Labyrinthe und Irrgärten — Was ist daran so fesselnd?
Von unserem Korrespondenten in Großbritannien
Bei einem Labyrinth gibt es nur einen Zugang zum Zentrum oder zum Ausgang, und der Weg dorthin verläuft in vielen Windungen und führt zuweilen auch in Sackgassen. Labyrinthe können Menschen Angst einjagen, sie verwirren oder frustrieren. Die Labyrinthe vergangener Zeiten sind zudem in abergläubisches Volkstum eingebettet. Warum übernahmen dann aber die Kirchenerbauer der Christenheit Labyrinthe in ihre Bauten? Die Antwort auf diese Frage ist hochinteressant.
WELCHES war das größte Meisterwerk der Baukunst im alten Ägypten? Nach Ansicht einiger Autoren waren es nicht die Pyramiden, wie allgemein angenommen, sondern das gewaltige ägyptische Labyrinth. Es wurde in der Nähe des Moerissees errichtet, des heutigen Karunsees, der westlich des Nil und 80 Kilometer südlich des modernen Kairo liegt.
Im 5. Jahrhundert v. u. Z. schrieb der griechische Historiker Herodot: „Ich habe dies Labyrinth gesehen; es ist über alle Beschreibung. Nimmt man sämtliche Mauerbauten und anderen Bauwerke der Hellenen zusammen, so steckt in ihnen noch nicht soviel Arbeit und soviel Geld wie in diesem einen Labyrinth.“ Er setzte hinzu: „Das Labyrinth übertrifft noch die Pyramiden.“ Strabo, ebenfalls ein griechischer Geschichtsschreiber, bezeichnete das Labyrinth vier Jahrhunderte später als „ein Werk den Pyramiden ähnlich“, obschon es bis dahin weitgehend verfallen war.
Der Historiker F. Barham Zincke besichtigte die Stätte 1871, und 1888 wurde sie schließlich von dem Archäologen Flinders Petrie identifiziert. Damals waren nur Fragmente des Labyrinths erhalten geblieben, und in aktuellen Reiseführern wird es selten erwähnt. Es gab jedoch eine Zeit, in der das ägyptische Labyrinth berühmt war. Wie sah es aus, und warum wurde es erbaut?
Beschreibung und Zweck
Das Labyrinth entstand sehr früh in der ägyptischen Geschichte, möglicherweise schon bevor die Hebräer in Ägypten wohnten (1. Mose 46:1-27). Es hatte angeblich 3 000 Kammern, die sich gleichmäßig auf zwei Geschosse verteilten, von denen eines unterirdisch war. Insgesamt bedeckte das Labyrinth eine Fläche von 70 000 Quadratmetern.
Die verschachtelte Anordnung der Gänge, Höfe, Kammern und Kolonnaden war dermaßen kompliziert und verwirrend, daß ein Fremder ohne Führer niemals zum Zentrum oder zurück zum Eingang gefunden hätte. Ein Großteil war stockfinster, und manche Türen sollen beim Öffnen unheimliche Geräusche gemacht haben, die sich wie Donnerrollen anhörten. Nach dem Niedergang der ägyptischen Weltmacht wurden die eindrucksvollen roten Granitsäulen, die wuchtigen Steinplatten und die glattpolierten Kalksteine fortgeschleppt und anderweitig verwendet.
Obgleich das Labyrinth angeblich als Zentrum diente, von dem aus die ägyptischen Könige das Land regierten, war seine eigentliche Funktion religiöser Natur. Es handelte sich um einen Tempelkomplex, in dem man allen Göttern Ägyptens opferte. Kein Besucher durfte die unteren Kammern des Labyrinths sehen, in denen sich Gräber für Könige und für heilige Krokodile befanden.
Die mythische Bedeutung des Labyrinths läßt sich am besten durch die religiösen Rituale um den ägyptischen Gott Osiris verdeutlichen, den die Ägypter für einen früheren König von Ägypten hielten. Osiris war der Gott der Toten oder der Unterwelt.
Mythologie und Unsterblichkeit
Der Tod des Osiris wurde alljährlich im Rahmen der ägyptischen Mysterien neu inszeniert. Apis, ein heiliger Stier, wurde an Stelle von Osiris unter großem Klagegeschrei zeremoniell getötet. Die Trauer verwandelte sich in Freude, sowie der Priester die frohe Kunde von der Auferstehung des Osiris brachte. Für die Ägypter bildeten diese mysteriösen Vorgänge den Kern ihrer Lebensperspektive. Ihrer Ansicht nach wurde jeder Mensch — nicht lediglich der König — beim Tod dem Osiris gleich.
In dem Buch The Labyrinth von Professor S. H. Hooke heißt es dazu: „Der frühe Osirismythos Ägyptens legt die Existenz von Kräften nahe, die das Leben des Gott-Königs sowohl auf der Erde als auch im Jenseits bedrohten.“ Von dem Labyrinth mit seinen Irrwegen nahm man folglich an, daß es den Gott-König vor seinen Feinden in diesem und im nächsten Leben schützte, ja sogar vor dem Tod.
Mit der Zeit gewann die Vorstellung von der Unsterblichkeit des Menschen fest an Boden, nicht nur im alten Ägypten, sondern überall in der Welt der Antike. Tatsächlich wurde die Lehre von der Unsterblichkeit der Menschenseele, die sich in den folgenden Jahrhunderten weiterentwickelte, bald auf die gesamte Menschheit übertragen, nicht nur auf die Könige.
Das kretische Labyrinth
Das Labyrinth in Knossos auf der Insel Kreta wurde, wie es scheint, einige Jahre nach dem ägyptischen erbaut. Seine genaue Lage konnte bislang zwar nicht mit Sicherheit bestimmt werden, doch Berichten zufolge war es dem ägyptischen Vorbild ähnlich, wenn auch wesentlich kleiner.a Das Wort „Labyrinth“ könnte mit lábrys in Zusammenhang stehen, der Bezeichnung für eine Doppelaxt, die für die beiden Hörner des heiligen Stiers steht. Dieser Stier war für den stark mythologisch geprägten minoischen (kretischen) Kult charakteristisch.
Das kretische Labyrinth war in der Mythologie berühmt für seinen Bewohner Minotaurus, einen mythischen Menschen mit Stierkopf. Pasiphae, die Frau von Minos, dem kretischen König, soll dieses Wesen zur Welt gebracht haben. Daher der Name Minotaurus, was „Stier von Minos“ bedeutet. Der Sage nach verlor die Stadt Athen einen Krieg gegen Kreta, und ihre Bewohner wurden gezwungen, alle neun Jahre 14 Jugendliche zu schicken — 7 Jungen und 7 Mädchen —, um sie dem Minotaurus zu opfern. Diese Jugendlichen kamen in das Labyrinth, wo sie sich verirrten und dann angeblich von Minotaurus verschlungen wurden.
Eines Tages jedoch nahm der Jüngling Theseus die Herausforderung an und ging in das Labyrinth, um dieses sagenhafte Ungeheuer zu töten. Als er dem Minotaurus gegenüberstand, soll er ihn mit seinem Schwert erschlagen haben. Um zu entrinnen, verfolgte Theseus den Weg zurück mit Hilfe eines goldenen Fadens, den er vom Eingang des Labyrinths an ausgelegt hatte. Den Faden hatte ihm Ariadne, die Tochter des Königs Minos, gegeben.
Michael Ayrton, der ein auf Mutmaßungen beruhendes Modell des kretischen Labyrinths konstruierte, erklärte: „Das Leben eines jeden Menschen ist wie ein Labyrinth, in dessen Zentrum der Tod liegt, und selbst nach dem Tod kann es sein, daß er ein letztes Labyrinth durchwandert, ehe alles vorüber ist.“ Nach dieser Auffassung versinnbildlichte das Entrinnen aus dem Labyrinth die Wiedergeburt des mythischen Theseus, sein Entrinnen vor dem Tod. Auch hier tritt wieder die Lehre von der Unsterblichkeit des Menschen zutage.
Griechenland und Rom
Die Figur des klassischen kretischen Labyrinths erscheint auf Münzen, die in Knossos gefunden wurden. Bald darauf wurde diese Figur von den Griechen und den Römern imitiert. Plinius erwähnt ein Labyrinth, das sich auf der Mittelmeerinsel Samos befand, und ein anderes, das für die Schönheit seiner 150 Säulen berühmt war, auf Lemnos. Auch nimmt er auf ein kunstvolles etruskisches Grab Bezug, über das schon Varro, ein früherer Schriftsteller, geschrieben hatte und das ein unterirdisches Labyrinth gehabt haben soll.
Die Stadt Pompeji, die 79 u. Z. bei einem Ausbruch des Vesuv zerstört wurde, zeichnete sich durch mindestens zwei schöne Labyrinthe aus. Eines davon, das „Haus des Labyrinths“, ist für sein einzigartiges Mosaikpflaster berühmt, das den Kampf zwischen Theseus und dem Minotaurus darstellt. Der Publizist Marcel Brion behauptet, das Labyrinth sei „eine Allegorie des Menschenlebens und der beschwerlichen Reisen, welche die Seele in dieser und in der anderen Welt zu machen hat, bevor sie die Unsterblichkeit erlangt“.
Den Kindern in der alten römischen Welt dienten Labyrinthe auf Feldern und Plätzen zum Zeitvertreib. Heute gibt es in ganz Europa zahlreiche Überreste von Labyrinthmosaiken auf Fußböden von ausgegrabenen römischen Villen und anderen römischen Stadtbauten. Doch die mythologischen Vorstellungen verbreiteten sich rasch noch weiter.
Labyrinthe in vielen Ländern
Der Tempel von Halebid in Mysore (Indien) weist ein Relief mit einem Labyrinth auf. Es entstand um das 13. Jahrhundert u. Z. und zeigt eine Episode aus dem Mahabharata.
Die Chinesen glaubten, böse Geister könnten nur in gerader Linie fliegen, weshalb sie die Eingänge als einfache Labyrinthe gestalteten, um ihre Häuser und Städte vor diesen Geistern zu schützen.
In Skandinavien gibt es an der Ostseeküste über 600 steinerne Labyrinthe. Wie es heißt, wurden sie oft von Fischern angelegt, die aus Aberglauben durch die Labyrinthe gingen, um sich einen guten Fang und eine heile Rückkehr zu sichern.
Auf St. Agnes, einer kleinen Insel vor der Südwestküste von Cornwall (England), befindet sich ein Labyrinth, das 1726 von einem Leuchtturmwärter an der Stätte einer früheren Anlage restauriert wurde.
Besonders interessant ist, daß Labyrinthe in den Kirchen der Christenheit zu finden sind. Betrachten wir einige Beispiele hierzu.
Die Labyrinthe der Christenheit
Von den zahlreichen bemerkenswerten Labyrinthen in den Kirchenbauten der Christenheit muß das holzgeschnitzte runde Ornament aus dem 15. Jahrhundert hoch oben in der Decke von St. Mary Redcliffe, einer Kirche in Bristol (England), eines der kleinsten sein. Es ist golden und schwarz bemalt und hat einen Durchmesser von nur 20 Zentimetern. Das berühmteste Labyrinth ist in der Kathedrale von Chartres (Frankreich) zu sehen. Es wurde 1235 aus blauem und weißem Stein angefertigt und hat einen Durchmesser von 12 Metern.
In noch verschiedenen anderen mittelalterlichen Kathedralen und Kirchen Frankreichs und Italiens wurden große Bodenmosaike gelegt, so etwa in Amiens, Bayeux, Orléans, Ravenna und Toulouse. Das Labyrinth in Reims wurde vor 200 Jahren zerstört. In der Kathedrale von Mirepoix ist ein Labyrinth mit Minotaurus im Zentrum zu sehen.
Über Labyrinth-Darstellungen in bedeutenden Kirchenbauten heißt es in einem einschlägigen Werk: „Das heidnische Labyrinth wurde von der christlichen Kirche des Mittelalters übernommen und durch die Aufnahme christlicher Symbolik in die Gestaltung für den eigenen Gebrauch angepaßt.“ Die Labyrinthe in den Kirchen der Christenheit sollten somit in Anlehnung an die Mythologie der alten Ägypter offenbar das Leben eines Christen darstellen.
Kirchenlabyrinthe versinnbildlichten auch die Reisen der Kreuzfahrer nach Jerusalem. Das Erreichen des Zentrums symbolisierte die Ankunft in Jerusalem und die Erlösung. Für manche Gläubige stellte das Labyrinth einen Bußweg dar, den sie entweder auf den Knien rutschend zurücklegen mußten, damit ihnen die Sünden vergeben wurden, oder den sie in einer rituellen Handlung abschritten als Ersatz für die Wallfahrt in das Heilige Land.
Rasenlabyrinthe
Labyrinthe, die in die Grasnarbe gestochen wurden, sogenannte Rasenlabyrinthe, entstanden im 12. und 13. Jahrhundert, vor allem in England. Später wurden viele davon zweifellos zum Zeitvertreib benutzt, doch da sie den Labyrinthen in Kirchenbauten ähnelten, maß man ihnen bisweilen eine religiöse Bedeutung bei. Das größte Rasenlabyrinth, das nach Ansicht einiger Fachleute über 800 Jahre alt ist, befindet sich auf dem Gemeindeland von Saffron Walden in der Grafschaft Essex. Auffällig an diesem Labyrinth sind die vier erhöhten Eckbastionen. Der Weg ist gut anderthalb Kilometer lang.
W. H. Matthews stellt die historisch-mythische Verbindung her, wenn er schreibt, daß religiöse Labyrinthe „womöglich als Sinnbild für das Labyrinth der Versuchungen im Diesseits aufzufassen sind, das man nur mit dem Ariadnefaden der göttlichen Gnade überwinden kann“ (Mazes and Labyrinths—Their History and Development).
Überrascht es uns, daß Labyrinthe trotz ihres heidnischen Ursprungs Eingang in die Christenheit gefunden haben? Läßt sich das wahre Christentum mit heidnischem Aberglauben vereinbaren?
Mit dem christlichen Glauben vereinbar?
So faszinierend die Geschichte der Labyrinthe auch ist, die damit einhergehenden Vorstellungen sind mit dem christlichen Glauben nicht zu vereinbaren. Die Bibel lehrt nirgends, daß die menschliche Seele etwas vom Körper Verschiedenes oder Getrenntes sei und nach dem Tod weiterlebe. Vielmehr sagt sie, daß die Seele sterblich ist. Es heißt: „Die Seele, die sündigt — sie selbst wird sterben“ (Hesekiel 18:4).
Gottes Wort, die Bibel, ist machtvoll und mit einem Schwert zu vergleichen, weshalb sie als das „Schwert des Geistes“ bezeichnet wird. Christen handhaben diese Waffe geschickt, um ein reales, übermenschliches, unsichtbares Geistwesen und seine Dämonen zu bezwingen, keinen mythischen Minotaurus (Epheser 6:12, 17). Dadurch erlangen sie einen unbesiegbaren Glauben und eine sichere Hoffnung auf Rettung. So ausgerüstet, werden sie das Ende des gegenwärtigen Systems der Dinge überstehen und in eine gerechte neue Welt eingehen, was durch den Glauben an die Mythologie niemals möglich wäre (2. Petrus 3:13).
[Fußnote]
a Im 1. Jahrhundert u. Z. schrieb der lateinische Naturforscher Plinius, die Kreter hätten ihr Labyrinth ein Hundertstel so groß wie das ägyptische gebaut.
[Kasten auf Seite 22]
Labyrinthe zum Zeitvertreib
Vor 600 Jahren entstand eine neue Art von Labyrinth. Sie hatte keinerlei religiöse Bedeutung, sondern war zur Zierde gedacht. In ganz England wurden einfache Irrgärten mit der Zeit ein alltäglicher Anblick. Sie wurden zunehmend komplizierter gestaltet, und entlang den Wegen pflanzte man Buchsbäume, die sich dekorativ schneiden ließen.
In den letzten Jahren sind rund um die Erde viele moderne Irrgärten mit komplizierter Struktur entstanden. Kinder und Erwachsene können sich gleichermaßen dafür begeistern. Es macht Spaß, darin umherzuirren.
[Kasten/Bild auf Seite 24]
Labyrinthe in der Christenheit
In der Londoner Westminsterabtei wurde unlängst dieses bestickte Altartuch eingeführt. Man beachte das Labyrinth in der Mitte mit dem „A“ (Alpha, DER ANFANG) und dem „Ω“ (Omega, DAS ENDE) an den Seiten. In der Mitte dieser Labyrinthfigur steht „I AM“ (ICH BIN), womit Jehova gemeint ist, der große „ICH BIN“, wie er in 2. Mose 3:14 nach der King James Version bezeichnet wird. Dies ist ein interessantes Beispiel für die enge Verbindung zwischen Labyrinthen und Religion in der heutigen Zeit.
[Bildnachweis]
Photo: David Johnson
[Bilder auf Seite 21]
Münzen aus dem 4. und 5. Jahrhundert v. u. Z., die in Knossos (Kreta) gefunden wurden. Man beachte die Labyrinthfigur und den Stierkopf, der für den Minotaurus steht.
[Bildnachweis]
Copyright British Museum
[Bild auf Seite 23]
Das weltgrößte Rasenlabyrinth in Saffron Walden (England)
[Bildnachweis]
Courtesy Saffron Walden Tourist Office