zu ergreifen — und all das, weil du nur an dich denkst. Du hast kein Selbstvertrauen; du bildest dir ein, du seist schlechter als andere.
Aber das bedeutet nicht, daß du tatsächlich schlechter bist als sie oder daß sie das von dir denken. Als du jünger warst, haben sich deine Schulkameraden vielleicht über dich lustig gemacht oder dich wegen deiner körperlichen Erscheinung oder deiner Persönlichkeit gehänselt. Kinder tun das. Aber jetzt hast du es mit Erwachsenen zu tun. Wertbegriffe ändern sich; man sieht dich heute mit anderen Augen an. Und wenn sich irgendwelche Erwachsenen immer noch kindisch benehmen, dann mußt du verstehen, daß in Wirklichkeit sie ein Problem haben. Die Bibel drückt das folgendermaßen aus: „Wer verächtlich über andere redet, hat keinen Verstand; der Verständige hält den Mund“ (Sprüche 11:12, Die Bibel in heutigem Deutsch). Es stimmt zwar, daß andere dich falsch beurteilen können. Aber Personen, die es wert sind, deine Freunde zu sein, werden dich nicht nach dem äußeren Anschein beurteilen. Sie werden dich vielmehr danach beurteilen, wie du wirklich bist, nach dem, was in deinem Sinn und in deinem Herzen ist.
Wie sich Schüchternheit auf dein Leben auswirkt
Wer schüchtern ist, schadet sich gewöhnlich selbst. Dadurch, daß du dich zurückziehst, nicht freiheraus redest oder so mit dir selbst beschäftigt bist, daß du anderen gar nicht die richtige Aufmerksamkeit schenkst, magst du den Eindruck erwecken, du seist hochnäsig, unfreundlich oder gelangweilt — vielleicht sogar, du seist herzlos oder schlecht erzogen. Schüchternheit kann es dir sehr erschweren, klar zu denken und dich verständlich mitzuteilen. Wenn deine Gedanken bei dir selbst verweilen, wird es dir schwerfallen, dich auf ein Gespräch mit anderen zu konzentrieren. Du achtest weniger auf das, was andere dir sagen. Und dann passiert das, was du am meisten befürchtest — du stehst dumm da. Du reagierst, indem du schweigst und dich zurückziehst. Du verschließt dich gewissermaßen hinter den Gefängnismauern der Schüchternheit und wirfst den Schlüssel weg. Der andere sieht gar nicht, wie du wirklich bist. Er erhält einen falschen Eindruck von dir und von deinen Fähigkeiten.
Wenn du sehr schüchtern bist, werden dir wahrscheinlich einige gute Gelegenheiten entgehen, die sich dir bieten, ganz zu schweigen von der Niedergeschlagenheit und dem Kummer, die sich daraus ergeben. Du magst Dinge annehmen oder Situationen akzeptieren, die dir gar nicht recht sind — nur weil du Angst hast, freiheraus zu reden und deine Meinung zu äußern. Dir entgeht auch die Freude, neue Freundschaften zu schließen oder Dinge zu tun, die das Leben bereichern. Dadurch, daß du dich nicht mitteilst und deine Fähigkeiten nicht unter Beweis stellst, mögen dir Chancen entgehen, beruflich voranzukommen. Aber auch anderen entgeht etwas. Sie lernen dich nicht kennen und verpassen daher etwas, was sie haben könnten, wenn sie mit dir engere Gemeinschaft pflegen würden.
Man sollte jedoch nicht übersehen, daß ein gewisses Maß an Schüchternheit auch seine guten Seiten hat. Sie ist verwandt mit Bescheidenheit und Demut; und ein Verhalten, das Gott erwartet und lobt, ist, daß man ‘bescheiden mit ihm wandelt’ (Micha 6:8). Es hat seine Vorteile, zurückhaltend und bescheiden und nicht anmaßend und arrogant zu erscheinen. Ein schüchterner Mensch wird oft als guter Zuhörer geschätzt.
Wir alle sind unter gewissen Umständen schüchtern. Aber wenn uns Schüchternheit hemmt und uns daran hindert, unsere Fähigkeiten voll auszuschöpfen, und sich auf unsere Gesundheit, unsere Arbeit und unsere Gefühle schädlich auswirkt, ist es Zeit, etwas zu unternehmen. Was kann man tun, um Schüchternheit zu überwinden? Das werden wir in der kommenden Ausgabe von Erwachet! behandeln.
[Kasten auf Seite 14]
Gründe für erworbene Schüchternheit
● Seelische Erschütterungen in der Kindheit; heftige Kritik
● Unrealistische Erwartungen der Eltern
● Schlechte Erfahrungen (wenn man von anderen herabgesetzt und abgestempelt wird)
● Ungewohnte oder belastende Umgebung
● Sorgen wegen Aussehen, Redefähigkeit oder Leistung
● Minderwertigkeitsgefühle; negative Selbsteinschätzung
● Mangelndes Wissen über „richtiges“ Verhalten in der Gesellschaft
● Leicht auslösbare Verlegenheit; Angst vor Menschen
● Furcht, Risiken auf sich zu nehmen; übertriebene Sorge um Sicherheit
● Überbetonung des Wettbewerbs; Drang, besser zu sein
● Die Ansicht, alles, was man sage, müsse interessant, unterhaltsam oder bedeutsam sein