Wie sie die Vitamine entdeckten
DIE Beine des Seemanns waren so geschwollen, daß er nicht gehen konnte. Sein Kapitän setzte ihn in der Hoffnung, die Ausbreitung des gefürchteten Skorbuts aufzuhalten, auf einer einsamen Atlantikinsel ab. Der Kapitän war sich dessen bewußt, daß der arme Kerl den Tod vor Augen hatte, aber vielleicht konnte auf diese Weise die Mannschaft gerettet werden.
Der verlassene Mann kaute frisches Gras, das er auf der Insel hier und da in Büscheln fand. Zu seinem Erstaunen konnte er nach einigen Tagen etwas gehen. Er kam bald wieder zu Kräften, und schließlich gelang es ihm, von einem vorbeifahrenden Schiff aufgenommen zu werden, und er kehrte in sein Londoner Zuhause zurück. Male dir aus, welchen Schock seine ehemaligen Schiffskameraden erlitten, als sie ihn zum erstenmal sahen — es war, als ob er auferweckt worden wäre!
Die Geschichte des Seemannes, der „wie ein Tier Gras aß und lebte“, war für einen schottischen Chirurgen, Dr. James Lind, von großem Interesse. Da er selbst einmal bei der britischen Flotte gewesen war, dachte er an die Tausende von Seeleuten, die jährlich an Skorbut starben. Er stellte sich einige Fragen: Hat das Gras einen Bestandteil, den die normale Nahrung des Menschen nicht hat? Besteht eine Verbindung zwischen Skorbut und Ernährungsweise? Durch den Entschluß, Versuche durchzuführen, wurde Lind für ein wichtiges Kapitel in der Entdeckungsgeschichte der Vitamine verantwortlich.
Das soll nicht heißen, daß Dr. Lind nach einem Vitamin suchte. Dieses Wort war vor 1911 unbekannt. Die Entdeckung der meisten Vitamine erfolgte in Wirklichkeit insofern zufällig, als die Forscher bestimmte Krankheiten bekämpften und nicht die Nahrung oder die Ernährung erforschten.
Außerdem gibt es in dieser Geschichte nicht einen einzelnen Helden, sondern Männer aus vielen Ländern haben durch ihre Bemühungen einen Beitrag geleistet. Der einzelne „Pionier“ zog meist keinen Nutzen aus den Entdeckungen der anderen, da damals die Vorzüge der modernen Kommunikationsmittel nicht vorhanden waren. Der Spott zeitgenössischer Ärzte und Wissenschaftler ließ die Bemühungen dieser Männer zu einer Geschichte des Mutes, der Ausdauer und des Erfolges werden.
Die Geschichte des Vitamin C
„Am 20. Mai 1747 nahm ich zwölf Skorbutpatienten auf ...“, heißt es zu Anfang des Berichts von Dr. Lind. Gemäß seinen Schlußfolgerungen „wurden die raschesten und die besten sichtbaren Erfolge durch die Verwendung von Orangen und Zitronen erreicht; diejenigen, die damit behandelt wurden, waren nach sechs Tagen arbeitsfähig“.
Zeigten sich die Ärzte seiner Tage darüber erfreut? Nein. Im Gegenteil, der Gedanke, daß durch eine bestimmte Ernährung Skorbut hervorgerufen wird, wurde bespöttelt und nicht anerkannt. Tranken nicht die Mannschaften einiger Schiffe Zitronensaft und litten trotzdem an Skorbut? Das stimmte zwar, aber sie kochten den Zitronensaft und zerstörten dadurch das, was uns als Vitamin C bekannt ist.
Endlich, ungefähr siebenundvierzig Jahre später, erhielt Lind von der britischen Admiralität die Erlaubnis, sein Experiment zu wiederholen. Man rüstete eine ganze Schiffsflotte mit ungekochtem Zitronensaft aus, der für eine dreiundzwanzigwöchige Seereise reichte. Die Ergebnisse waren so aufsehenerregend, daß der Zitronensaft (später durch Limonensaft ersetzt) ein Jahr danach, nämlich 1795, in den regulären Speiseplan britischer Seeleute aufgenommen wurde. Der Skorbut war nicht mehr der „Meister der Wellen“, und sogar heute noch haben britische Seeleute den Spitznamen „limey“ (von „lime“, was Limone bedeutet).
Allerdings dauerte es sehr lange, bis man den Grund für die Wirksamkeit der Zitronen und anderer Früchte und Gemüsearten herausfand. Im Jahre 1905 beschrieb ein Niederländer, Professor Pekelharing, seine Schlußfolgerungen über seine Versuche mit Mäusen: „In der Milch befindet sich ein unbekannter Stoff, der für die Ernährung von höchster Wichtigkeit ist, selbst wenn man extrem wenig davon einnimmt.“ Er zeigte, daß sogar bei scheinbar ausreichender Ernährung (Fette, Eiweiße, Kohlehydrate) die Mäuse jeweils starben, wenn dieser unbekannte Stoff fehlte. Unglücklicherweise wurde sein Bericht lediglich in Niederländisch veröffentlicht und erreichte keine weite Verbreitung.
Trotz solcher Rückschläge wurde die Vorstellung, daß notwendige „geheimnisvolle Bestandteile“ vorhanden sind, schließlich veröffentlicht und anerkannt. Auch wenn man noch so große Mengen guter Nahrungsmittel zu sich nehmen würde, könnte es sein, daß man nicht die „notwendigen Bestandteile“ bekommt. Sie sind kein Kraftstoff für den Körper, werden aber irgendwie für die Chemie des Körpers benötigt. Könnte man einen von diesen Stoffen isolieren?
Gleich zu Beginn des 20. Jahrhunderts entdeckten verschiedene Arbeitsgemeinschaften von Wissenschaftlern „eine heiße Spur“, die zu dem geheimnisvollen „Antiskorbutstoff“ führte. 1931 gewann man aus Zitronensaft ein Konzentrat, das 20 000mal so wirksam war wie der Originalsaft. Darauf folgten große Anstrengungen, die genaue Beschaffenheit dieser lebenswichtigen Verbindung herauszufinden. Sobald nämlich die Molekülkette dieses Stoffes oder sein Aufbau bestimmt wäre, könnte man ihn künstlich herstellen und in großen Mengen auf den Markt bringen. Und so kam es, daß um das Jahr 1935 das Vitamin C (das auch bezeichnenderweise den Namen Ascorbinsäure erhielt) das erste „reine“ Vitamin war, das aufgrund einer großangelegten Produktion für die Allgemeinheit verfügbar wurde.
Bei der Suche nach einer Heilmethode für Skorbut entdeckte man jedoch mehr als nur ein Vitamin. Man lernte, daß Krankheiten nicht immer durch eine Infektion oder durch Bakterien hervorgerufen werden. Manchmal werden sie durch mangelhafte Ernährung verursacht.
Die Vitamin-B Gruppe
Die ersten Anhaltspunkte für die Existenz der B-Vitamine ergaben sich beim Kampf gegen die gefürchtete Beriberikrankheit, die Herz und Nerven angreift. Beriberi beeinträchtigt auch das Verdauungssystem. Unsere Geschichte führt uns wieder zur See.
Zu Beginn der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts begaben sich zwei Schiffe unter der Führung des jungen japanischen Regimentsarztes Kanehiro Takaki von Japan aus auf fast gleiche Reiserouten, allerdings mit unterschiedlicher Verpflegung. Auf dem ersten Schiff gab es die übliche Reiskost zusammen mit etwas Gemüse und Fisch. Auf dem zweiten Schiff dagegen wurden außerdem Weizen und Milch und noch mehr Fleisch serviert als auf dem ersten Schiff. Die Ergebnisse waren überzeugend. Auf dem ersten Schiff wütete die Beriberikrankheit und kostete 25 Seeleuten das Leben. Auf dem zweiten Schiff waren keine Toten zu beklagen. Kurze Zeit später gelang es Takaki, die japanische Admiralität davon zu überzeugen, für die gesamte Kriegsmarine eine neue Verpflegung einzuführen.
Wahrscheinlich hättest du erwartet, daß man in England der Veröffentlichung dieser Nachricht großes Interesse entgegenbrachte; das war allerdings nicht der Fall. Es blieb vielmehr einem jungen Niederländer, Christiaan Eijkman, vorbehalten, die westliche Welt davon zu überzeugen, welchen Wert die Ernährung im Kampf gegen Beriberi hat.
Als Eijkman auf Java arbeitete, wo zu jener Zeit die Beriberi grassierte, machte er eine Beobachtung, die seine gesamte Auffassung über das Problem änderte. Einige Hühner, die man sich dort zu Versuchszwecken hielt, setzte man dem aus, was man damals für eine Beriberi„infektion“ hielt. Statt zu sterben, erholten sie sich alle im Laufe der Zeit. Eijkman fragte sich, wie das geschehen konnte. Er prüfte jeden möglichen Faktor und fand lediglich einen Anhaltspunkt. Man hatte die Hühner eine Zeitlang auf polierten „weißen“ Reis gesetzt, gab ihnen dann jedoch wieder ihre gewöhnliche Kost, den einheimischen, unpolierten „braunen“ Reis.
Durch Versuche an Menschen wies Eijkman bald nach, daß diejenigen, die nichtraffinierten Reis aßen, nicht an Beriberi erkrankten, wogegen das bei denen der Fall war, die den vermeintlich besseren, polierten Reis aßen. Anfänglich wurde diese Erklärung, die scheinbar „zu einfach war, um glaubhaft zu sein“, abgelehnt, aber Eijkman unterstützte seine Behauptungen durch vermehrte Forschungen.
Es blieb jedoch anderen überlassen, seine Ansicht vollständig zu rechtfertigen. Der „wichtige Stoff“ in der Reisschale wurde schließlich von dem polnischen Chemiker Kazimierz Funk isoliert. Später gelang es R. R. Williams, einem amerikanischen Chemiker, im Laufe mehrerer Jahre, die Molekularstruktur des Vitamins zu bestimmen, dem man den Namen Thiamin (Vitamin B1) gab, und er konnte dessen künstliche Herstellung entwickeln.
Doch erkannte man bei der Entdeckung des Thiamins bei weitem nicht, welche Größe und welche Aufgaben die Vitamin-B-Gruppe hat. Diese Tür sollte jedoch im Kampf gegen das Pellagra geöffnet werden.
Im Italienischen bedeutet „pellagra“ „rauhe Haut“. Diese Krankheit umfaßt aber viel mehr. Sie kann schließlich zum Wahnsinn und zum Tod führen. Viele einzelne „Pioniere“ sahen — und das hat sich in der Geschichte der Vitamine oft als richtig erwiesen — eine Verbindung zwischen der Krankheit und der Ernährungsweise. Da Pellagra meist unter der Landbevölkerung auftrat, die sich hauptsächlich von Mais ernährte, schrieb man sogar noch Mitte des neunzehnten Jahrhunderts diese Krankheit einem „Maisgift“ und einer „Infektion“ zu.
Im Jahre 1915 starben allein in den USA mehr als 10 000 Menschen an Pellagra. Da es sich so rasch ausbreitete, sandte die Gesundheitsbehörde (United States Health Department) Herrn Dr. Joseph Goldberger in den tiefen Süden, wo diese Plage epidemische Ausmaße erreicht hatte.
Was Goldberger vorfand, war erschreckend — die Betroffenen waren teilnahmslos, in sich zusammengesunken und von Flecken übersät. Angesichts der vielfach unzureichenden Hygiene — überall krabbelten Fliegen — hätte er sich bei der Suche nach der wahren Ursache leicht irreführen lassen können. Aber Goldberger hatte den Verdacht, daß eine falsche Ernährung die Erklärung dafür sei. Er hatte bemerkt, daß in staatlichen Pflegeanstalten die Patienten an Pellagra erkrankten, nicht dagegen das Personal. Wieso? Zwischen beiden Gruppen bestand ein regelmäßiger Kontakt. Allerdings gehörten zur Verpflegung des Personals Milch, Fleisch und Eier, wogegen die Patienten hauptsächlich von Getreide lebten.
Obwohl Zeitungen in ihren Artikeln die Ergebnisse seiner Forschungen über die Notwendigkeit des Eiweißes veröffentlichten, verbreitete eine Kommission die Ansicht, daß Pellagra eine Infektionskrankheit sei, die durch den Stich der Stallfliege übertragen werde. Goldberger war empört. Er war der festen Überzeugung, daß weitere Tausende von Menschen sterben würden, solange nicht die Ernährung als Ursache erkannt würde. Was konnte er tun, um zu beweisen, daß nicht eine Infektion die Ursache war?
Er kündigte an, daß er und fünfzehn andere Freiwillige sich unter ärztlicher Aufsicht „infizieren“ würden, indem sie den Schleim von Pellagraopfern in ihren Körper aufnehmen würden. Viele zeigten sich sehr überrascht, als keiner der Freiwilligen an Pellagra erkrankte. Von da an wurde Goldbergers Schlußfolgerung anerkannt, daß eine Kost, die hauptsächlich aus Maismehl, Reis und Schweinefett besteht, zur Erkrankung an Pellagra führt.
Goldberger fand aber niemals den eigentlichen Stoff, der die Krankheit verhinderte, die er bekämpfte. Er verlor immer wieder die Spur. Wir können uns ein Bild von seinen Schwierigkeiten machen, wenn wir uns dessen bewußt sind, daß das Vitamin B in Wirklichkeit eine Gruppe komplizierter Stoffe ist, die man nicht leicht voneinander trennen kann. Erst im Jahre 1937 konnte ein anderer Forscher, Dr. Conrad Elvehjem, als er mit Leberkonzentraten arbeitete, die Nikotinsäure isolieren.
Heute wird Nikotinsäure als notwendiger Bestandteil unserer Nahrung angesehen. Ohne Nikotinsäure können andere B-Vitamine in unserem Körper nicht richtig arbeiten. Die Vitamin-B-Gruppe wird immer noch intensiv erforscht, wobei man gegenwärtig ungefähr fünfzehn dazugehörige Vitamine unterscheidet. Es ist allgemein anerkannt, daß sie, zum Beispiel bei der Verhütung von Pellagra, am wirksamsten als „Team“ sind.
Vitamin K — der augenblickliche Erfolg
Freilich wurden nicht alle Vitamine bei der Suche nach einem Heilmittel gegen eine Krankheit entdeckt. In den letzten Jahren hat die Vitaminforschung eine neue Richtung eingeschlagen. Man hat sich mehr auf die Ernährung konzentriert — auf welche Weise jedes neuentdeckte Vitamin im Kampf gegen mehrere verschiedene Krankheiten oder Gesundheitsrisiken eine Hilfe sein könnte.
Ein gutes Beispiel dafür ist das Vitamin K. Man vermutete seine Existenz zum erstenmal im Jahre 1929, „isolierte“ es kurz darauf, und seit 1939 ist es im allgemeinen Gebrauch. Man benötigte in dem Fall lediglich zehn Jahre. Im Vergleich zur Geschichte der Vitamine können wir das Vitamin K als einen augenblicklichen Erfolg bezeichnen.
Das Vitamin K entdeckte man bei Versuchen mit Hühnern. Man stellte fest, daß ihr Blut bei einer bestimmten Ernährung die Gerinnungsfähigkeit verlor. Das Blut der Hühner gerann schneller, wenn man ihnen Futter mit Sojabohnenkeimlingen gab. Schließlich kam ans Licht, wie wichtig das Vitamin K für die normale Blutgerinnungsfähigkeit ist. Dieses Vitamin wird unter anderem dazu verwendet, Neugeborenen, deren Blut oft eine schlechte Gerinnungsfähigkeit hat, zu einem gesunden Start ins Leben zu verhelfen.
Noch mehr in Aussicht?
Als der Chemiker Funk das Wort „Vitamine“ prägte, ging er davon aus, daß der von ihm entdeckte Stoff vita (lebensnotwendig) sei und ein (stickstoffhaltiges) Amin sei. Wenn auch nicht alle Vitamine Stickstoff enthalten, hat ihm die Zeit in dem wichtigeren Gesichtspunkt recht gegeben. Obwohl ein typisches Vitamin, zum Beispiel das Thiamin, möglicherweise nur 0,001 Prozent einer ausreichenden Nahrung ausmacht, ist es lebensnotwendig.
Trotz allem bedeutet das nicht, daß alle Auseinandersetzungen um Vitamine nur Geschichte sind; die Diskussion hält an. Heute drehen sich die Meinungsverschiedenheiten um die empfohlenen Dosierungen und die Unterschiedlichkeit in der Anwendung. Vielleicht hast du schon in deiner Lokalzeitung einander widersprechende Artikel über den Wert von Vitaminstößen gelesen.
Im allgemeinen wird jedoch anerkannt, daß die Männer, die die Vitamine entdeckten, einen „Freund“ entdeckten. Zudem geben Wissenschaftler bereitwillig zu, daß die Liste der ungefähr fünfundzwanzig „entdeckten“ Vitamine wahrscheinlich zunehmen wird. Sie geben allerdings zu bedenken, daß es keine Grundlage dafür gibt, die Vitamine als Allheilmittel für sämtliche Gesundheitsprobleme zu betrachten. In Wirklichkeit kann die Überdosierung einiger Vitamine schädlich sein.
Unsere Lage scheint also der des verlassenen britischen Seemannes sehr zu ähneln. Er fand auf seiner einsamen Insel nicht den „Jungbrunnen“. Doch wie dankbar muß er gewesen sein, als er durch das vitaminreiche Gras wieder zu Kräften kam! Wir sollten gleichermaßen dankbar sein für unsere begrenzten Kenntnisse von diesen winzigen lebensnotwendigen Verbindungen — unseren Vitaminen.