Was ist die Ursache für Eßstörungen?
„Eine Eßstörung taucht nicht einfach aus dem Nichts auf. Sie ist ein Symptom, ein Signal, daß etwas im Leben des Betreffenden nicht stimmt“ (Nancy Kolodny, Sozialarbeiterin).
ESSSTÖRUNGEN sind nichts Neues. Anorexia nervosa wurde 1873 zum ersten Mal offiziell diagnostiziert, und die Symptome dafür sind Berichten zufolge bereits vor 300 Jahren beobachtet worden. Seit dem Zweiten Weltkrieg scheint die Zahl der Anorektiker allerdings drastisch angestiegen zu sein. Ähnlich verhält es sich mit Bulimie. Diese Krankheit ist seit Jahrhunderten bekannt, doch erst in den letzten Jahrzehnten ist sie, wie ein einschlägiges Buch erklärt, „schlagartig ins Rampenlicht getreten“.
Was verbirgt sich hinter Eßstörungen? Sind sie erblich bedingt, oder sind sie eine atypische Reaktion auf eine Kultur, die das Schlanksein verherrlicht? Welche Rolle spielt das familiäre Umfeld? Diese Fragen sind nicht leicht zu beantworten. Wie die Sozialarbeiterin Nancy Kolodny sagt, läßt sich eine Eßstörung nicht so eindeutig bestimmen, „wie sich ein medizinisches Problem diagnostizieren läßt, beispielsweise Masern oder Windpocken — Krankheiten, bei denen ein Arzt genau weiß, wo die Ursache liegt, wie man sie sich zuzieht, wie lange sie andauern und wie die beste Behandlungsmöglichkeit aussieht“.
Trotz alldem weisen Forscher auf eine Reihe Faktoren hin, die zur Entstehung einer Eßstörung beitragen können. Auf einige davon wollen wir jetzt eingehen.
Die Kultur der Schlankheit
In den wohlhabenden Ländern führt die Modeindustrie einer jungen und leicht beeinflußbaren Kundschaft spindeldürre Mannequins vor und zwingt einem Mädchen damit die Vorstellung auf: Je dünner, um so schöner. Als Folge der hierbei propagierten verdrehten Ansicht denken viele Frauen, sie müßten ein Körpergewicht anstreben, das sowohl ungesund als auch unrealistisch ist. Dr. Christine Davies bemerkt dazu: „Im Durchschnitt sind Frauen 1,65 Meter groß und wiegen 66 Kilogramm. Mannequins hingegen sind im Durchschnitt 1,80 Meter groß und wiegen 50 Kilogramm. 95 Prozent von uns können da nicht mithalten und werden es auch nie.“
Trotz dieser Tatsache gehen einige Frauen bis zum Äußersten, um die ihrer Vorstellung entsprechende Idealfigur zu erreichen. Zum Beispiel sagten 24 Prozent von 3 452 Frauen, die 1997 befragt wurden, sie wären bereit, für ihr Traumgewicht drei Jahre ihres Lebens zu opfern. Eine signifikante Minderheit erklärte bei der Umfrage: „Das Leben ist lediglich lebenswert, wenn man dünn ist.“ Da 22 Prozent der Befragten meinten, ihr Körperbild sei im Jugendlichenalter von den Models in Magazinen geprägt worden, wurde in dem Bericht der Schluß gezogen: „Es läßt sich nicht länger leugnen, daß Bilder von Models oder Mannequins in den Medien eine enorme Wirkung auf das Selbstbild der Frauen haben.“
Am empfänglichsten für das von den Medien hochstilisierte Ideal sind natürlich Menschen, die von vornherein unzufrieden mit sich sind. Die Sozialarbeiterin Ilene Fishman sagt deshalb, der springende Punkt sei Selbstachtung. So heißt es, daß Menschen, die ihr Äußeres akzeptieren, selten ein zwanghaftes Verhältnis zum Essen haben.
Essen und Gefühle
Viele Experten sagen, daß es bei einer Eßstörung um mehr geht als nur um das Essen. „Eine Eßstörung ist ein Alarmzeichen, das Ihnen mitteilt, daß Sie sich mit irgendeiner Situation in Ihrem Leben, die Sie ignorieren oder scheuen, auseinandersetzen müssen“, sagt die Sozialarbeiterin Nancy Kolodny. „Eine Eßstörung ist ein Warnsignal dafür, daß Sie bestimmte Belastungen und Frustrationen unterdrücken.“
Belastungen und Frustrationen welcher Art? Bei manchen handelt es sich vielleicht um Schwierigkeiten im familiären Bereich. Geneen Roth erinnert sich beispielsweise daran, daß in ihrer Kindheit Essen — insbesondere von Süßigkeiten — eine „Schutzreaktion auf Türenwerfen und laute Stimmen“ war. Sie sagt: „Wenn ich spürte, daß sich ein Streit zwischen meinen Eltern anbahnte, schaltete ich einfach um, so wie man ein Fernsehprogramm umschaltet, weg von dem Gefühl, meinen Eltern ausgeliefert zu sein, hin zu einer Welt, in der es nichts gab außer mich und die süßen Gaumenfreuden in meinem Mund.“
Mitunter hat eine Eßstörung noch tiefer liegende Gründe. Im New Teenage Body Book heißt es beispielsweise: „Studien zeigen, daß Personen, die ein sexuelles Trauma (durch Mißbrauch oder sexuelle Belästigung) erlitten haben, unbewußt versuchen, sich zu schützen, indem sie ihren Körper sexuell unattraktiv machen und sich auf etwas Ungefährliches wie Nahrung konzentrieren.“ Natürlich sollte man nicht voreilig den Schluß ziehen, daß jemand, der Eßstörungen hat, sexuell mißbraucht wurde.
Die Weichen für eine Eßstörung können in einem an sich harmonischen Umfeld gestellt werden. Hauptanwärter für Anorexia sind tatsächlich Mädchen, die in ihrem privaten Lebensbereich keine eigenen Entscheidungen treffen oder keine negativen Gefühle zum Ausdruck bringen dürfen. Nach außen hin fügen sie sich; aber im Innern sind sie aufgewühlt und haben das Gefühl, über ihr Leben keine Kontrolle zu haben. Da sie nicht wagen, offen zu rebellieren, konzentrieren sie sich auf den Bereich in ihrem Leben, über den sie Kontrolle haben — ihren Körper.
Allerdings muß man dazu sagen, daß nicht alle Eßstörungen die Folge familiärer Querelen oder eines sexuellen Traumas sind. Bei manchen kommt es einfach zu Eßstörungen, weil das Gewicht in der Familie ein zentrales Thema ist. Vielleicht ist ein Elternteil übergewichtig oder lebt ständig diät und vermittelt eine übervorsichtige, ja sogar ängstliche Einstellung zum Essen. Bei anderen ist das Einsetzen der Pubertät ein Grund. Die Veränderungen im Körper, die ein wesentlicher Bestandteil des Erwachsenwerdens sind, können einem Mädchen das Gefühl geben, dick zu sein — vor allem wenn es schneller heranreift als seine Altersgenossinnen. Falls ihr dieser Übergang zum Erwachsenenalter angst macht, greift sie vielleicht zu extremen Maßnahmen, um die weiblichen Rundungen zu verlieren.
Neben emotionellen Faktoren nennen einige Forscher auch physische Ursachen. Zum Beispiel weisen sie darauf hin, daß Bulimie möglicherweise ihre Ursachen im Stoffwechsel des Gehirns hat. Sie behaupten, eine Rolle spiele hierbei der Teil des Gehirns, der die Stimmungen und den Appetit regelt, und dies würde erklären, warum sich die Symptome einer Bulimikerin durch Antidepressiva bisweilen lindern ließen.
Auf jeden Fall ist es für Forscher schwierig, eine einzige Ursache für Anorexia oder Bulimie festzumachen. Aber wie kann Personen, die mit Eßstörungen zu kämpfen haben, geholfen werden?
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Anorektiker haben oft ein verzerrtes Bild von ihrem Äußeren
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Die Medien fördern die Vorstellung, daß dünn gleich schön ist