Gewalt im Sport — Warum der Anstieg?
SEIT eh und je gilt Sport als gesund. Schon die Ärzte der alten Griechen waren der Meinung, Sport in Maßen sei der Gesundheit förderlich.
Doch heutzutage sind viele Sportereignisse alles andere als gesundheitsfördernd — weder für die Akteure noch für die Zuschauer. Die Gewalt im Sport hat solche Ausmaße erreicht, daß das Europäische Parlament eine ausführliche „Entschließung zu Rowdytum und Gewalttätigkeit im Sport“ angenommen hat. Alarmiert durch die Brutalität der Zusammenstöße zwischen den Spielern oder den Fans der gegnerischen Mannschaften vor und nach den Sportereignissen, untersuchten die Mitglieder des Europäischen Parlaments sowohl das Phänomen in seinen verschiedenen Formen und seine Ursachen als auch mögliche Maßnahmen zu seiner Eindämmung. Zu welchem Ergebnis sind sie gekommen? Welche Formen hat die Gewalt im Sport angenommen?
Eine weitverbreitete Erscheinung
Fußball, der beliebteste Sport der Welt, wird dabei am heftigsten kritisiert, aber das Problem besteht bei fast allen Sportarten. Bei der Fußball-Europameisterschaft 88 in der Bundesrepublik Deutschland kam es wiederholt zu Gewaltausbrüchen. Nach einem Spiel ihrer Nationalmannschaft brachen die britischen Fans eine wilde Schlägerei vom Zaun, bei der großer Sachschaden entstand, Polizisten verwundet und 300 Personen festgenommen wurden. Nach einem Sieg des italienischen Teams starben drei Menschen im Begeisterungstaumel.
Die berüchtigten britischen Hooligans lösen, wo immer sie auftauchen, Panik aus und tragen gemäß der Zeitung The Guardian dazu bei, „den Ruf des englischen Fußballs zu Hause und im Ausland zu ruinieren“. Während einer einzigen Saison sprachen die Montagsausgaben der italienischen Sportzeitungen einige Male von „schwarzen“ Sonntagen — Tage, an denen Sportveranstaltungen in ein Szenario von Verletzung, Zerstörung, Chaos und Tod ausarteten. Sportanlagen sind, wie es eine Zeitung ausdrückte, zu „Guerilla-Stadien“ geworden. Doch solche Zustände herrschen nicht nur in Großbritannien und Italien. Auch die Bundesrepublik Deutschland, die Niederlande, die Sowjetunion, Spanien und viele andere Länder müssen sich mit den gleichen Problemen auseinandersetzen.
Der Krieg der Fans
Einige Fans lassen, aufgepeitscht durch die Massenmedien, bei Sportereignissen ihren niederen Instinkten freien Lauf. Die italienischen ultrà und die britischen Hooligans versammeln sich zu Fußballspielen hinter Spruchbändern mit Aufschriften wie „Rote Armee“ und „Tigerkommando“. Der Fußballfan will, so ein Hooligan, „kämpfen, um das Gebiet der Gegner zu erobern“. Die Situation in den Stadien unterscheidet sich kaum von der in den römischen Arenen, in denen die Zuschauer die Gladiatoren anfeuerten, den Gegner niederzumetzeln. Die Sprechchöre der Fans sind durchsetzt mit Obszönitäten und rassistischen Parolen.
Oft haben die Fans gefährliche Waffen bei sich. Durchsuchungen, die die Polizei vor Spielen durchführte, brachten ganze Waffenarsenale zum Vorschein: Messer, Leuchtpistolen und Billardkugeln. Auf die Zuschauerblöcke britischer Stadien regnete es eisenspitzenbewehrte Wurfpfeile.
Maßnahmen der Regierungen
In der Resolution des Europäischen Parlaments wurden die Regierungen aufgefordert, wirksame Maßnahmen zu ergreifen, die Gewalttätigkeit im Sport einzudämmen. Die britische Regierung hat unter der Führung von Premierministerin Margaret Thatcher entsprechende Schritte unternommen. Frau Thatcher hat auf strengere Gesetze gedrängt, zum Beispiel eine Ausweispflicht für Stadionbesucher. Bei Gewalttätigkeiten seitens des Ausweisinhabers soll ihm der Ausweis entzogen werden. Weiterhin plant man, sowohl neue wie auch alte Stadien mit Videoüberwachungssystemen auszurüsten, Barrieren zur Trennung der gegnerischen Anhänger zu errichten und jegliches brennbare Material zu entfernen. In die Hooligan-Gangs — die gewalttätigsten Fan-Gruppen — sind Polizisten eingeschleust worden, um die Anführer herauszufinden und festzunehmen.
Auch in anderen Ländern wurde einiges unternommen. Die italienischen Sportfunktionäre haben in Zusammenarbeit mit dem Innenministerium beschlossen, in den Stadien Stacheldraht einzusetzen sowie Schutznetze, Hubschrauber, große Polizeiaufgebote und Videoüberwachung. Man hat sogar daran gedacht, das Militär einzuschalten. Als Vorbereitung auf die Olympischen Spiele 1988 in Seoul (Südkorea) wurden Polizisten für die Terrorbekämpfung ausgebildet.
Schiedsrichter sind ebenfalls die Zielscheibe von Gewalttaten. Innerhalb einer Fußballsaison wurden in Italien 690 Schiedsrichter angegriffen. Bei den olympischen Boxkämpfen in Seoul wurde ein Ringrichter von Trainern und sogar von Polizisten, die mit seiner Entscheidung nicht einverstanden waren, heftig attackiert.
Abgesehen von der Gefahr für die Menschen, kostet die Gewalt im Sport beträchtliche Summen. Es geht nicht nur um den Schaden aufgrund von Diebstählen, Plünderungen und Zerstörungen, der in die Hunderttausende geht, sondern auch um die Kosten für die vorbeugenden Maßnahmen. An einem gewöhnlichen Fußballtag in Großbritannien kostet allein der Polizeischutz umgerechnet 700 000 Dollar.
Woher kommt diese Aggressivität?
Gewalt — zurückzuführen auf die Art und Weise, wie Sport betrieben wird
Heutzutage ist Sport mit aggressiver Gewalt verbunden. Interessanterweise hat die Kommission, die den Entschließungsantrag für das Europäische Parlament erarbeitet hat, darauf hingewiesen, daß „Gewalt kein wesentlicher Bestandteil des Sports ist, sondern auf die Bedingungen zurückzuführen ist, unter denen Sport heute betrieben wird, und darauf, daß gewissermaßen die Spielregeln nicht an diese Bedingungen angepaßt wurden“. Was steckt dahinter?
Abgesehen von den Gewalttaten der Fans, hat sich auch die Art und Weise, Sport zu treiben, geändert. Das Europäische Parlament spricht von der „zunehmenden Gewalt in der Gesellschaft“ an sich. Außerdem zählt in der Welt des Sports nicht mehr nur die sportliche Leistung. Bei den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit, die 1896 in Athen stattfanden, wurde beispielsweise eine Gruppe britischer Athleten disqualifiziert, weil sie vor Beginn der Spiele trainiert hatten. Allein diese Tatsache galt als Verstoß gegen das Amateurideal, das man zu jener Zeit verfocht. Heute würde man darüber wohl nur lächeln.
Seit dem Ersten Weltkrieg und ganz besonders seit dem Zweiten haben die Menschen in den Industrieländern immer mehr Freizeit. Die Entspannung ist schnell zu einem einträglichen Tummelplatz für die Geschäftswelt geworden. Neben nationalen und gesellschaftlichen Interessen hat jetzt auch die Wirtschaft ihren Platz. Heutige Sportveranstaltungen sind ein „Spektakel ..., bei dem vorwiegend wirtschaftliche, politische und soziale Faktoren im Spiel sind“. Mit anderen Worten: Der Sport hat sich zu einer „Massenveranstaltung“ entwickelt. Der Sieg bringt den Siegern oft Millionen ein. Das Fernsehen hat ebenfalls zur Popularität des Sports beigetragen und vielleicht auch zu dessen Auswüchsen. Häufig verweilen die Kameras viel eher bei einer gewalttätigen Szene als bei anderen, und diese Szene erscheint wieder und wieder in Zeitlupe. So könnte das Fernsehen unabsichtlich die Wirkung, die die Gewalt im Sport auf künftige Fans und Spieler hat, verstärken. Den Amateur gibt es kaum noch, an seine Stelle ist der „Berufsamateur“ getreten, wie ihn eine Zeitung nannte, als sie über die Zehntausende von Dollar schrieb, die die Athleten bei der Olympiade 88 in Seoul eingenommen haben.
Zufolge des Nationalismus messen Akteure, Trainer, Manager und Zuschauer dem Sieg einen übertriebenen Stellenwert bei. Nach gewissen internationalen Sportwettkämpfen wird den Gewinnern ein triumphaler Empfang bereitet, geradeso wie den siegreichen Heerführern der alten Zeiten. Das konnte man in den letzten Jahren in Italien, Argentinien und in den Niederlanden beobachten, wo die Akteure wirklich bis zum letzten Atemzug skrupellos kämpften. Und die Fans tun es ihnen gleich. Weit über das Erträgliche hinausgehend, zeigen sie ihre Loyalität gegenüber ihrer Mannschaft oder ihrem Land, indem sie vor, während und nach den Sportereignissen wüste Schlägereien anzetteln.
Vor Beginn der Fußball-Europameisterschaft 88 schrieb Der Spiegel, man befürchte, das Ereignis könne „als idealer Nährboden für ein hochbrisantes Gemisch aus latenter Gewaltneigung, Nationalismus und Neofaschismus dienen“.
Eine andere Form der Gewalt
Doch das ist noch nicht alles, was zu Gewalt und Sport zu sagen ist. Bei der Olympiade 1988 in Seoul kam es zum Dopingskandal. Doping ist die unerlaubte Einnahme von Präparaten, die dem Sportler mehr Energie verleihen und ihn zu Leistungen befähigen, die seine normalen Körperkräfte übersteigen. Dadurch wird sowohl dem Sportgeist als auch der Gesundheit der Sportler Gewalt angetan.
Welche Ausmaße hat diese Erscheinung angenommen?
[Herausgestellter Text auf Seite 6]
Häufig verweilen die Kameras bei einer gewalttätigen Szene, und diese Szene erscheint wieder und wieder in Zeitlupe
[Bild auf Seite 7]
Zufolge des Nationalismus wird dem Sieg ein übertriebener Stellenwert beigemessen
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Nancie Battaglia