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  • Der Holocaust — Die vergessenen Opfer
    Erwachet! 1989 | 8. April
    • Der Holocaust — Die vergessenen Opfer

      „Zufolge der Völkermordpolitik der Nazis kamen etwa genausoviel polnische Nichtjuden wie Juden um, wodurch sie zu Mitopfern in einem ‚vergessenen Holocaust‘ wurden“ („The Forgotten Holocaust“ [Der vergessene Holocaust] von Richard C. Lukas)

      HOLOCAUST — Was ist das? Gemäß einigen Nachschlagewerken ist es der Völkermord an den europäischen Juden durch die Nationalsozialisten während des 2. Weltkrieges. Man könnte leicht denken, daß nur Juden unter den Nationalsozialisten gelitten hätten und umgekommen seien. Wäre es jedoch gerecht und die volle Wahrheit, wenn man den Begriff „Holocaust“ nur in Verbindung mit den jüdischen Opfern der NS-Ära gebrauchen würde?

      Richard Lukas erklärt: „Unter ‚Holocaust‘ verstehen die meisten die von den Deutschen verursachte Tragödie der Juden während des 2. Weltkrieges. Aus psychologischer Sicht ist es verständlich, weshalb Juden heutzutage den Begriff gern ausschließlich auf das anwenden, was mit den Juden geschah ... Doch indem man andere ausklammert, werden häufig die Greueltaten der Nazis an Polen, anderen Slawen und an Zigeunern ignoriert, wenn nicht sogar vergessen.“

      „Für sie [die Historiker] ist der Holocaust“, wie Lukas ausführt, „etwas, was nur die Juden betraf. Daher haben sie wenig oder gar nichts über die neun Millionen Nichtjuden einschließlich der drei Millionen [nichtjüdischen] Polen zu sagen, die ebenfalls in der größten Tragödie umkamen, die die Welt je gesehen hat.“

      Hitlers Gier nach Lebensraum

      Als Hitlers Armeen im September 1939 in Polen einmarschierten, hatten sie den Auftrag, Hitlers Politik der Lebensraumgewinnung für das deutsche Volk in die Tat umzusetzen. Lukas sagt: „Für die Nazis waren die Polen Untermenschen, die Land besetzt hielten, das Teil des Lebensraumes war, den die überlegene deutsche Rasse begehrte.“ So beauftragte Hitler seine Truppen, alle Männer, Frauen und Kinder polnischer Abstammung oder Sprache ohne Gnade oder Mitleid zu töten, da nur so der benötigte Lebensraum zu beschaffen sei.

      Mit dem September 1939 begannen die unbarmherzigen Greueltaten am polnischen Volk. Hitler betonte, der Krieg sei ein Vernichtungskrieg; und sein Handlanger Heinrich Himmler erklärte, daß alle Polen von der Erde verschwinden würden; es sei für das große deutsche Volk notwendig, die Vernichtung aller Polen als vorrangige Aufgabe zu betrachten. Der Holocaust zielte also nicht nur auf die polnischen Juden ab, sondern auf alle Polen.

      „Alle besetzten Länder wurden terrorisiert. ... Aber in Polen hatte jeder unter dieser Brutalität zu leiden, und Massenhinrichtungen nach dem Prinzip der Gemeinschaftsschuld gab es hier weit häufiger, da jeder Pole ungeachtet seines Alters, Geschlechts oder Gesundheitszustandes Angehöriger einer verdammten Nation war — verdammt von den Führern der Partei und der Regierung“, schreibt Catherine Leach, die das Buch Values and Violence in Auschwitz aus dem Polnischen ins Englische übertragen hat. Himmler betrachtete, wie sie sagt, die Polen als eine niedere Rasse, die in Sklaverei zu halten sei.

      „Selbst nach der Unterwerfung Polens [28. September 1939] nahm die Wehrmacht weiterhin Hitlers Auftrag vom 22. August 1939, alle Männer, Frauen und Kinder polnischer Abstammung oder Sprache ohne Gnade oder Mitleid zu töten, ernst.“ Wie konnte die deutsche Armee und die SS zu einem solch erbarmungslosen Morden bewogen werden? Ihnen war immer wieder die Lehre von der Überlegenheit der „arischen Rasse“ und der Unterlegenheit aller anderen eingetrichtert worden. Lukas schreibt daher in dem Werk The Forgotten Holocaust: „Die NS-Theorie bezüglich der Kolonialherrschaft über Polen basierte darauf, daß den Polen, die Hitler nach den Juden am meisten haßte, abgesprochen wurde, Menschen zu sein.“

      „Umsiedlungspolitik“

      Im Vorwort der englischen Ausgabe des Buches Kommandant in Auschwitz schrieb Lord Russell of Liverpool: „Während des Krieges wurden von den Deutschen wahrscheinlich nicht weniger als zwölf Millionen Männer, Frauen und Kinder aus den überfallenen und besetzten Gebieten getötet; von diesen kamen nach vorsichtigen Schätzungen acht Millionen in Konzentrationslagern um. Unter den Ermordeten waren mindestens fünf Millionen Juden. ... Die wirklichen Zahlen werden jedoch immer unbekannt bleiben.“ Allein aus den vorliegenden Zahlen geht hervor, daß mindestens sieben Millionen Opfer keine Juden waren.

      Ein weiteres Zeugnis liefert Catherine Leach: „Polen war das erste Land, das der ‚Umsiedlungspolitik‘ Hitlers unterworfen wurde, deren Ziel es war, die riesigen Gebiete ‚im Osten‘ für die deutsche Neubesiedlung vorzubereiten. Polen erlitt von allen besetzten Ländern den größten Verlust an Menschenleben — 220 von 1 000 Einwohnern. Gemäß polnischen Quellen verloren nicht weniger als 6 028 000 Polen ... ihr Leben.“ Von diesen waren 3 200 000 Juden. Das bedeutet, daß fast 50 Prozent der getöteten Polen Nichtjuden waren.

      Ohne Zweifel gab es einen „vergessenen Holocaust“, dem Millionen von Nichtjuden — insbesondere Slawen — zum Opfer fielen. Eingeschlossen darin sind die Millionen Russen, die von den Nationalsozialisten abgeschlachtet wurden. Diesen Russen blieb keine Wahl; aufgrund der NS-Rassenlehre waren sie unausweichlich zum Tode verdammt.

      In diesen Statistiken wird jedoch versäumt, die Tausende von nichtjüdischen Deutschen zu erwähnen, die ebenfalls als Opfer des Holocaust litten, weil sie es gewagt hatten, sich Hitler und seiner Rassenphilosophie zu widersetzen. Unter ihnen befanden sich Tausende Zeugen Jehovas, die es ablehnten, die militärischen Absichten Hitlers zu unterstützen. Ja, über Deutschland und die besetzten Gebiete verstreut, gab es Tausende, die bewußt eine Entscheidung trafen, die für viele das Konzentrationslager und den Tod als Märtyrer bedeutete.

      Die sich daraus ergebende Frage lautet: Welcher Unterschied bestand zwischen den Opfern des Holocaust und den Märtyrern?

      [Karte/Bilder auf Seite 10]

      (Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)

      Einige der Konzentrations- und Vernichtungslager der Nationalsozialisten in Europa. Zusätzlich gab es 165 Arbeitslager.

      ATLANTIK

      LETTLAND

      Riga

      LITAUEN

      Kauen

      OSTPREUSSEN

      POLEN

      Stutthof

      Treblinka

      Kulmhof (Chelmno)

      Sobibor

      Lublin

      Skarzisko-Kamienno

      Majdanek

      Plaszów

      Belźec

      Auschwitz

      DEUTSCHLAND

      Papenburg

      Neuengamme

      Bergen-Belsen

      Ravensbrück

      Sachsenhausen

      Oranienburg

      Lichtenberg

      Mittelbau-Dora

      Torgau

      Buchenwald

      Groß-Rosen

      Ohrdruf

      Flossenbürg

      Dachau

      Landsberg

      NIEDERL.

      Westerbork

      Herzogenbusch-Vught

      BELG.

      LUX.

      FRANKREICH

      Natzweiler-Struthof

      SCHWEIZ

      ITALIEN

      ÖSTERREICH

      Mauthausen

      Sachsenburg

      TSCHECHOSLOWAKEI

      Theresienstadt

      [Bild]

      Hitler erklärte: „Dieser Krieg ist ein Vernichtungskrieg“, und er gab den Befehl, „alle Männer, Frauen und Kinder polnischer Abstammung oder Sprache ohne Gnade oder Mitleid“ zu töten

      [Bildnachweis]

      Foto: Kongreßbibliothek

      [Bild]

      Himmler verkündete: „Alle Polen werden von der Erde verschwinden!“

      [Bildnachweis]

      UPI/Bettmann Newsphotos

  • Der Holocaust — Opfer oder Märtyrer?
    Erwachet! 1989 | 8. April
    • Der Holocaust — Opfer oder Märtyrer?

      WARUM muß man zwischen Opfern und Märtyrern unterscheiden? Weil alle, die unter dem Holocaust litten, Opfer waren, aber nur eine Minderheit Märtyrer im eigentlichen Sinne. Wo liegt der Unterschied?

      Ein Opfer ist gemäß dem Deutschen Universalwörterbuch (Duden) „jmd., der durch jmdn., etw. umkommt, Schaden erleidet“. Opfer haben größtenteils keine Wahl.

      Ein Märtyrer ist „jmd., der um des ... Glaubens willen Verfolgung, schweres körperliches Leid, den Tod auf sich nimmt“, „jmd., der sich für seine Überzeugung opfert“. Ein Opfer leidet also zumeist unfreiwillig, ein Märtyrer hingegen freiwillig.

      Drei Arten von Opfern

      Bei einem Treffen nichtjüdischer NS-Opfer ordnete Dr. Gordon Zahn von der Staatsuniversität von Massachusetts die NS-Opfer in drei Gruppen ein gemäß dem, was für ihre Leiden ausschlaggebend war: 1. das, was sie waren (Juden, Slawen, Zigeuner); 2. das, was sie getan hatten (Homosexuelle, politische Aktivisten, Widerstandskämpfer); und 3. das, was sie abgelehnt hatten zu tun (Kriegsdienstverweigerer, Zeugen Jehovas und andere).

      Millionen Juden litten und starben, nur weil sie zum jüdischen Volk gehörten. Hitlers Handlangern war es völlig gleichgültig, ob es sich um strenggläubige oder um ungläubige Juden handelte — sie waren auf jeden Fall zur Vernichtung oder „Endlösung“ verdammt, wie Hitlers Vorhaben, Europa von den Juden zu „befreien“, genannt wurde. Ebenso waren die Slawen — bei Hitlers Feldzug hauptsächlich Polen, Russen und Ukrainer — allein wegen ihrer Zugehörigkeit zur slawischen Rasse verdammt, die im Vergleich mit der „überlegenen arischen Rasse“ als minderwertig galt.

      Aber mit den Zeugen Jehovas in Europa verhielt es sich anders. Sie kamen aus den verschiedensten Nationen, doch man betrachtete sie fälschlicherweise als eine Gefahr für das NS-Regime in Deutschland, weil sie für die christliche Neutralität einstanden und es ablehnten, in die Kriegsbemühungen irgendeiner Nation mit einbezogen zu werden. Hitler nannte sie eine „Brut“, die es auszurotten gelte. Wie groß war diese „Brut“? Und wurde sie ausgerottet?

      „Kleine Sekte“ — Bedrohung für Nationalsozialisten

      Bei dem obenerwähnten Treffen unterbreitete Dr. Christine King einige Fakten über die Zeugen in NS-Deutschland: „Daß diese kleine Sekte mit 20 000 Anhängern die Aufmerksamkeit der Machthaber in einem Land auf sich zog, in dem von 65 Millionen Einwohnern 20 Millionen Katholiken und 40 Millionen Protestanten waren, überrascht auf den ersten Blick. Doch wenn man an ihre starken amerikanischen Verbindungen, ihre internationalen Bestrebungen und ihre erkennbaren kommunistischen und zionistischen Sympathien denkt, wird einem klar, daß sie nicht toleriert werden konnten.“ Jehovas Zeugen waren natürlich weder Kommunisten noch Zionisten, sondern sie waren in Fragen der Politik und Rassen neutral. Aber das begriffen die Nationalsozialisten nicht.

      Die NS-Aktionen gegen die Zeugen begannen, sobald Hitler 1933 an die Macht gekommen war. Nachdem er 1934 Protesttelegramme von Zeugen aus der ganzen Welt erhalten hatte, schrie er in einem Wutausbruch: „Diese Brut wird aus Deutschland ausgerottet werden!“ Die Verfolgung verschärfte sich drastisch.

      In dem Buch Anatomie des SS-Staates schreibt Martin Broszat: „Eine weitere Kategorie von Schutzhaftgefangenen, die seit 1935 eine nicht unerhebliche Gruppe in den Konzentrationslagern darstellte, rekrutierte sich aus Angehörigen der ‚Internationalen Vereinigung der Ernsten Bibelforscher‘ (Zeugen Jehovas). Die Organisation ... war schon 1933 im Dritten Reich aufgelöst und jede Werbung und Propaganda für die Zeugen Jehovas gesetzlich verboten worden, weil man hierin vor allem eine Form der Wehrkraftzersetzung erblickte.“

      „Im Februar 1936 erging die Weisung, alle ehemaligen Führer der Internationalen Bibelforschervereinigung (IBV) ‚bis zu 2 Monaten‘ in Schutzhaft zu nehmen. Mitte Mai 1937 kam es zu einer weiteren Verschärfung. Die Gestapo ordnete an: ‚Jede Person, die in irgendeiner Form die Bestrebungen der illegalen I. B. V. oder den Zusammenhalt ihrer Anhänger fördert, ist in Schutzhaft zu nehmen und unverzüglich dem Gericht zum Erlaß eines richterlichen Haftbefehls vorzuführen.‘“ In den meisten Fällen führte die „Schutzhaft“ in ein Konzentrationslager.

      Broszat bemerkt außerdem: „In Dachau bestand 1937/38 die weit überwiegende Mehrzahl der Gefangenen aus politischen Häftlingen, in Sachsenhausen dagegen stand diesen bereits damals eine wohl ebenso große Zahl von sogenannten Asozialen, Homosexuellen, Bibelforschern, Gewohnheitsverbrechern gegenüber.“

      Der 2. Weltkrieg und die Neutralität

      Die Situation der Zeugen verschlimmerte sich, als 1939 der Krieg zwischen Deutschland und den Alliierten ausbrach. Was geschah?

      Der 23jährige August Dickmann aus Dinslaken war einer der etwa 600 Zeugen, die 1939 in Sachsenhausen inhaftiert waren.a Als im September der Krieg begann, sah der Lagerkommandant Baranowsky seine Chance gekommen, den Willen der Zeugen zu brechen. August lehnte es ab, den Wehrpaß zu unterschreiben, worauf Baranowsky bei Himmler um die Erlaubnis nachsuchte, den jungen Dickmann vor den Augen aller Häftlinge hinzurichten. Er war sich sicher, daß viele Zeugen ihrem Glauben abschwören würden, wenn sie Augenzeugen einer Hinrichtung würden. August Dickmann wurde von drei SS-Leuten von hinten erschossen, und ein SS-Offizier schoß ihm als Gnadenschuß noch eine Kugel durch den Kopf.

      Gustav Auschner, ein Augenzeuge, berichtete: „Dickmann wurde erschossen, und uns wurde gesagt, daß wir alle erschossen würden, wenn wir nicht unterschrieben. Wir würden zu je 30 bis 40 Mann in die Sandgrube geführt und erschossen. Am andern Morgen kam die SS und brachte für jeden einen Zettel zum Unterschreiben mit, andernfalls würden wir erschossen. Mit langen Gesichtern mußten sie wieder abziehen, da keiner unterschrieb. ... Durch die öffentliche Erschießung wollten sie uns Angst einjagen. Wir fürchteten Jehova mehr als ihre Kugeln, und so erschossen sie keinen mehr öffentlich.“

      Eine ähnliche Situation ergab sich am 6. September 1939 im Lager Buchenwald. Der Erste Lagerführer, Rödl, erklärte den Zeugen: „Wenn einer sich weigert, gegen Frankreich oder England zu kämpfen, dann müßt ihr sterben!“ Es war eine Stunde der Prüfung. Zwei Kompanien SS-Truppen in voller Ausrüstung standen am Tor. Doch „nicht ein einziger Bibelforscher erklärte sich auf die Anfrage des Lagerführers hin bereit, für Deutschland zu kämpfen. Nach einer Weile Schweigen kam plötzlich der Befehl: ‚Hände hoch! Taschen ausleeren!‘“ So der Bericht in Eugen Kogons Buch Der SS-Staat. Wurden sie erschossen? Nein, die SS-Leute fielen über sie her und raubten sie aus, und man schickte sie in den gefürchteten Steinbruch. Auch gab es für sie keine Revierbehandlung mehr.

      Dr. Christine King führte aus: „Die Zeugen konnten — zur Verwunderung der Nazis — nicht ausgerottet werden. Je härter sie bedrängt wurden, desto fester war ihr Zusammenhalt, der sie in ihrem Widerstand hart wie Diamant werden ließ. Hitler schleuderte sie in eine Endzeitschlacht, in der sie ihren Glauben bewahrten. Mit ihren lila Dreiecken (Kennzeichen) bildeten sie in den Lagern ein starkes Netz; ihre Erfahrungen sind für alle, die studieren, wie man unter extremem Druck überleben kann, wertvolles Material. Denn sie überlebten.“

      Anna Pawełczyńska, die Auschwitz überlebte, schrieb in ihrem Buch Values and Violence in Auschwitz: „Im Verhältnis zu der großen Menschenmenge in Auschwitz bildeten Jehovas Zeugen nur eine kleine, unauffällige Gruppe ... Doch die [lila] Farbe ihrer dreieckigen Markierungen stach im Lager so hervor, daß ihre geringe Anzahl in keinem Verhältnis zu ihrer wirklichen Stärke stand. Diese kleine Gruppe von Häftlingen bildete eine geschlossene ideologische Kraft, die in ihrem Kampf gegen den Nazismus den Sieg davontrug. Die deutsche Gruppe dieser Sekte war eine winzige Insel unbeugsamen Widerstandes inmitten einer terrorisierten Nation gewesen, und mit derselben Unerschrockenheit traten sie auch im Lager Auschwitz auf.“ Weiter heißt es: „Jeder wußte, daß kein Zeuge Jehovas einen Befehl ausführen würde, der seiner religiösen Überzeugung widersprach.“

      Ein hervorragendes Beispiel hierfür ist die Familie Kusserow aus Bad Lippspringe. Franz und Hilda hatten eine große Familie mit 11 Kindern, 6 Jungen und 5 Mädchen. Unter der NS-Herrschaft kamen 12 der 13 Familienglieder in Gefängnisse oder KZs; man hatte sie zu insgesamt 65 Jahren verurteilt. 1940 wurde Wilhelm im Alter von 25 Jahren wegen Wehrdienstverweigerung erschossen. Zwei Jahre später wurde sein Bruder Wolfgang mit 20 Jahren aus dem gleichen Grund im Zuchthaus von Brandenburg enthauptet. Ihr Bruder Karl-Heinz starb 1946 mit 28 Jahren an Tuberkulose, nachdem er krank aus Dachau zurückgekehrt war. Die Eltern und die Töchter waren alle einige Zeit in Gefängnissen und KZs inhaftiert. (Ein ausführlicher Bericht über diese bemerkenswerte Familie von Märtyrern ist im Wachtturm vom 1. September 1985 auf den Seiten 10—15 zu finden.)

      Eugen Kogon gibt in seinem Buch Der SS-Staat folgenden Kommentar: „Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die SS psychologisch mit dem Problem der Bibelforscher nicht ganz fertig wurde.“

      Wenn diese kleine Gruppe christlicher Zeugen, gestützt auf ihren biblisch begründeten Glauben, gegen Hitler standhalten konnte, drängt sich einem die Frage auf, warum die Millionen Protestanten und Katholiken diesbezüglich versagt haben. Wo war die klare, eindeutige religiöse Führung und Anleitung in christlichen Grundsätzen, die 60 Millionen Deutsche davon zurückgehalten hätte, den Nationalsozialismus zu unterstützen? (Siehe Kasten auf Seite 13.)

      Was hielt sie aufrecht?

      In seinem Buch The Drowned and the Saved erklärt Primo Levi: „Die [religiös und politisch] Gläubigen überstanden die tägliche Schinderei [in den KZs] besser. ... allen gemein war die rettende Kraft ihres Glaubens, die sie aufrecht hielt.“

      Er fügt hinzu: „Ihr Universum war größer als das unsrige, ausgedehnter in Raum und Zeit und vor allem umfassender: Vor ihnen lag das ... Millennium, ... ein Platz im Himmel oder auf der Erde, wo Gerechtigkeit und Erbarmen schon gesiegt hatten oder, wenn auch vielleicht in ferner Zukunft, mit Sicherheit siegen würden.“

      Der unbeugsame Glaube der Zeugen Jehovas an ein zukünftiges Millennium ist am besten in den folgenden Briefen zu erkennen, die von deutschen Zeugen stammen, die man zum Tode verurteilt hatte:

      „Mein lieber Bruder, meine liebe Schwägerin, meine lieben Eltern, alle anderen Geschwister mit eingeschlossen!

      ... Nunmehr muß ich Euch die schmerzliche Eröffnung machen, daß ich mich bei Ankunft dieses Briefes nicht mehr in diesem Dasein befinde. Seid bitte, bitte nicht allzu traurig. Denket, daß es für den allmächtigen Gott ein leichtes ist, mich aus dem Tode zu erwecken. ... Wißt, daß es mein Bestreben war, ihm in meiner Schwachheit zu dienen, und ich bin überzeugt davon, daß Gott mir bis zum Ende beisteht. Ich befehle mich in seine Hände. ... Und nun will ich Euch, liebe Mutter, lieber Vater, danken für alles Gute, das Ihr mir erwiesen habt. ... Möge Jehova Euch alles vergelten ...

      [gez.] Ludwig Cyranek“

      Ludwig Cyranek wurde in Dresden hingerichtet, weil er ein Zeuge Jehovas war.

      Johannes Harms wurde nach seiner Verurteilung zum Tod durch das Fallbeil siebenmal die Gelegenheit gegeben zu widerrufen. Kurz vor seiner Hinrichtung im Jahre 1940 schrieb er seinem Vater, Martin Harms, der ebenfalls als Zeuge Jehovas inhaftiert war, diesen Brief:

      „Mein lieber, guter Vater!

      Noch trennen uns gut drei Wochen vom 3. Dezember, von dem Tag, an dem wir uns beide vor zwei Jahren zum letzten Mal sahen. Ich sehe noch Dein liebes Lächeln, als Du im Keller des Gefängnisses warst, um dort zu arbeiten, und ich auf dem Gefängnishof spazierenging.

      ... Mit Stolz habe ich in der Zeit auf Dich geschaut und mit Bewunderung gesehen, wie Du Dein Los in der Treue zum Herrn trägst. Und nun ist auch mir Gelegenheit gegeben, dem Herrn gegenüber die Treue zu beweisen, ja die Treue nicht nur bis an den Tod, sondern bis in den Tod.

      Schon jetzt ist das Todesurteil gegen mich ausgesprochen, ich liege Tag und Nacht in Fesseln — die Druckstellen [auf dem Papier] stammen von den Handschellen —, aber ich habe noch nicht bis aufs Blut widerstanden. ... So ist auch mir immer noch die Gelegenheit gegeben, mein irdisches Leben zu retten, um das wirkliche Leben zu verlieren.

      ... Wenn Du, lieber Vater, wieder zu Hause bist, dann nimm Dich auch ganz besonders meines lieben Lieschens [Johannes’ Frau] an, denn es wird für sie dann ganz besonders schwer sein, weiß sie doch, daß sie ihren Liebsten nicht zurückerwarten braucht. Ich weiß, daß Du dies tun wirst, ich sage Dir schon jetzt vielen Dank dafür. Mein lieber Vater, im Geiste rufe ich Dir zu, bleibe auch Du treu, wie ich mich bemühe, treu zu sein, dann werden wir uns wiedersehen. Ich werde auch Deiner bis zuletzt gedenken.

      Dein Sohn Johannes“

      Dies sind nur zwei der Hunderte von Blutzeugen — Zeugen Jehovas, die starben, weil sie den Mut hatten, einem Regime des Bösen aus Gewissensgründen entgegenzutreten. Die gesamte Geschichte ihres gemeinsamen Märtyrertums würde Bände füllen.b

      [Fußnoten]

      a Ein ausführlicher Bericht über das Martyrium August Dickmanns ist im Jahrbuch der Zeugen Jehovas 1974, herausgegeben von der Wachtturm-Gesellschaft, auf den Seiten 165 bis 168 zu finden.

      b Ein ausführlicher Bericht über die Erlebnisse der Zeugen Jehovas in den Konzentrationslagern ist im Jahrbuch der Zeugen Jehovas 1974 auf den Seiten 108—212 und im Jahrbuch der Zeugen Jehovas 1989 auf den Seiten 111—134 zu finden.

      [Kasten auf Seite 13]

      Jehovas Zeugen waren Opfer Hitlers

      Aus der New York Times vom 14. Mai 1985

      An den Herausgeber:

      Meine Frau und ich, beide Deutsche, haben zusammen insgesamt 17 Jahre in NS-Konzentrationslagern zugebracht. Ich war in Dachau und Mauthausen und meine Frau Gertrud in Ravensbrück. Wir gehörten zu den Tausenden nichtjüdischen Deutschen, die litten, weil sie das taten, worin die NS-Verbrecher versagten — wir lehnten aus Gewissensgründen Hitlers erzwungenen Götzendienst und Militarismus ab. Tausende von uns überlebten die Lager, doch viele kamen um.

      Die kürzlich von Ihnen veröffentlichten Briefe (von Sabina Lietzmann [25. April] und Anna E. Reisgies [30. April]), in denen gewöhnliche Deutsche erwähnt werden, die unter Hitlers NS-Regime litten, veranlaßten mich, auf eine oft ignorierte Minderheit hinzuweisen, die von der Gestapo grausam verfolgt wurde. Diese Leute waren als Ernste Bibelforscher oder Zeugen Jehovas bekannt.

      Sobald Hitler 1933 an die Macht gekommen war, leitete er die systematische Verfolgung der Zeugen Jehovas wegen ihrer neutralen Haltung in bezug auf Politik und Krieg ein. Tausende von deutschen Zeugen, von denen viele meine Freunde waren, wurden nicht nur Opfer des Holocaust, sondern auch Märtyrer. Wieso dieser feine Unterschied? Weil wir zu jeder Zeit die KZs hätten verlassen können, wenn wir bereit gewesen wären, zu unterschreiben, daß wir uns von unserer religiösen Überzeugung losgesagt hatten.

      Zwei kurze Beispiele zeigen die Überzeugung, die in der Brust einiger Deutscher brannte, die dem Hitlerismus widerstanden. Wilhelm Kusserow aus Bad Lippspringe wurde am 27. April 1940 im Alter von 25 Jahren erschossen, weil er sich weigerte, in Hitlers Armee zu dienen.

      Zwei Jahre später wurde Wilhelms Bruder Wolfgang aus dem gleichen Grund im Zuchthaus von Brandenburg enthauptet. Erschießung wurde zu diesem Zeitpunkt von Hitler als zu gut für einen Kriegsdienstverweigerer angesehen. Wolfgang war 20 Jahre alt.

      Ich könnte von Hunderten deutschen Männern und Frauen berichten, die ähnliche Schicksale erlitten, weil sie es im Namen Gottes wagten, sich gegen die Tyrannei zu stellen. Die Frage, warum nicht Millionen prinzipientreue Deutsche anstelle von nur einigen Tausenden zu zählen waren, müßten vielleicht andere beantworten.

      Martin Pötzinger

      Brooklyn, 1. Mai 1985

      [Bild auf Seite 15]

      Die Familie Kusserow; Wilhelm (zweiter von rechts) wurde erschossen, Wolfgang (dritter von links) wurde enthauptet, Karl-Heinz (zweiter von links) starb nach seiner Befreiung aus Dachau an Tuberkulose

      [Bild auf Seite 16]

      Martin Pötzinger (gestorben 1988) und seine Frau Gertrud waren je etwa neun Jahre in nationalsozialistischen KZs

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