Was Pflegende tun können
„ICH habe schon immer gestaunt, wie unterschiedlich ... [Menschen] Schwierigkeiten bewältigen“, sagt Margaret, eine Ärztin in Australien, die seit vielen Jahren mit Alzheimer-Patienten und ihren Betreuern zu tun hat. „Manche Familien werden mit den unglaublichsten Belastungen fertig“, führt sie weiter aus, „während sich andere schon bei der leisesten Persönlichkeitsveränderung des Kranken überfordert fühlen“ (aus dem Buch When I Grow Too Old to Dream).
Was macht den Unterschied aus? Ein Faktor kann die Qualität der Beziehung vor Krankheitsausbruch sein. Familien mit einer engen, liebevollen Beziehung fällt es unter Umständen leichter, die Lage zu meistern. Wird der Alzheimer-Kranke gut gepflegt, kommt man außerdem mit der Krankheit oft besser zurecht.
Trotz intellektueller Einbußen sprechen die Betroffenen meist bis ins Endstadium der Krankheit auf Liebe und zärtliche Zuwendung an. „Worte sind nicht das einzige Kommunikationsmittel“, heißt es ausdrücklich in dem Informationsblatt Communication von der Londoner Alzheimer-Gesellschaft. Zu der für Betreuer wichtigen nichtverbalen Kommunikation gehören ein freundlicher, liebevoller Gesichtsausdruck und ein sanfter Tonfall. Von Bedeutung ist außerdem Augenkontakt und eine klare, ruhige Sprechweise, wobei der Name des Kranken häufig genannt wird.
„Die Kommunikation mit dem Angehörigen aufrechtzuerhalten ist nicht nur möglich, sondern auch wichtig“, sagt Kathy, die schon im vorhergehenden Artikel zu Wort kam. „Liebevoller Körperkontakt, eine sanfte Stimme, ja allein schon, daß man um den Kranken herum ist, all das gibt ihm ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit.“ Die Londoner Alzheimer-Gesellschaft faßt die erwähnten Punkte wie folgt zusammen: „Zuneigung kann die Verbundenheit stärken, vor allem wenn es zunehmend schwieriger wird, sich zu unterhalten. Die Hand des Betroffenen zu halten, den Arm um ihn zu legen, ihm besänftigend zuzureden oder ihn zu umarmen sind Möglichkeiten, ihm zu zeigen, daß man weiter für ihn da ist.“
Besteht ein liebevolles Verhältnis, können Betreuer und Pflegebedürftiger oft herzlich miteinander lachen — auch über Fehlhandlungen. Ein Ehemann erinnert sich zum Beispiel, daß seine verwirrte Frau beim Bettenmachen die Decke aus Versehen unter das Laken legte. Beim Zubettgehen entdeckten sie den Irrtum. „Na, so was!“ meinte sie. „Ich bin doch dumm.“ Und sie brachen beide in schallendes Gelächter aus.
Das Leben unkompliziert gestalten
In der vertrauten Umgebung kommen Alzheimer-Kranke am besten zurecht. Sie brauchen auch einen geregelten Tagesablauf. Dabei ist ein großer Kalender mit deutlich vermerkten Terminen eine große Hilfe. „Jemand aus der gewohnten Umgebung zu reißen“, erklärt Dr. Gerry Bennett, „kann furchtbare Folgen haben. Für Verwirrte ist ein gleichbleibender Rhythmus äußerst wichtig.“
Im weiteren Verlauf der Krankheit fällt es Alzheimer-Kranken immer schwerer, Anweisungen zu befolgen. Hinweise müssen einfach und verständlich gegeben werden. Die Aufforderung, sich anzuziehen, kann für den Dementen zu kompliziert sein. Unter Umständen muß man die Kleidungsstücke in der richtigen Reihenfolge hinlegen und dem Kranken nacheinander bei jedem Kleidungsstück helfen.
Aktiv bleiben
Manche Alzheimer-Kranke gehen ständig auf und ab oder laufen weg und verirren sich. Laufen ist gut für den Patienten, es vermindert möglicherweise die Ruhelosigkeit und fördert einen guten Schlaf. Weglaufen dagegen kann gefährlich sein. In dem Buch Alzheimer’s—Caring for Your Loved One, Caring for Yourself heißt es dazu: „Ist Ihr Angehöriger weggelaufen, sehen Sie sich mit einer Notsituation konfrontiert, die sich leicht zu einer Tragödie wenden kann. Der Satz, den Sie sich vor Augen halten sollten, lautet: Nicht in Panik geraten. ... Suchtrupps brauchen eine Beschreibung des Vermißten. Sorgen Sie dafür, daß Sie ein paar neuere Farbfotos zu Hause haben.“a
Andere Demente hingegen werden lethargisch und wollen den ganzen Tag nur dasitzen. Man kann versuchen, den Kranken zu einer Tätigkeit zu animieren, die sowohl ihm als auch einem selbst Spaß macht, beispielsweise singen, pfeifen oder ein Musikinstrument spielen. Einigen bereitet es Freude, zu ihrer Lieblingsmusik zu klatschen, sich zu bewegen oder zu tanzen. Dr. Carmel Sheridan sagt: „Am erfolgversprechendsten bei Alzheimer-Kranken sind Aktivitäten, die mit Musik zu tun haben. Oft erzählen Familien, daß ihr Angehöriger, lange nachdem er mit anderen ... [Dingen] nichts mehr anfangen kann, immer noch an altvertrauten Liedern und Melodien Freude hat.“
„Ich wollte es tun“
Eine Südafrikanerin, deren Mann die Alzheimer-Krankheit im Endstadium hatte, fand es schön, jeden Tag zu ihm ins Pflegeheim zu gehen und bei ihm zu sein. Allerdings wurde sie von wohlmeinenden Angehörigen deswegen kritisiert. Wahrscheinlich dachten sie, sie würde ihre Zeit verschwenden, weil ihr Mann sie anscheinend nicht mehr erkannte und nie ein Wort herausbrachte. „Trotzdem wollte ich bei ihm sitzen“, sagte sie nach seinem Tod. „Das Pflegepersonal hatte viel zu tun, und so konnte ich ihn selbst waschen und umziehen, wenn er sich schmutzig gemacht hatte. Ich habe es gern gemacht. Ich wollte es tun. Einmal stieß er sich den Fuß, als ich ihn in einem Rollstuhl schob. Ich fragte: ‚Tut es weh?‘, und er antwortete: ‚Natürlich!‘ Da merkte ich, daß er immer noch etwas fühlte und sprechen konnte.“
Selbst in Fällen, wo vor Krankheitsausbruch keine gute familiäre Beziehung existierte, sind Betreuer mit der Situation klargekommen.b Schon das Bewußtsein, das Richtige zu tun und Gott zu erfreuen, kann einem tiefe Befriedigung geben. Die Bibel sagt: ‘Nimm Rücksicht auf einen alten Mann.’ Und: „Verachte nicht deine Mutter, nur weil sie alt geworden ist“ (3. Mose 19:32; Sprüche 23:22). Außerdem wird Christen geboten: „Wenn ... irgendeine Witwe Kinder oder Enkel hat, so laß diese zuerst lernen, in ihrem eigenen Hause Gottergebenheit zu pflegen und ihren Eltern und Großeltern beständig eine gebührende Vergütung zu erstatten, denn das ist in Gottes Augen annehmbar. Bestimmt hat jemand, der für die Seinigen und besonders für seine Hausgenossen nicht sorgt, den Glauben verleugnet und ist schlimmer als ein Ungläubiger“ (1. Timotheus 5:4, 8).
Mit der Hilfe Gottes sind viele imstande, bei der Pflege von kranken Angehörigen, zu denen auch Alzheimer-Kranke gehören, Anerkennenswertes zu leisten.
[Fußnoten]
a Einige Betreuer achten darauf, daß der Kranke ein Armband, eine Halskette oder Ähnliches mit Namen und Adresse trägt.
b Zusätzliche Informationen darüber, was bei der Pflege zu beachten ist und wie andere helfen können, gibt die Serie „Liebevolle Pflege — Eine große Aufgabe“ im Erwachet! vom 8. Februar 1997, Seite 3—13.
[Kasten auf Seite 11]
Alzheimer und Medikamente
ZUR Zeit werden zwar an die 200 Therapien für Alzheimer erprobt, doch eine Heilung gibt es bislang nicht. Einige Medikamente sollen im Frühstadium den Gedächtnisabbau eine Zeitlang verringern und in Einzelfällen das Fortschreiten der Krankheit verzögern. Allerdings ist Vorsicht geboten, weil diese Mittel nicht bei allen Patienten wirken und zum Teil sogar schaden können. Andere Medikamente werden manchmal bei Beschwerden eingesetzt, die mit Alzheimer einhergehen, etwa Depressionen, Angstzustände und Schlaflosigkeit. In Absprache mit dem behandelnden Arzt kann die Familie des Erkrankten die Vorteile gegen die Risiken abwägen, ehe sie eine Entscheidung trifft.
[Kasten auf Seite 11]
Wie Besucher helfen können
WEGEN der geistigen Leistungseinbußen sind Alzheimer-Kranke in der Regel nicht zu tiefgründigen Gesprächen über aktuelle Ereignisse fähig. Bei Unterhaltungen über die Vergangenheit sieht es jedoch oft anders aus. Das Langzeitgedächtnis mag besonders im Anfangsstadium noch relativ intakt sein. Viele Demente schwelgen gern in Erinnerungen. Deshalb sollte man sie ruhig auffordern, ihre Lieblingsgeschichten zu erzählen, selbst wenn man sie schon etliche Male gehört hat. So trägt man zum Glück des Kranken bei. Gleichzeitig gönnt man dadurch dem regulären Betreuer eventuell eine dringend benötigte Verschnaufpause. Eine große Entlastung wäre es auch, anzubieten, den Patienten für eine gewisse Zeit, vielleicht einen ganzen Tag, zu versorgen.
[Kasten auf Seite 12]
Mit Inkontinenz zurechtkommen
OBSCHON Inkontinenz „die Belastung ins Unerträgliche zu steigern scheint“, so das Informationsblatt Incontinence, „läßt sich doch einiges tun, um das eigentliche Problem oder den damit verbundenen Streß zu mindern“. Dabei muß man bedenken, daß der Kranke nicht unbedingt auf Dauer inkontinent ist. Vielleicht war er plötzlich verwirrt oder hat es nicht zur Toilette geschafft. Möglicherweise hat er auch ein behandelbares Leiden, das vorübergehend Inkontinenz verursacht, und man müßte deswegen einen Arzt aufsuchen.
Wie auch immer, mit Inkontinenz läßt sich viel leichter umgehen, wenn der Kranke Oberbekleidung trägt, die man problemlos an- und ausziehen kann, sowie Spezialhöschen. Eine Hilfe sind auch Schutzauflagen für Betten und Stühle. Hautreizungen oder Wundsein läßt sich dadurch vermeiden, daß man Kunststoff nicht mit der Haut des Kranken in Berührung kommen läßt. Außerdem sollte man ihn gründlich mit warmem Wasser und Seife waschen und gut abtrocknen, bevor man ihn wieder anzieht. Alles was ihn hindern könnte, die Toilette schnell und sicher zu erreichen, räumt man am besten aus dem Weg. Eine Nachtbeleuchtung kann ihm helfen, den Weg auch nachts zu finden. Da der Kranke in diesem Stadium wahrscheinlich unsicher ist, wird ihm ein in der richtigen Höhe angebrachter Haltegriff die Angst beim Gang zur Toilette nehmen.
„Eine Portion Humor kann die Situation entschärfen“, rät die Londoner Alzheimer-Gesellschaft. Wie ist es dem Pflegenden möglich, den Herausforderungen gewachsen zu sein? Eine erfahrene Pflegekraft zählt folgendes auf: „Geduld, Freundlichkeit, Güte und die Art stillschweigender Höflichkeit, die dem Kranken jederzeit seine Würde läßt, ohne Angst vor Peinlichkeit oder Schamgefühlen.“
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Ist ein Umzug angeraten?
BEDINGT durch den sich verschlechternden Zustand des Alzheimer-Kranken kann ein Umzug zu einem Angehörigen oder in ein Pflegeheim leider unumgänglich sein. Doch bevor man sich dazu entschließt, ihn aus seiner vertrauten Umgebung zu reißen, sollte man einige wichtige Faktoren überdenken.
Die Folge eines Umzugs kann völlige Orientierungslosigkeit sein. Dr. Gerry Bennett führt als Beispiel eine Patientin an, die oft auf Wanderschaft ging und sich hin und wieder verlief. In ihrer Wohnung kam sie allerdings noch zurecht. Ihre Angehörigen wollten jedoch, daß sie in ein Apartment in ihrer Nähe zog, damit sie besser auf sie achten konnten.
„Bedauerlicherweise akzeptierte sie die neue Wohnung nie als ihr Zuhause“, berichtet Dr. Bennett. „Sie lebte sich nicht ein und wurde tatsächlich wesentlich abhängiger, weil sie sich in ihrer neuen Umgebung nicht zurechtfand. Die Küche war ihr fremd, und sie konnte sich den neuen Weg zur Toilette nicht merken und wurde inkontinent. Was gut gemeint war, entwickelte sich zu einem Desaster, und am Ende stand die Unterbringung in einem Pflegeheim“ (Alzheimer’s Disease and Other Confusional States).
Was aber, wenn es keine Alternative zu einem Umzug in ein Heim zu geben scheint? Dieser Entschluß fällt sicherlich nicht leicht. Man sagt, daß es sich dabei um eine der Entscheidungen handelt, die „die meisten Schuldgefühle hervorrufen“, weil die Betreuer oft denken, sie hätten versagt und ihren Angehörigen im Stich gelassen.
„Dies ist eine normale Reaktion, aber das Schuldbewußtsein ist unnötig“, sagt eine Altenpflegerin, die langjährige Erfahrung im Umgang mit Alzheimer-Kranken hat. Warum? „Weil die wichtigste Überlegung die Versorgung und die Sicherheit ... [des Dementen] sein müßte.“ Dr. Oliver und Dr. Bock pflichten dem bei: „Sich einzugestehen, daß die eigenen emotionellen Reserven aufgebraucht sind und daß die Krankheit bis zu einem Punkt fortgeschritten ist, wo häusliche Pflege nicht mehr möglich ist, ist wahrscheinlich am schwersten.“ Doch manche Betreuer kommen nach dem Abwägen aller Faktoren in ihrer speziellen Situation sehr wohl zu dem Schluß, daß „die Unterbringung in einem Pflegeheim ... im besten Interesse des Kranken ist“ (Coping With Alzheimer’s: A Caregiver’s Emotional Survival Guide).
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Man sollte dem Kranken das Gefühl geben, integriert und auf dem laufenden zu sein