Aquakultur — Fische als „lebendes Inventar“
VON UNSEREM KORRESPONDENTEN IN NORWEGEN
VOR Tausenden von Jahren legten die Chinesen und die Ägypter Süßwasserteiche an, in denen sie Fische hielten und vielleicht auch fütterten. Heute ist die Fischzucht zu einer Industrie geworden. Die Bezeichnung dafür ist Aquakultur. In der Brockhaus-Enzyklopädie wird Aquakultur als „planmäßige Bewirtschaftung und Nutzung von Wasserflächen“ definiert. Unter den richtigen Wachstumsbedingungen werden Wassertiere und Wasserpflanzen in Salzwasser oder in Süßwasser gezüchtet.
Bis heute ist die intensive Vermehrung und Aufzucht von Fischen die üblichere Form der Aquakultur. In vielen Ländern, vor allem dort, wo die Süßwassertemperaturen relativ hoch sind, ist die Aufzucht von Süßwasserfischen in Becken und Teichen weit verbreitet. Andere Länder konzentrieren sich mehr auf die Nutzung von Meeresflächen. Ein Beispiel dafür ist Norwegen. Mit einer der längsten Küsten der Welt, geeigneten Meerestemperaturen und vergleichsweise sauberem Wasser sind dort die natürlichen Bedingungen für die Fischzucht im Meer günstig. Norwegen ist ein Pionier in der Aufzucht des Atlantischen Lachses und der Forelle im Meer.
Vom Laichplatz bis zum Ladentisch
Die Produktion beginnt im Herbst in der Brutanlage. Man streift die Fischeier von den Weibchen und befruchtet sie mit Sperma von ausgewählten Männchen. Der befruchtete Rogen wird den Winter über in der Brutanlage sorgsam überwacht, bis die Larven nach sechs Monaten schlüpfen. In den ersten paar Wochen ernähren sie sich von dem Dottersack an ihrer Bauchseite; dann wird vorsichtig mit der Fütterung begonnen. Wildlachse verbringen zwei bis fünf Jahre in dem Fluß, wo sie geschlüpft sind, bevor sie zu den üppigeren Weidegründen im Meer wandern. In einer Brutanlage entwickeln sich die Fischchen in anderthalb Jahren zu Sälmlingen (wanderungsbereiten Lachsen).
Die Fische werden dann von Süßwasser in Salzwasser überführt. Meistens setzt man sie in Gehege, das heißt in Holz- oder Stahlkäfige, die im Meer schwimmen. Nach ein oder zwei Jahren in der Meeresfarm haben die Lachse die richtige Größe erreicht, so daß man sie zur Weiterverarbeitung aus dem Gehege herausholen kann. Das klingt alles sehr einfach. Doch Fische als „lebendes Inventar“ zu halten bringt eine Reihe von Schwierigkeiten mit sich.a
Biologische Rätsel und veränderliche Ansprüche
Die ersten Fischzüchter mußten ganz von vorn anfangen und sich gründliche Kenntnisse über Vermehrung, Futteransprüche und Instinkte der verschiedenen Arten aneignen. Die Zahl der ungelösten biologischen Rätsel und Unwägbarkeiten schien unendlich zu sein. Wäre es je möglich, den ständig wechselnden Ansprüchen der verschiedenen Altersstufen in bezug auf Wasserqualität, Temperatur, Nahrung und Licht gerecht zu werden?
Viele dieser Probleme sind seit langem gelöst. Eine Reihe der heutigen Forschungsprogramme befassen sich mit dem Einfluß von Faktoren wie Bewegung, Lichteinwirkung und richtige Menge und Qualität des Futters auf Wachstum und Verhalten der verschiedenen Arten.
Wasserverschmutzung und Algenbefall
Für die Fischzucht ist sauberes Wasser wichtig. Ein aus dem Gleichgewicht geratenes Ökosystem und wechselnde Verschmutzungsgrade sind daher für die Fischzuchtindustrie problematisch. Wildfische, die im Wasser Giftstoffe wahrnehmen, gehen der Gefahr möglichst aus dem Weg. Fische in Meeresfarmen können dagegen nicht aus ihren Käfigen entweichen. Ausgelaufenes Öl oder ins Meer abgelassene giftige Chemikalien können sich somit auf Fischfarmen verheerend auswirken.
Die rasante Ausbreitung giftiger Algen an der Südwestküste Schwedens und vor der Küste Südnorwegens im Jahr 1988 verursachte keinen geringen Schrecken. In weiten Bereichen brachten die Algen Fischen und anderen Meeresbewohnern den Tod. Mehrere Fischfarmen wurden geräumt, teils wegen der Algen an sich und teils wegen Notschlachtungen. Die meisten Anlagen wurden jedoch vor dem Tod durch Algen bewahrt, da die Fischzüchter die Gehege in die geschützten Fjorde schleppten. Einige bezeichneten das Desaster als „maritimes Tschernobyl“. Experten behaupteten, die Algenblüte sei höchstwahrscheinlich durch die zunehmende Wasserverschmutzung mit verursacht worden.
Fischgehege im Meer sind den verschiedensten klimatischen Bedingungen ausgesetzt und müssen Eisschollen, rauher See und Stürmen standhalten. Wenn eine Anlage beschädigt wird und die Fische davonschwimmen, verliert der Züchter wertvolles Eigentum. Davon abgesehen können entwichene Fische auf Wildfische Krankheiten übertragen, was zu großer Besorgnis Anlaß gibt. Entkommene Fische wetteifern zudem mit ihren wildlebenden Artgenossen um Nahrung und Laichplätze. Es wird befürchtet, daß sich das nachteilig auf die einheimischen Fischbestände auswirkt.
Man ist sich deshalb völlig darüber einig, daß die Meeresanlagen gegen ein Entweichen von Fischen besser gesichert werden müssen. Auf diesem Gebiet sind ebenfalls Fortschritte zu verzeichnen. In der Broschüre Aquaculture in Norway heißt es, daß in den letzten Jahren „viel erreicht [wurde], was die Sicherung von Aquakulturanlagen gegen extreme Wetterbedingungen betrifft“.
Umgang mit Krankheiten
Alles, was gegen die Natur der Fische geht oder von ihrer normalen Umgebung abweicht, verursacht bei ihnen Streß und schadet damit ihrem Immunsystem. Wegen des Zusammenwirkens mehrerer Faktoren, wie hohe Besatzdichte, intensive Fütterung, Anhäufung organischer Stoffe und erhöhte Mengen von Krankheitserregern, sind die Gesundheitsprobleme bei Zuchtfischen viel ernster als bei Wildfischen. Für die Fischindustrie hat das große Verluste mit sich gebracht.
Viele Fischkrankheiten können mit Antibiotika behandelt werden, doch der Einsatz dieser Mittel über einen längeren Zeitraum ist eine Gefahr für die Umwelt, vor allem weil dadurch resistente Bakterien herangezüchtet werden, die die Entwicklung immer neuer Medikamente erforderlich machen. Arzneimittel können die Fische auch schwächen und so für andere Krankheiten anfälliger machen. Den Fischzüchtern ist natürlich daran gelegen, diesen Teufelskreis zu durchbrechen.b
Das alte Sprichwort „Vorbeugen ist besser als heilen“ gilt somit auch für die Fischzucht. Man hat viel Mühe investiert, um mehr darüber zu erfahren, wie die natürliche Immunabwehr der Fische gestärkt werden kann. Die Forschung konzentriert sich auf optimale Fütterung, bessere Aufzuchtbedingungen und günstigere Arbeitsabläufe, auf die Züchtung besonders widerstandsfähiger Fische und die Entwicklung wirksamer Impfstoffe und Impfmethoden. Diese Arbeit hat nennenswerte Ergebnisse gezeitigt, und wie es scheint, hat die Fischzuchtindustrie im Kampf gegen Krankheiten die Oberhand gewonnen.
Eine Wachstumsbranche
Die Aquakultur ist eine typische regionale Industrie, die für eine Reihe von Küstenansiedlungen von großer Bedeutung ist. Seit ihrer Gründung hat sie ein erstaunliches Wachstum zu verzeichnen. 1990 hatte die weltweite Produktion einen Gesamtwert von über 23 Milliarden Dollar. Norwegen liefert mehr als die Hälfte des weltweiten Angebots an Zuchtlachs und exportiert Lachs in über 90 Länder rund um die Erde.
Obschon der Atlantische Lachs bis jetzt das Hauptprodukt der Meeresfarmen ist, gibt es auf dem Markt bereits in begrenzten Mengen gezüchteten Kabeljau und Heilbutt. Die Fischzuchtindustrie möchte ein verläßlicher Ganzjahreslieferant für frischen, hochwertigen Fisch werden.
Bedauerlicherweise lassen sich Menschen oft von Habgier leiten, was auch in der Fischzuchtindustrie vorgekommen ist. In manchen Fällen hat man Umweltinteressen zugunsten eines raschen Profits zurückgestellt. Fischzüchter mit einer solchen Einstellung werden sehen, wie schnell die Natur zurückschlagen kann; sie sollten sich darüber im klaren sein, daß Umweltschutz in ihrem eigenen Interesse ist. Früher oder später stellt es sich immer als das klügste heraus, mit den Ressourcen der Erde so umzugehen, wie es der Schöpfer ursprünglich beabsichtigte — mit Rücksicht auf die Natur und ihre komplizierten Ökosysteme.
[Fußnoten]
a Gestützt auf Informationen in der Broschüre Aquaculture in Norway, herausgegeben vom norwegischen Verband der Fischfarmer.
b Die norwegischen Behörden haben aus Rücksicht auf die Verbraucher strenge Vorschriften für den Einsatz von Medikamenten erlassen. Fischzüchter erhalten Arzneimittel nur über einen Veterinär, und die behandelten Fische kommen in Quarantäne, um sicherzustellen, daß alle Fische frei von Rückständen sind, ehe sie vermarktet werden.
[Bilder auf Seite 15]
Fische werden in schwimmende Gehege gesetzt
Die Fischeier werden abgestreift
Wenn die Fische die richtige Größe haben, holt man sie zur Weiterverarbeitung aus dem Gehege heraus
[Bildnachweis]
Fotos: Vidar Vassvik/Norwegian Seafood Export Council