Wieso der Unterschied die Welt erschüttert
„DER Boden, auf dem wir stehen, wankt. Die bekannten Orientierungspunkte sind nicht mehr“, klagte Walter Scheel, damals Bundesaußenminister, auf der erwähnten UN-Sondersitzung. Früher ist es den einzelnen Nationen anscheinend gelungen, ihre Probleme selbst zu lösen. „Aber das ist nicht mehr der Fall“, erklärte US-Außenminister Kissinger kürzlich in einer Rede vor der UN-Vollversammlung.
Dadurch, daß die Welt jetzt die Grenze ihrer Kapazität erreicht hat, ist ein neues, labiles Gleichgewicht unter den Nationen entstanden. Wirtschaftliche und politische Maßnahmen, die der Welt früher nicht mehr anhaben konnten als ein Floh einem Elefanten, scheinen jetzt solch große Auswirkungen zu haben, als würde ein Löwe gegen eine Maus kämpfen.
„Wenn wir nicht einsehen, daß wir voneinander abhängig sind“, warnte Kissinger, „dann wird die Zivilisation des Westens, wie wir sie kennen, mit großer Sicherheit auseinanderfallen“, und zwar aufgrund selbstsüchtiger rationalistischer Rivalität. „Wir hängen jetzt zwischen gemeinsamem Fortschritt und gemeinsamer Katastrophe“, sagte er.
Warum? Ein paar Beispiele werden veranschaulichen, inwiefern die grundlegenden Unterschiede zwischen heute und früher dazu beitragen, daß die Probleme zu anscheinend unlösbaren Krisen anwachsen. Das erste, womit wir uns befassen, sind die ...
Rohstoffe
Die plötzlich um das Vierfache gestiegenen Ölpreise haben der Welt mehr als irgend etwas anderes deutlich vor Augen geführt, in welch prekärer Lage sie sich jetzt befindet. Das „Internationale Institut für Strategische Studien“, das seinen Sitz in London hat, erklärte, diese Preiserhöhung sei „von allen Ereignissen der letzten Jahre der größte Schock, das deutlichste Anzeichen für eine neue Ära“. Die Kettenreaktion, die diese Maßnahme in den Industriestaaten ausgelöst hat, droht das Wirtschaftsgefüge zu erschüttern, wie Weltführer deutlich erklärt haben.
Doch das Öl ist nur ein Symptom für den Wechsel, der auf dem Weltmarkt für Rohstoffe vor sich geht. Was vor dem Wendepunkt der „Markt des Käufers“ war, ist plötzlich der „Markt des Verkäufers“ geworden, auf dem die Rohstofflieferanten den Preis diktieren können.
Da der Wohlstand der Industrienationen zum großen Teil darauf beruhte, daß sie aus unterentwickelten Ländern Rohstoffe billig beziehen konnten, bedroht dieser Wechsel nun ihren ganzen Lebensstil. „Das Europa, das wir jetzt bauen müssen, ist ein Europa der Armut“, äußerte besorgt der französische Präsident Giscard d’Estaing.
Wirtschaft
Eng verbunden mit der Rohstoffkrise ist die Wirtschaftskrise. Die schlimmste weltweite Inflation der Geschichte betrifft uns plötzlich alle. Man spürt die Auswirkungen jedesmal, wenn man einkaufen geht. Die Inflation in den Industrieländern als Gesamtheit hat kürzlich eine Steigerungsrate erreicht, die viermal so hoch ist wie in den 1960er Jahren. Gleichzeitig haben diese Nationen gerade „die außerordentlichste Verlangsamung des Wirtschaftswachstums durchgemacht, die sie je erlebt haben“, heißt es in einem Bericht der internationalen „Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung“ (OECD).
Durch ihre Bemühungen, mit den schnell steigenden Preisen und dem erhöhten Bedarf Schritt zu halten, sind plötzlich viele Nationen tief in Schulden geraten. „Wir Banken sind mit der Finanzierung Italiens, Frankreichs, Großbritanniens und anderer Länder an der Grenze des Möglichen angelangt“, warnte der ehemalige Generaldirektor des Internationalen Währungsfonds (IMF), Pierre-Paul Schweitzer.
Auch die US-Wirtschaft ist dagegen nicht immun. In den USA sind die öffentlichen und die privaten Schulden jetzt sechsmal so hoch wie am Ende des Zweiten Weltkrieges, „und der größte Anstieg ist seit 1960 zu verzeichnen“, heißt es in der Zeitschrift Business Week.
Die Weltwirtschaft funktioniert heute ganz anders als früher, so daß die meisten Ökonomen bereitwillig zugeben, daß ihre vielgerühmten Formeln zur „Feinabstimmung“ nationaler Wirtschaftssysteme völlig überholt sind. Business Week sagt voraus, daß, selbst wenn die Welt einer wirtschaftlichen „Katastrophe entgeht, ... sie in keiner Weise einer Änderung entgehen“ kann. Was für eine „Änderung“ ist damit gemeint?
Zum ersten Mal sagen viele angesehene Autoritäten voraus, daß der Zusammenbruch der Wirtschaft in der „freien Welt“ die Gefahr diktatorischer oder kommunistischer Lösungen und den Verlust persönlicher Freiheiten heraufbeschwöre.
Nahrung
Mit den immer größer werdenden Rohstoff- und Wirtschaftsproblemen ist auch die Ernährungskrise verbunden. „Die Geschichte berichtet von akuteren [Nahrungsmittel-]Knappheiten in verschiedenen Ländern“, heißt es in einem für die Welternährungskonferenz der UNO vorbereiteten Bericht, „aber es ist fraglich, ob eine kritische Ernährungssituation schon jemals solch weltweite Ausmaße hatte.“ Und Don Paarlberg, Ökonom im US-Landwirtschaftsministerium, versichert: „Es ist klar, daß wir an einer Art Wendepunkt [für die Landwirtschaft] angelangt sind.“ Warum jetzt?
Veränderte Anbaumethoden. Die moderne Landwirtschaft ist auf Energie angewiesen — für Düngemittel, Traktoren, Wasserpumpen, Pestizide, Transportmittel usw. In vielen Gegenden bedeutet eine Tonne Dünger soviel wie zehn Tonnen Getreide. Plötzliche Energieknappheit und in die Höhe schießende Preise wirken sich am schlimmsten dort aus, wo es am dringendsten ist, moderne Anbaumethoden anzuwenden, und wo sie sich die Bauern am wenigsten leisten können. Die gewaltigen Ernteverluste in Nordindien zum Beispiel hätten nicht so groß zu sein brauchen, wenn die Bewässerungspumpen ständig mit Energie versorgt worden wären.
Veränderter Stand der Getreidereserven. Das plötzliche Schwinden einstmals gewaltiger Reserven hat die Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse bereits um ein Vielfaches in die Höhe getrieben. Nun sagt das US-Landwirtschaftsministerium voraus, daß die Weltgetreideerzeugung sinken wird, so daß im Jahre 1975 „die Weizenvorräte der Welt wahrscheinlich weiter sinken werden“. Viele Experten glauben, daß ein Irrtum so gut wie ausgeschlossen ist. „Zum ersten Mal seit 50 Jahren gibt es kein einziges Land in der Welt, das genügend Nahrungsmittel hätte, um die verhungernden Massen zu retten“, falls eine Dürre einsetzen sollte, erklärte besorgt ein amerikanischer Regierungsbeamter. Und heute sind mindestens zwei Milliarden Menschen mehr zu ernähren — doppelt soviel wie vor fünfzig Jahren!
Veränderte Wetterbedingungen. Eine Hauptursache dafür, daß seit einiger Zeit die Nahrungsmittelreserven schwinden, ist ein klimatischer Umschwung. Besteht Aussicht darauf, daß das Wetter für die Landwirtschaft wieder besser wird? „Es muß daran erinnert werden, daß das für die Nahrungsmittelerzeugung günstige Wetter während der rund fünfzehn Jahre vor 1972 das beste Wetter war, das wir in den vergangenen anderthalb Jahrhunderten hatten“, erinnerte der Experte Reid A. Bryson. „Die Chancen, daß es wiederkehrt, stehen etwa 1:10 000.“
Wenn man diese Tatsachen betrachtet, kommt einem die Frage in den Sinn: Wie kann eine Welt, die Tausende von Jahren Zeit gehabt hat, ihre Bevölkerung zu ernähren und zu versorgen, und dabei versagt hat — mit Ausnahme von ein paar Privilegierten —, die Menschheit ernähren, wenn sie nach Schätzungen von Experten nur fünfunddreißig Jahre Zeit hat, doppelt so viele Menschen wie heute zu ernähren?
Schon jetzt erwägen Experten zum ersten Mal eine erschreckende Möglichkeit: nationale „Triage“ — die Politik, zuerst den Nationen zu helfen, die die besten Aussichten auf ein Überleben haben. Falls es also zu einer Welthungersnot kommen sollte, würden ganze Nationen zugunsten derer fallengelassen werden, die eine bessere Überlebenschance haben. Viele Experten heben warnend hervor, daß die nahrungsmittelerzeugenden Nationen diese harte Entscheidung möglicherweise innerhalb eines Jahres treffen müssen.
Weltführer reagieren
Diese Krisen, zusammen mit dem noch nie dagewesenen Ausmaß an Armut, Verschmutzung usw., haben die meisten Regierungen aufgerüttelt und auf die Tatsache aufmerksam gemacht, daß die Lage, in der sie sich jetzt befinden, anders ist als noch vor wenigen Jahren. Ihre Reaktion darauf ist der schlagendste Beweis für den eingetretenen Wechsel. Zum ersten Mal bemühen sich Staatsführer besonders angestrengt um internationale Zusammenarbeit in einem verzweifelten Versuch, sich selbst zu retten.
In Übereinstimmung damit sagte US-Präsident Ford kürzlich vor der UN-Vollversammlung: „Die Nationen sind gezwungen, zwischen Konflikt und Zusammenarbeit zu wählen. ... Mehr als zu irgendeiner anderen Zeit in der Menschheitsgeschichte müssen sich die Nationen ... um internationale Zusammenarbeit bemühen“, um die Reichtümer der Erde zu verwalten.
Aber werden diese Bemühungen unternommen, weil die Nationen auf einmal Nächstenliebe haben? Nein. Es ist nur der „Ernst der Lage“, antwortet UN-Generalsekretär Waldheim, „der diese Entwicklungen auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen zustande bringen kann, die bisher kein Appell an den Verstand und an den guten Willen bewirken konnte“.
Es wird also zugegeben, daß jegliches vereinte Handeln unter den Nationen auf der wackeligen Grundlage der Eigennützigkeit und der Selbsterhaltung beruht und nicht auf einem echten Interesse am Mitmenschen und auf gerechten Grundsätzen. Werden die Bemühungen, die auf dieser Grundlage beruhen, Gelingen haben?