Analphabetismus — Ein weltweites Problem
Von unserem Korrespondenten in Nigeria
ALMAZ lebt in Äthiopien. Als ihre Tochter krank wurde, verschrieb der Arzt dem Kind Tropfen. Doch Almaz war nicht in der Lage, die Dosierungsangaben zu entziffern. Wieviel sollte sie ihrem Kind bloß geben, und wann? Glücklicherweise konnte ein Nachbar das Rezept lesen. Das Mädchen bekam die richtige Dosierung und wurde wieder gesund.
Ramu ist ein indischer Bauer. Als für seine Tochter die Zeit zum Heiraten gekommen war, beschloß er, bei einem Geldverleiher am Ort auf sein Land eine Hypothek aufzunehmen. Da er nicht lesen und schreiben konnte, setzte er seinen Daumenabdruck unter ein Schriftstück, das er nicht verstand. Einige Monate später stellte Ramu fest, daß es sich bei dem Dokument um einen Kaufvertrag handelte. Sein Land gehörte nun einem anderen.
Michael arbeitete auf einer großen Farm in den Vereinigten Staaten. Sein Vorarbeiter beauftragte ihn, den Rindern einen Zusatz unter das Futter zu mengen. Michael sah zwei Säcke im Stall, konnte aber die Aufschriften nicht lesen. Er nahm den verkehrten. Ein paar Tage später waren die Rinder tot. Er hatte ihnen Gift gegeben. Man entließ ihn auf der Stelle.
Der Analphabetismus — die Unfähigkeit, zu lesen und zu schreiben — kostete Michael den Job. Seinen Arbeitgeber kostete er eine Herde erstklassiger Mastrinder. Er brachte Ramu um das Land. Und Almaz hätte er ihr Kind kosten können.
Nach Angaben der UNESCO (Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur) kann mehr als ein Viertel der erwachsenen Erdbewohner — über 960 Millionen Männer und Frauen — weder lesen noch schreiben.a In den Entwicklungsländern ist jeder dritte Erwachsene Analphabet. Wie Almaz, Ramu und Michael sind diese Millionen nicht imstande, eine Zeitung, eine Passage aus der Bibel oder auch nur ein Straßenschild zu lesen. Sie haben keinen Zugang zu dem unermeßlichen Informationsschatz in Zeitschriften und Büchern. Sie können keinen Brief schreiben und kein einfaches Formular ausfüllen. Die meisten sind nicht einmal in der Lage, mit ihrem Namen zu unterschreiben. Ohne Chancen auf einen Arbeitsplatz, für den grundlegende Lese- und Schreibfertigkeiten Voraussetzung sind, finden viele auf Dauer keine Arbeit, ihre Talente bleiben ungenutzt, und sie können ihre Fähigkeiten nicht ausbauen.
In diesen Zahlen sind nicht die vielen funktionalen Analphabeten enthalten, die zwar gewisse Grundkenntnisse des Lesens und Schreibens besitzen, deren Kenntnisse aber nicht ausreichen, um den komplizierteren Lese- und Schreibanforderungen des täglichen Lebens gewachsen zu sein. Allein in den Vereinigten Staaten gibt es 27 Millionen funktionale Analphabeten.
Und was ist über die Kinder zu sagen? Die Zahlen sind zwar unvollständig, weil man nicht in allen Ländern Untersuchungen angestellt hat, doch das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen hat errechnet, daß weltweit 100 Millionen Kinder, die im Schulalter sind, nie ein Klassenzimmer betreten werden. Weitere 100 Millionen werden keine auch nur grundlegende Schulausbildung abschließen können. Nach Angaben des UNO-Sekretariats für Öffentlichkeitsarbeit erhält in den ländlichen Gebieten der dritten Welt nur die Hälfte der Kinder mehr als vier Jahre Grundschulbildung. Und in manchen Industrieländern verbringen viele Kinder weit mehr Zeit vor dem Fernseher als in der Schule.
Kinder, die nicht lesen und schreiben können, lernen es im allgemeinen auch nicht als Erwachsene. Wodurch wird dieses weltweite Problem verursacht? Wie kann man einem erwachsenen Analphabeten helfen? Diese Fragen werden in dem folgenden Artikel untersucht.
[Fußnote]
a Analphabeten sind nach der Definition der UNESCO Personen ab 15 Jahren, die weder mit dem richtigen Verständnis lesen noch eine kurze, einfache Aussage über ihr Leben aufschreiben können.
[Bild auf Seite 3]
Mehr als ein Viertel der erwachsenen Erdbewohner kann weder lesen noch schreiben