Mein Hund hört für mich
VON UNSEREM KORRESPONDENTEN IN GROSSBRITANNIEN
„ICH weiß nicht, was ich ohne meinen kleinen Hund tun würde!“ sagt Dorothy ganz spontan. Dabei schaut sie liebevoll auf ihren jungen weißbunten Jack-Russell-Terrier, der zufrieden unter ihrem Sitz liegt. „Ich habe Twinkie erst seit ein paar Monaten, doch sie hat mir schon neuen Auftrieb gegeben.“
Beim näheren Hinsehen entdeckte ich, daß Twinkie ein enganliegendes gelbes „Mäntelchen“ trug, auf dem in schwarzen, fettgedruckten Buchstaben zu lesen war: „GEHÖRLOSENHUND“. Ich kann mich nur allzugut erinnern, daß ich so bei mir dachte: „Das muß wohl ein ganz besonderes Tier sein. Was das Hündchen wohl alles kann?“
Durch Zufall hatten wir uns letztes Jahr im Juli in London unter den 44 000 Personen kennengelernt, die dem internationalen Kongreß der Zeugen Jehovas „Gottes Weg des Lebens“ beiwohnten. Da Dorothy ganz in der Nähe eines Lautsprechers saß und somit das Programm hören konnte, fragte ich mich, wozu sie einen „Hörhilfe-Hund“ benötigt. Als wir während der Mittagspause zusammensaßen und uns unterhielten, verriet sie mir, warum.
Twinkies „Daseinsberechtigung“
Dorothy wurde im Alter von drei Jahren nach einem Anfall von rheumatischem Fieber hochgradig schwerhörig. Seit dem Tod ihres Mannes vor 23 Jahren lebt sie allein, doch wie sie sagt, brauchte sie mit zunehmendem Alter mehr als die Gesellschaft anderer. „In meinem Alter überkommt Gehörlose oft ein Gefühl von Unsicherheit. Ich bin jetzt 74 und wohne in einem Appartementhaus, doch wenn der Hausverwalter mal nach mir sehen wollte, hörte ich nie die Klingel. In der Annahme, es gehe mir nicht gut, kam er manchmal unbemerkt in die Wohnung, und ich erschrak fürchterlich. Aber jetzt hört Twinkie es läuten, kommt zu mir gelaufen, stupst mich am Bein und führt mich zur Tür. Diese Verständigung klappt auch, wenn Twinkie den Summer der Zeitschaltuhr am Ofen hört. Dann kommt sie schnell angelaufen, und ich folge ihr. Und wenn wirklich einmal ein Rauch- oder Feuermelder losgehen sollte, wird Twinkie mich aufmerksam machen, so wie sie es gelernt hat, und sich dann vor den Melder legen, der die Gefahr anzeigt. Jedesmal, wenn sie mir hilft, bekommt sie von mir zur Belohnung ein leckeres Häppchen.“
Fachgerechte Ausbildung
Meine Neugier war geweckt. Deshalb fragte ich: „Woher hast du den Hund, und wer hat ihn ausgebildet?“ Das gab Dorothy den Anstoß, mir etwas über das Projekt „Gehörlosenhunde“ zu erzählen. Hierbei handelt es sich um eine karitative Einrichtung, durch die man Gehörlosen in Großbritannien helfen möchte, von fremder Hilfe weitgehend unabhängig zu werden und so ihre Lebensqualität zu verbessern. Seit 1982 sind in Großbritannien Hunderte von Hunden an Gehörlose abgegeben worden. Nach Abschluß einer gewissen „Lehrzeit“ wird der Hund durch Adoption seinem neuen Besitzer kostenlos übereignet.
Meist werden für dieses Programm Hunde aus den verschiedenen Tierheimen in allen Teilen des Landes ausgewählt, die von der Straße aufgelesen wurden; einige werden jedoch auch von Züchtern gestiftet. Die Ausbildung eines Hundes kann bis zu 12 Monate in Anspruch nehmen. Für die Ausbildungskosten kommt gewöhnlich ein Sponsor auf, entweder eine Firma oder eine Gruppe von Leuten, die gemeinsam durch ihre kleineren Spenden die Kosten decken. Dorothy erzählte mir, daß ein „Schlankheits“-Klub so nett war und Twinkie sponserte.
Hat man sich für einen Hund entschieden, der zwischen sieben Wochen und drei Jahre alt sein muß, beginnt die Ausbildung zum Gehörlosenhund damit, daß er es lernt, auf bestimmte Geräusche zu reagieren. Zu Anfang kommt er jedoch in die Obhut einer Gastfamilie, wo er Sozialverhalten lernt. Je nach Alter und Erfahrungsschatz des Hundes dauert das zwei bis acht Monate. Während dieser Sozialisierungsphase lernt der Hund, umgänglich und stubenrein zu sein; vor allem kommt es aber darauf an, daß das Tier seine Umwelt, wie öffentliche Plätze und Transportmittel, entdeckt und erforscht und mit vielen verschiedenen Menschen aller Altersstufen — Kinder und Babys eingeschlossen — ausreichend Kontakt und Umgang hat. Damit möchte man dem Hund gutes Benehmen beibringen, so daß er später nicht unangenehm auffällt, ganz gleich, welche Situation er vorfindet.
Des weiteren erfuhr ich, daß auch andere Organisationen Hunde einsetzen, um Menschen mit besonderen Bedürfnissen zu helfen. Diese Hunde werden nicht nur dazu ausgebildet, Befehle auszuführen, sondern sie werden auch gewissen optischen Eindrücken und Gerüchen ausgesetzt. Einem Retriever, der sich um eine Frau kümmert, die auf den Rollstuhl angewiesen ist, hat man beigebracht, den Telefonhörer abzunehmen, Briefe zu bringen und Briefmarken zu befeuchten. Ein anderer Hund reagiert auf 120 Kommandos, ja er holt sogar Büchsen und Packungen aus den Regalen eines Selbstbedienungsladens. Der behinderte Hundebesitzer zeigt mit einem Laserstrahl auf die gewünschten Lebensmittel, die der Hund ihm dann bringt.
Glückliche Partner
„Kommt denn Twinkie bei jedermann gut an?“ fragte ich. Dazu Dorothy: „Ein Geschäftsinhaber wollte nicht, daß ich meinen Hund in den Laden mitnehme, weil dort Lebensmittel auslagen. Doch er war mit seiner Einstellung die große Ausnahme; er begriff nicht, warum ich auf Twinkie angewiesen bin.“
Inzwischen war mir klargeworden, wie nützlich ein Gehörlosenhund zu Hause sein kann, doch eine Frage hatte ich noch: Wozu brauchte Dorothy Twinkie, wenn sie in der Gemeinschaft so vieler Mitchristen war? „Ich kann gut vom Mund ablesen, und dank meines Hörgeräts kann ich mich an Gesprächen beteiligen“, erklärte Dorothy. „Wenn jemand Twinkies gelbes Jäckchen sieht, weiß er sofort von meiner Gehörlosigkeit. Man spricht dann deutlicher und hält mit mir Augenkontakt. Dann muß ich auch nicht auf meine Behinderung hinweisen, was die ganze Sache leichter macht.“
Bald sollte das Nachmittagsprogramm des Kongresses beginnen, und damit Twinkie stillsitzen konnte, mußte sie noch einmal ausgeführt werden. Bevor ich mich verabschiedete, bückte ich mich, um sie zu streicheln. Twinkie sah mich mit großen Augen an, schaute dann hoch zu Dorothy und wedelte mit dem Schwanz. Was für eine gelehrige, nützliche kleine Freundin — wie für Dorothy geschaffen!
[Bild auf Seite 20]
Twinkies Hilfe ist auf Kongressen von unschätzbarem Wert