Warum mit Begeisterung sprechen?
IM Jahre 1917 hielt der führende französische Politiker René-Raphaël Viviani im Festsaal der Columbia-Universität in New York eine Rede. Einer seiner Zuhörer, der kein Wort Französisch verstand, sagte danach, die Rede hätte ihn gefesselt. „Er sprach so feurig, daß er mich mitriß“, erklärte er.
Doch du hast bestimmt schon Vorträge gehört, die dich gar nicht gefesselt haben, obwohl du alles verstanden hast, was der Redner sagte. „Ich habe schon manchem prominenten Amerikaner zugehört, der so langweilig gesprochen hat, daß es für die Zuhörer peinlich wurde — sie konnten sich nämlich kaum wach halten“, erklärte ein amerikanischer Anwalt.
Wieso kann ein Redner seine Zuhörer fesseln, ja hinreißen, obwohl er in einer Sprache spricht, die sie nicht verstehen? Und warum sind einige Vorträge, die in einer Sprache gehalten werden, die die Zuhörer verstehen, so langweilig, daß sie dabei fast einschlafen?
Was eine Rede interessant macht
Ob eine Rede die Zuhörer fesselt oder nicht, hängt tatsächlich davon ab, wie sie gehalten wird. Diese Tatsache führte eine ältere Frau einmal einem jungen Prediger deutlich vor Augen. Er fragte sie, wie ihr sein Vortrag gefallen habe. Sie entgegnete, inhaltlich sei er sehr gut gewesen, aber: „Wenn Sie selbst nicht begeistert sind von dem, was Sie sagen, dürfen Sie dann erwarten, daß wir begeistert sind?“
Die Frau hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Was eine Rede interessant macht, ist der Schwung oder die Begeisterung, mit der der Redner über sein Thema spricht. Wenn er aus dem Herzen spricht, wird er seine Zuhörer durch seinen Eifer und seine Begeisterung fesseln. Sie werden aufhorchen. Aber der Redner, dem es an Begeisterung fehlt, wird es schwer haben, seine Zuhörer zu fesseln, sein Vortrag mag inhaltlich noch so wertvoll sein.
Bestimmt möchte daher jeder von uns mit Begeisterung sprechen. Aber was tun, wenn es einem nicht gelingt? Woran liegt das in der Regel? Wie kann man lernen, begeistert zu sprechen?
Eine natürliche Eigenschaft
Glücklicherweise besitzen die meisten Menschen von Natur aus die Fähigkeit, sich zu begeistern. Das sieht man besonders bei Kindern. Wenn du wieder einmal an einem Schulhof vorbeikommst, dann bleib stehen und hör den Kindern zu, die hemmungslos schreien, fröhlich lachen und lauthals miteinander sprechen. Ihre Gespräche sind alles andere als langweilig oder monoton!
Oder vielleicht hast du schon einmal zugehört, wenn ein kleines Kind sich von der Mutter etwas erbettelt. „Mutti, bitte!“ mag das Kind sagen, „laß mich doch mit den andern Mädchen mitgehen. Wir werden nicht lange wegbleiben. Ich verspreche dir, mein Zimmer aufzuräumen, wenn ich zurückkomme! Laß mich doch bitte mitgehen.“ Nicht nur die Worte bringen die Bitte zum Ausdruck, sondern auch die Augen und das ganze Gesicht. Und wenn die Mutter zögert, die Bitte zu gewähren, mag dem Kind eine Träne über die Wange rollen, durch die es seiner Bitte Nachdruck verleiht.
Auch der Erwachsene besitzt noch etwas von dieser natürlichen Empfindungsfähigkeit. Hast du dir schon einmal von einem leidenschaftlichen Angler einiges über seine Anglerfreuden erzählen lassen? Oder hast du schon einmal Frauen zugehört, die sich über eine bevorstehende Hochzeit oder über ein anderes gesellschaftliches Ereignis unterhalten haben? Wie ungehemmt und begeistert können Männer und Frauen reden, wenn sie sich mit Personen unterhalten, die sie gut kennen! Die Gesten kommen dann ganz von allein, auch der Gesichtsausdruck ist ganz natürlich, und sie sprechen, je nachdem, was sie erzählen, lauter oder leiser, mit dem entsprechenden Tonfall, schneller oder langsamer und mit der entsprechenden Betonung. Aber was geschieht, wenn jemand vor einer größeren Gruppe sprechen muß?
Du weißt es. Dann verliert der Redner oft seine Natürlichkeit und Lebhaftigkeit, und er beginnt langweilig und monoton zu sprechen. Warum? Was ist jetzt anders? Eigentlich sehr wenig.
Die Zahl der Personen, die ihm zuhören, mag größer sein, und sie mögen auf Stühlen sitzen, die in Reihen vor ihm stehen. Was sich eigentlich geändert hat, ist nicht zu sehen. Die Veränderung ist nämlich im Denken und in der Haltung des Redners vor sich gegangen. Er mag jetzt unfrei sein. Er mag das Gefühl haben, seine Zuhörer wären kritisch eingestellt und wollten ihn aufs Korn nehmen. Wenn er so denkt, verliert er das Vertrauen zu seiner Fähigkeit, sich auszudrücken, und als Folge davon seine natürliche Begeisterung.
Wie man als Redner Begeisterung entwickeln kann
Möchte man als Redner Begeisterung entwickeln, muß man als erstes seine Zuhörerschaft richtig einschätzen. Nur weil die Zuhörer auf Stühlen sitzen, die in Reihen vor ihm stehen, sind sie nicht zu seinen Feinden geworden, auch sind sie keine Kritiker, sondern es sind Personen, die gekommen sind, um ihm zuzuhören und um zu lernen.
Ferner muß man, um Begeisterung zu entwickeln, aus dem Herzen sprechen. Man muß von dem, was man sagt, überzeugt sein. Oder anders ausgedrückt: Man sollte nur etwas sagen, von dem man auch überzeugt ist. Das ist sehr wichtig, weil man nicht mit Begeisterung über etwas sprechen kann, was man selbst nicht fest glaubt.
Die dritte Bedingung steht in enger Beziehung zu den beiden erwähnten: Man muß an der Botschaft, die man übermitteln möchte, interessiert sein. Man muß von dem erfüllt sein, was man seinen Zuhörern mitteilen möchte. Man denke beispielsweise an den begeisterten Angler.
Es ist kaum zu erwarten, daß er mit derselben Begeisterung seinen Freunden erzählt, was für die kommende Hochzeit seiner Schwägerin geplant ist, wie er über das Angeln spricht. Die Einzelheiten der Hochzeitsvorbereitungen begeistern ihn wenig. Es ist nicht sein Interessengebiet. Aber das Werfen des Köders, das Anbeißen des Fisches, das Festhaken des Fisches und das Spiel, um ihn zu ermüden, ist für ihn von allergrößter Wichtigkeit. Deshalb kann er mit Begeisterung über dieses Thema sprechen.
Ferner muß man sich gut vorbereiten, man muß das Thema beherrschen, möchte man mit Begeisterung darüber sprechen. Der Sportler, der von seinen Erlebnissen beim Angeln erzählt, ist seiner Sache sicher. Er hat sich zweifellos schon oftmals daran erinnert. Er weiß mit Bestimmtheit, daß kein anderer seine Erlebnisse so gut kennt wie er. Das ist eine wichtige Voraussetzung dafür, daß er sie mit Begeisterung erzählen kann. Wenn jemand das Thema nicht beherrscht, über das er sprechen sollte, wird es ihm schwerfallen, das mit Begeisterung zu tun.
Außerdem muß man, um mit Begeisterung sprechen zu können, überzeugt sein, daß die Zuhörer das erfahren müssen, was man zu sagen hat. Wenn du wirklich glaubst, daß ihre Reaktion auf deine Worte für sie Tod oder Leben bedeuten, kann es dir helfen, von Herzen oder mit Begeisterung zu sprechen. Du magst von dem Wunsch, die Botschaft zu übermitteln, so beseelt sein, daß du nicht mehr an dich, sondern nur noch an die Botschaft denkst.
Man kann einen Redner, der von einem solchen Beweggrund angetrieben wird, mit einem Mann vergleichen, der mitten in der Nacht beobachtet, daß ein Mehrfamilienhaus brennt. Der Mann hat nur einen Gedanken: die Bewohner zu warnen. Sie sind in Lebensgefahr! Daher rennt er zum Haus, schlägt mit den Fäusten an die Tür und schreit: „Aufstehen! Das Haus brennt! Flüchtet euch ins Freie!“ Wie äußert er diese Worte? Voll leidenschaftlicher Erregung natürlich.
Was man sagt, miterleben und mitempfinden
Manchmal kommt es jedoch vor, daß ein Redner alle erwähnten Voraussetzungen erfüllt: Er mag keine Furcht vor seiner Zuhörerschaft haben; er mag überzeugt sein von dem, was er zu sagen hat; er mag an seinem Thema aufrichtig interessiert sein; er mag gut vorbereitet sein; und er mag auch überzeugt sein, daß seine Zuhörer in Lebensgefahr sind und sich durch das, was er sagt, retten können. Dennoch spricht er nicht mit Begeisterung. Warum nicht? Was mag die Ursache sein?
Das Problem besteht vielleicht darin, daß er, während er spricht, nicht mitlebt, daß er innerlich nicht beteiligt ist. Er muß, um mitleben zu können und nicht nur Worte zu wiederholen, mitempfinden. Wenn der Angler seine Erlebnisse erzählt, sieht er sich im Geiste knietief in einem rauschenden Bach stehen. Er erlebt wieder die innere Erregung, die er empfand, als der Fisch anbiß und als er abwechslungsweise die Schnur anzog und nachließ, um den Fisch zu ermüden, damit er ihn aus dem Wasser ziehen konnte. Weil er alles noch einmal erlebte, während er erzählte, sprach er mit so großer Begeisterung.
Ein Redner, der einen öffentlichen Vortrag hält, muß dasselbe tun. Angenommen, er hält einen Vortrag über das Loskaufsopfer Jesu Christi, ein Thema, über das er vielleicht schon viele Male gesprochen hat. Aber wenn er den Vortrag hält, muß er erfüllt sein von dem Gedanken an das, was das Opfer Jesu für ihn und seine Zuhörer eigentlich bedeutet. Er muß wieder empfinden, wie dankbar er Jehova Gott und Jesus Christus für diese wunderbare Vorkehrung ist. Er muß daran denken, welch großartige Aussicht die Menschheit dadurch erhält, Leben zu erlangen — ewiges Leben in Glück und vollkommener Gesundheit in einem wiederhergestellten irdischen Paradies! Wie bewegt das sein Herz, während er spricht! — Joh. 3:16; Offb. 21:3, 4.
Wenn der Redner so mitlebt, passiert es ihm nicht, daß er nur Worte oder Gedanken äußert, sondern dann ist auch das Gefühl beteiligt. Er spricht nicht nur mit dem Verstand, sondern auch mit dem Herzen. Daher spricht er mit Begeisterung, obwohl er über dieses Thema schon oft gesprochen hat.
Liebe zu den Zuhörern
Liebe zu den Zuhörern wird es dem Redner besonders erleichtern, so zu sprechen. Wenn er seine Zuhörer liebt, wird er seinen Stoff nicht kühl darlegen, in einer „Vogel-friß-oder-stirb“-Weise, sondern er wird ähnlich empfinden wie Eltern für ihr Kind.
Vielleicht ist ein Kind über die Straße gerannt, ohne auf den Verkehr zu achten. Die Mutter weiß, wie gefährlich das ist. Daher spricht sie ein ernstes Wort mit dem Kind, wobei der Ton ihrer Stimme und die Art, wie sie mit ihm spricht, ihre Besorgtheit verraten. Hört das Kind nicht oder nimmt es die Worte der Mutter nicht ernst, so spricht sie nochmals mit ihm. Sie versucht, ihm eindringlich und mit allem Nachdruck die Gefahren klarzumachen, die damit verbunden sind, wenn man über die Straße geht, ohne auf den Verkehr zu achten.
Auch ein öffentlicher Redner sollte von dem Wunsch beseelt sein, seinen Zuhörern Dinge nachdrücklich klarzumachen, die ihnen von Nutzen sein werden. Er beobachtet daher, wie sie auf das, was er ihnen sagt, reagieren. Merkt er, daß er sie nicht überzeugt oder daß sie ihm aus irgendeinem Grund nicht folgen, so bemüht er sich, alles mit noch größerem Eifer und Nachdruck darzulegen, um sie zu überzeugen oder ihnen zu helfen, seine Darlegungen zu verstehen.
Die Wichtigkeit der Begeisterung
Die Begeisterung ist das A und O einer Ansprache. Unterschätze ihre Bedeutung niemals. Ohne Begeisterung ist eine Rede farblos, und die Zuhörer werden dadurch weder bewegt noch überzeugt. I. M. Flapan, ein früherer Leiter der New Yorker Schule für öffentliches Sprechen, erklärte:
„Die meisten intelligenten Menschen reden sich ein, man könne die Welt durch Vernunft und Logik beeinflussen. Leider stimmt das aber nicht, sondern die Welt wird durch Gefühle und Empfindungen beeinflußt. Ein Redner, der mit Wärme, Aufrichtigkeit und Begeisterung spricht, reißt seine Zuhörer mit.
Begeisterung wirkt überzeugend. Ein inzwischen verstorbener Richter des Obersten Gerichtshofes von New York, James C. Cropsey, sagte einmal, wenn ein Rechtsanwalt, mit dem er nicht übereinstimme, sein Plädoyer mit großem Ernst und großer Begeisterung halte, höre er sehr aufmerksam zu. Der Anwalt erreiche damit, daß er sich sage, vielleicht habe er doch recht.
Man denke auch an die Samariterin, mit der Jesus Christus einmal sprach, als er um die Mittagszeit an einem Brunnen saß. Wie die Bibel berichtet, nannte er der Frau aufgrund seines übernatürlichen Wahrnehmungsvermögens einige Einzelheiten aus ihrem persönlichen Leben. Das überzeugte sie, daß Jesus der verheißene Messias oder Christus war; sie lief daher in die Stadt zurück und erzählte den Leuten, was sie erlebt hatte. Wir lesen in der Bibel: „Viele der Samariter aus jener Stadt glaubten nun an ihn [Jesus] wegen des Wortes der Frau, die zum Zeugnis sagte: ,Er hat mir alle Dinge gesagt, die ich getan habe.‘“ — Joh. 4:6-39.
Ist das nicht erstaunlich! Viele Leute glaubten an Jesus nur wegen dem, was diese Frau — dabei war es noch eine Frau, die einen unsittlichen Lebenswandel führte — ihnen erzählt hatte! (Joh. 4:18) Mit welcher Begeisterung und welchem Feuer sie die Dinge über Jesus erzählt haben mußte! Begeisterung überzeugt tatsächlich, sie läßt das, was man sagt, als glaubwürdig erscheinen.
Sprich also mit Begeisterung. Versenke dich ganz in dein Thema. Denke daran, daß das, was du sagen möchtest, die Wahrheit ist. Wenn du den brennenden Wunsch hast, das, was du vorbereitet hast, deinen Zuhörern zu übermitteln, wirst du auch aus dem Herzen sprechen. Wenn du so mit Begeisterung sprichst, werden dir deine Zuhörer nicht nur aufmerksam folgen, sondern du wirst sie auch überzeugen, so daß sie dann entsprechend handeln.