Der Kweikiang — mit Worten nicht zu beschreiben
VON seinem Quellgebiet in den Bergen aus plätschert der Kweikiang südwärts. Wenn er die Stadt Kweilin mit ihrem geschäftigen Treiben im Südosten Chinas erreicht, ist er schon so breit, daß er an dieser alten Stadt an seinem Westufer gemächlich vorbeifließt.
Kweilin ist anders als westliche Städte. Während der Hauptverkehrszeit sind die Straßen voller Fahrräder. Hier und da bahnt sich ein Taxi oder ein Lastwagen hupend einen Weg durch die Menge. Die Radfahrer treten vergnügt in die Pedale und kümmern sich nicht darum, daß die anderen Fahrzeuge sie haarscharf schneiden. Keiner, der die Fassung verliert, kein wütendes Geschrei, keine erhitzten Gemüter. Ganz anders als die Hauptverkehrszeit in New York, Rom oder Mexiko. Es ist anders, aber man findet Worte, es zu beschreiben.
Weiter flußabwärts heften sich kleine Dörfer an die Ufer. Unten am Flußbett spielen Kinder und winken den Touristenschiffen zu, die südwärts dahintuckern. Frauen waschen Wäsche und Gemüse im Flußwasser. Männer hüten Wasserbüffel an den Ufern. Etwas weiter vom Ufer entfernt, arbeiten Bauern auf den Reisfeldern; die einen pflanzen mit den Händen, die andern pflügen mit Wasserbüffeln. Anders, aber mit Worten zu beschreiben.
Den ganzen Kweikiang entlang ragen Berge in den Himmel — Reihe um Reihe. Sehr unterschiedliche und nicht zu beschreibende Berge. Für all die anderen fremdartigen Anblicke während der Fahrt auf dem Kweikiang von Kweilin nach Yangshuo ließen sich passende Worte finden, aber diese eigenartigen Berge entzogen sich jeder Beschreibung.
Fünf Stunden lang fuhr das Schiff die 80 Kilometer flußabwärts, und während dieser fünf Stunden waren die Berge nicht ein einziges Mal außer Sicht. Reihen von Bergen in unserer Nähe, weitere Reihen dahinter und noch mehr in der Ferne, bis sie so verschwommen waren, daß sie unwirklich erschienen. Um das festzuhalten, was Worte nicht beschreiben können, klickten die Kameras und verschlangen sie gierig eine Filmrolle nach der anderen. Bestimmt sagt hier ein Bild mehr als tausend Worte.
Allerdings konnten die Kameras nicht die unheimliche Stimmung einfangen, die diese bizarren Spitztürme — sichtbar, so weit das Auge reichte — vermittelten. Die Schiffsmannschaft servierte ein warmes Mittagessen. Alle gingen zum Essen nach unten, außer dem Beobachter, der zu fasziniert war, um das Oberdeck zu verlassen. Seinen Magen würde er jederzeit füllen können, doch diese Augenweide würde bald vorübergehen. Was seiner Kamera entginge, müßte er im Gedächtnis behalten.
„Gemäß geologischen Untersuchungen“, heißt es in einem Reiseprospekt, „war dort, wo heute Kweilin liegt, ursprünglich überall Wasser. Zufolge wiederholter Bewegungen der Erdkruste hob sich der Kalkstein, der sich auf dem Meeresboden befand, und wurde zu Land. Witterungsbedingte Erosionen und das auslaugende Regenwasser gestalteten aus dem Kalkstein einen Wald von Bergkuppen sowie einzelne Gipfel und schufen unterirdische Flüsse und Höhlen. Diese einzigartige Karstformationa macht die Landschaft um Kweilin zur wunderbarsten in der Welt.“
Wenn die letzte Aussage auch ein wenig übertrieben ist, so sollte man darüber hinwegsehen. Dieser Wald von Kalksteintürmen, durch den sich der Kweikiang schlängelt, ist einfach unvergeßlich. Man kann nicht mit Sicherheit sagen, wie er entstanden ist, aber man kann mit Sicherheit sagen, wer ihn geschaffen hat. Wenn man die Berge am Kweikiang mit Worten nicht beschreiben kann, wieviel weniger dann ihren Schöpfer! „Jehova ist groß und sehr zu preisen, und seine Größe ist unerforschlich“ (Psalm 145:3).
[Fußnote]
a Karst: „durch Wasser ausgelaugte, an der Oberfläche meist kahle Gebirgslandschaft aus Kalkstein“ (Duden, Deutsches Universalwörterbuch).
[Kasten/Bild auf Seite 17]
Die Krönung
So erschien es uns jedenfalls. Nach der Fahrt auf dem Kweikiang besuchten wir einen Kindergarten in Kweilin. In einem Raum spielten Vierjährige, tanzten und setzten sich dann hin und hörten fasziniert zu, als eine Besucherin aus Amerika ein Kinderlied vorsang. Es handelte von einem Mädchen und ihrem süßen blauäugigen Püppchen. Natürlich verstanden sie die Worte nicht, aber sie waren wie gebannt von der sanften Stimme, von dem Rhythmus der einfachen Melodie und von den Gebärden, mit denen die Besucherin beschrieb, wie die Puppe angezogen wurde, zum Spielen hinausging und am Ende des Tages in den Schlaf geschaukelt wurde. Sie empfanden die Stimmung nach. Ihre Augen leuchteten. Die einen schauten vergnügt; die anderen saßen unbeweglich da und lauschten hingerissen. Als wir gingen, winkten sie uns freudig zum Abschied.
Sie hatten unser Herz im Sturm erobert.