Flamenco war unser Leben
GITARRE spielen und Trompete blasen ist zweierlei. Obwohl ich seit meinem 17. Lebensjahr die Flamenco-Gitarre liebe, war es die Trompete, die in gewisser Hinsicht mein Leben veränderte. Das geschah 1975, als ich bei der spanischen Luftwaffe diente. Doch zuerst möchte ich gern erklären, wie ich die Gitarre liebenlernte.
Ich bin in Verdun aufgewachsen, einem Arbeitervorort von Barcelona, Spaniens bedeutendem Mittelmeerhafen. Mein Vater ist ein leidenschaftlicher Flamenco-Dichter. Mutter ist Flamenco-Sängerin. (Flamenco ist ein jahrhundertealter einzigartiger Musik-, Gesangs- und Tanzstil aus Andalusien, der auf die Zigeuner, Araber und Juden zurückgeht.) Meinem Vater, der aus Baena (Córdoba) in Andalusien kommt, war die Liebe zum Flamenco in die Wiege gelegt worden, und er ermutigte mich, Gitarre zu lernen. Ich nahm also zwei Jahre Privatunterricht und sah mich dann nach einem Job um. Der war nicht schwer zu finden, denn Flamenco ist in Spanien wegen der vielen Touristen immer gefragt.
Ein Flamenco-Duo wird gegründet
Nachdem ich meinen Militärdienst abgeleistet hatte, arbeitete ich in Barcelona in einem tablao, der El Cordobés hieß. Unser spanisches Wort tablao oder tablado, das sich auf eine Flamenco-Show bezieht, kommt von der aus tablas oder Bohlen gebauten Holzbühne, auf der man den Flamenco tanzt. Ich begleitete die Tänzer, Tänzerinnen (bailaores und bailaoras) und Sänger (cantaores) — die übliche Besetzung einer Flamenco-Show — auf der Gitarre. Für diejenigen, die mit Flamenco-Gesang und -Tanz nicht so vertraut sind, möchte ich anmerken, daß der Flamenco eine Kunst ist, die möglicherweise bis in die Zeit der Besetzung Spaniens durch die Araber (8. bis 15. Jahrhundert) zurückgeht. Er wurde früher hauptsächlich von Künstlern aus den Reihen der Zigeuner aufgeführt.
Während ich im El Cordobés spielte, imponierte mir eine junge Tänzerin, die zu unserer Truppe gestoßen war. Sie hieß Yolanda, kam aus Katalonien und war eine zierliche, lebensprühende Tänzerin mit schwarzem Haar und dunklen Augen. Sie veränderte mein Leben, denn sie wurde meine Frau. Wir wurden 1978 in einer katholischen Kirche in Santa Coloma de Gramanet in der Nähe von Barcelona getraut. Wie war sie in die Welt des Flamenco gekommen? Das soll sie selbst erzählen.
Musik und Tanz lagen mir im Blut
Yolanda: Von klein auf gehörte spanische Musik zu meinem Leben. Vater hörte gern Sardanas, eine typisch katalanische Musik; Mutter und Großmutter sangen oft die fröhlichen Jotas von Aragonien. Da ich Probleme mit den Füßen hatte, sollte ich mich auf ärztlichen Rat hin mehr bewegen. Deshalb erhielt ich Ballettunterricht. Mit sieben Jahren sah ich ein Mädchen Flamenco tanzen, und weil mir das so sehr gefiel, brachte mich meine Mutter in einer Flamenco-Schule unter.
Ich machte mich gut und trat in peñas flamencas oder kleinen Flamenco-Theatern auf. Als ich 14 Jahre alt war, sahen meine Mutter und ich einmal bei einem Spaziergang auf der berühmten Rambla de las Flores in der Stadtmitte Barcelonas ein Schild, das auf den Tablao Flamenco: El Cordobés hinwies. Mutter schlug vor, dort zu fragen, ob sie eine Tänzerin brauchten. Noch am selben Abend wurde ich eingestellt. Und wer war der Gitarrist? Francisco (Paco) Arroyo, den ich später heiratete! Jetzt kann er die Geschichte weitererzählen.
Eine Trompete und eine Wende
Was hat wohl die Trompete mit meiner Geschichte zu tun? 1975 diente ich bei der Luftwaffe (Academia General del Aire) im Militärgefängnis von La Manga del Mar Menor in der Provinz Murcia. Ich war der Trompeter und blies tagsüber zum Appell der Fähnriche.
Während ich dort meinen Dienst ableistete, fiel mir ein junger Häftling auf, ein ruhiger und einfacher Mann. Ich wunderte mich, daß er im Gefängnis war. Schließlich fragte ich ihn. Zuerst zögerte er wegen der Gefängnisvorschriften, mit mir zu reden, aber ich ließ nicht locker. Ich wollte es wissen. Er sagte mir, er sei ein christlicher Kriegsdienstverweigerer und lehne aufgrund seiner persönlichen Überzeugung als Zeuge Jehovas den Wehrdienst ab. Ich wollte mehr über seine Glaubensansichten erfahren, und so erklärte er mir, daß er an die Bibel glaube und daß die gegenwärtigen Weltverhältnisse eine Erfüllung biblischer Prophezeiungen seien. Ich hatte die Bibel nie zuvor gelesen, deshalb fragte er mich, ob ich gern eine hätte. Ich sagte ja.
Wie sollte es ihm als Häftling, dem das Predigen verboten war, jedoch möglich sein, mir eine Bibel zu verschaffen? Eines Tages brachten ihm Mitgläubige einen Korb voll Orangen, und darin verborgen waren eine Bibel und das Buch Die Wahrheit, die zu ewigem Leben führt. Er steckte mir die Publikationen heimlich zu, aber danach sah ich ihn nicht mehr. Kurz darauf verließ ich die Luftwaffe und ging nach Barcelona zurück. Wenn ich nur seinen Namen wüßte! Ich würde ihn so gern wiedersehen, weil er als erster dazu gebraucht wurde, mir die biblischen Wahrheiten näherzubringen.
Immer mehr Abstand zum Flamenco
Wie gesagt hatten Yolanda und ich geheiratet. Ungefähr ein Jahr später klopfte jemand bei uns. Yolanda öffnete zwei Zeugen Jehovas die Tür. Ich sagte ihr, sie solle sie wieder fortschicken. Dann erinnerte ich mich an den jungen Mann im Gefängnis und an die Bücher, die er mir gegeben hatte. Ich bat sie herein und stellte ihnen viele Fragen. Ein weiterer Besuch wurde vereinbart, und in der folgenden Woche begannen wir ein Bibelstudium.
Bald stellte sich die Familie gegen mich. Mein Vater sagte: „Mir wäre lieber, du wärst ein Dieb als ein Zeuge Jehovas.“ Aufgrund dieses Widerstands dachte ich, es sei besser für uns, in einem anderen Land zu arbeiten — weit weg von der Familie. Daher schlossen wir 1981 einen Arbeitsvertrag für Venezuela ab. Kurz nach unserer Ankunft begannen Missionare mit uns ein Bibelstudium. Eine Zeitlang waren wir mit den Zeugen verbunden, ohne wirkliche Fortschritte zu machen. 1982 zogen wir schließlich in die Vereinigten Staaten, wo wir in einem spanischen Restaurant in Los Angeles (Kalifornien) arbeiteten.
Gegen den Willen aller unserer Angehörigen ließen wir uns 1983 endlich taufen, und zwar in Los Angeles. Mein Vater war so empört darüber, daß er mich aufforderte, seinen Familiennamen, Arroyo, von meinem Namen zu streichen. Inzwischen hat sich jedoch seine Einstellung geändert, und heute erlaubt er den Zeugen sogar, ihn zu besuchen. Eine meiner Schwestern studiert jetzt ebenfalls die Bibel.
Da wir in der Welt des Flamenco völlig aufgingen, brauchten wir recht lange bis zu unserer Taufe. Abends waren wir sehr eingespannt, weil wir in Nachtklubs und Restaurants auftreten mußten. Auch war der Umgang dort für uns als Christen nicht immer der beste. Der Besitzer des Restaurants verlangte, daß wir auf Weihnachts- und Geburtstagsfeiern die Leute unterhielten, aber wir wollten keinerlei Kompromisse eingehen. So ließen wir die Welt des Flamenco hinter uns.
Inzwischen hatten wir zwei Kinder, Paquito und Jonathan. Um unseren Lebensunterhalt zu bestreiten, geben wir nun Privatschülern Tanz- und Gitarrenunterricht. Dadurch haben wir mehr Zeit füreinander als Familie und für unsere geistigen Interessen, so daß wir uns öfter vermehrt im Predigtdienst einsetzen können.
Etwas viel Wichtigeres als Flamenco
Der Flamenco tritt in vielen verschiedenen Varianten auf und verkörpert die jahrhundertealte Folklore Spaniens. Wir beide lieben den Flamenco immer noch sehr — als Musik und als Ausdruck menschlicher Gefühle. Doch wissen wir, daß es etwas viel Wichtigeres im Leben gibt: den Dienst für Gott und unseren Nächsten.
Wenn wir mit spanischsprachigen Brüdern in unserer Freizeit zusammen sind, veranstalten wir gelegentlich eine Fiesta mit Musik und Tanz aus Mexiko und Spanien. Welch eine Freude, die Einheit vieler Nationalitäten unter Jehovas Volk zu verspüren! Und wie schön wird es bald sein, wenn wir uns in Gottes verheißener neuer Welt auf einer gereinigten, friedlichen Erde gegenseitig mit unseren musikalischen Fähigkeiten bereichern können! (Von Francisco [Paco] und Yolanda Arroyo erzählt.)
[Bilder auf Seite 18]
Unsere Familie — bereit für den Haus-zu-Haus-Dienst
Eine Flamenco-Darbietung für unsere Freunde