Die faszinierende Suche nach neuen Wirkstoffen
Von unserem Korrespondenten in Großbritannien
Was haben Gummi, Kakao, Baumwolle und Schmerzmittel gemeinsam? Alle diese Produkte werden aus Pflanzen hergestellt. Grünpflanzen produzieren mit Hilfe der Photosynthese nicht nur Glukose und Sauerstoff, sondern stellen aus anderen grundlegenden chemischen Bausteinen noch eine erstaunliche Anzahl weiterer Substanzen her. Diese sekundären Stoffe verleihen jeder Pflanze ihre spezifischen Eigenschaften.
DAS Brennen einer Nessel, der säuerliche Geschmack eines Apfels und der zarte Duft einer Rose sind auf verschiedene Kombinationen chemischer Substanzen zurückzuführen, die von den Pflanzen selbst hergestellt werden. Was daher wie ein einzelnes Produkt aussieht, ist in Wirklichkeit oft eine äußerst komplexe Komposition.
Die Chemiefabriken der Natur
Nehmen wir einmal den typischen Geruch von Kakao. Haben wir gewußt, daß Wissenschaftler bisher 84 verschiedene flüchtige Stoffe entdeckt haben, die zusammen dieses einzigartige Aroma ergeben? Die Inhaltsstoffe der Kakaobohne sind überaus komplex, und man hat sich in den vergangenen Jahren viel Mühe gemacht, sie zu bestimmen. Und dabei ist die Kakaobohne nur ein Naturprodukt.
Cholesterin ist eine fettartige Substanz, die vielleicht am besten wegen ihrer möglichen Rolle bei Herzerkrankungen bekannt ist. Doch bei manchen Pflanzen dient Cholesterin als Ausgangspunkt für die Entstehung einer Gruppe wichtiger Verbindungen, der sogenannten Steroide. Zu den Steroiden gehören Vitamin D, Hormone (wie Cortison) und Wirkstoffe wie das entzündungshemmende Betamethason. Diosgenin, ein Steroid, das bei der Herstellung oraler Verhütungsmittel verwendet wird, gewinnt man aus bestimmten Arten wilder Jamswurzeln. Cortison hingegen wird aus Hecogenin hergestellt, einem natürlichen Steroid, das aus dem Blattfleisch des Sisals nach der Fasergewinnung extrahiert wird. Viele der heutigen modernen Arzneimittel bestanden zunächst aus Pflanzenextrakten.
Pflanzen und Menschen
In der medizinischen Entwicklung geht man heute immer mehr dazu über, synthetische Arzneimittel zu verwenden, aber über Jahrtausende hinweg dienten Pflanzenextrakte als Heilmittel. Beispielsweise hat man gemäß frühen assyrischen Aufzeichnungen die Kronenanemone zur Schmerzlinderung verwendet. Und ägyptische medizinische Papyri aus der Zeit der Pharaonen lassen erkennen, wie verbreitet der Gebrauch von Heilpflanzen war.
Gemäß Aufzeichnungen der Weltgesundheitsorganisation nutzt man weltweit etwa 20 000 Heilpflanzen. Allein in Großbritannien werden jährlich ungefähr 6 000 bis 7 000 Tonnen Heilkräuter bei der Herstellung von rund 5 500 verschiedenen Kräuterarzneimitteln verarbeitet, und in den Vereinigten Staaten wird schätzungsweise mehr als die Hälfte aller ärztlichen Rezepte für pflanzliche Medikamente ausgeschrieben.
Neue Wirkstoffe finden
Da es weltweit mindestens 250 000 bekannte Pflanzenarten gibt, von denen möglicherweise jede über einzigartige chemische Eigenschaften verfügt, sind Wissenschaftler ständig auf der Suche nach Anhaltspunkten für brauchbare Wirkstoffe. Dabei liegt es nahe, zu erforschen, wie Menschen mit Hilfe von Pflanzen, die in ihrer Gegend wachsen, Krankheiten behandeln.
Die Entdeckung des Kokains begann beispielsweise mit der Beobachtung, daß durch das Kauen von Kokablättern das Hungergefühl unterdrückt und die Müdigkeit verscheucht wird. Durch Isolierung und Veränderung der Struktur des Kokainmoleküls stellten Chemiker ein synthetisches Derivat her, das als Lokalanästhetikum verwendet wird. Diese Forschung ist uns wahrscheinlich schon einmal zugute gekommen, nämlich, wenn uns der Zahnarzt eine Betäubungsspritze gegen die Schmerzen gegeben hat.
Viele wertvolle Erkenntnisse über die Nutzung von Pflanzen verbergen sich in bisher noch nicht ausgewerteten botanischen Sammlungen. Wissenschaftler, die über vier Jahre damit verbrachten, im Gray-Herbarium und im Arnold-Arboretum der Havarduniversität 2,5 Millionen Proben zu untersuchen, konnten über 5 000 Pflanzenarten bestimmen, die bis dahin als mögliche Arzneistofflieferanten übersehen worden waren.
Eine andere Forschungsmethode besteht darin, die chemische Zusammensetzung der Pflanzen zu vergleichen. Wenn eine Pflanzenart Wirkstoffe enthält, könnten verwandte Pflanzenarten ebenfalls wertvoll sein. Als man aus der nordaustralischen Moreton-Bay-Kastanie das Castanospermin, ein antivirales Gift, isolierte, empfahlen Botaniker, die sich mit anderen Bäumen derselben Gattung beschäftigten, sich einmal den südamerikanischen Alexa anzusehen.
Krebsforschung
Manchmal können Anhaltspunkte auch irreführend sein und zu unerwarteten Ergebnissen führen. So wurde beispielsweise behauptet, daß man mit Extrakten des Madagaskar-Immergrüns Diabetes behandeln könne. Dann stellten kanadische Forscher bei einer Untersuchung dieser Pflanze zu ihrer Überraschung jedoch fest, daß dieser Immergrün-Extrakt das Immunsystem schwächt, weil er die Produktion von weißen Blutkörperchen vermindert. Das brachte die Ärzte auf die Idee, den Extrakt auf seine Wirkung gegen Leukämie, eine bösartige Erkrankung der weißen Blutzellen, zu testen.
Schließlich isolierte man etwa 90 Substanzen, von denen sich zwei, Vinblastin und Vincristin, als medizinisch wertvoll erwiesen. Sie sind in der Pflanze in solch geringer Menge enthalten, daß man etwa eine Tonne Pflanzen benötigt, um 2 Gramm Vincristin zu erhalten. Heute sind Verbindungen und Derivate dieser Stoffe weltweit Bestandteil von Chemotherapien zur Behandlung von Leukämie bei Kindern.
Gegen Ende der 50er Jahre leitete das nationale Krebsinstitut der USA ein 25jähriges Screening-Programm ein, bei dem 114 000 Pflanzenextrakte aus 40 000 Pflanzenarten auf ihre Antitumorwirksamkeit in Verbindung mit Krebszellkulturen getestet wurden. Über 4 500 Pflanzenextrakte hatten eine nennenswerte Wirkung, die weitere Forschungen lohnenswert machte. Aber Dr. W. C. Evans, wissenschaftlicher Berater auf dem Gebiet der Pharmakognosie, weist auf folgendes hin: „Es ist höchst unwahrscheinlich, daß man [aufgrund dieser Forschungen] wirklich Breitbandtherapeutika gegen Krebs entdeckt“, so wichtig solche Forschungen auch sind. Es gibt enorm viele Krebsarten, und bei diesen Tests wurde nur eine Handvoll schnell wachsender Krebszellkulturen verwendet.
Neue Wirkstoffe aus altbekannten Pflanzen
Altbekannte Pflanzen geben Forschern nach wie vor Stoff zum Nachdenken. So wird Ingwer jetzt als Mittel gegen Erbrechen eingesetzt, vor allem bei Reisekrankheit. Eine noch größere Bedeutung könnte Ingwer für Personen haben, die an der tropischen, parasitären Krankheit Schistosomiase (Bilharziose) erkrankt sind. Wie Untersuchungen von infizierten Kindern in Nigeria, denen man versuchsweise Ingwerpulver in Tablettenform verabreichte, erkennen ließen, hatten die Kinder danach kein Blut mehr im Urin, und die Pärchenegel legten weniger Eier ab.
Die Forschung steht gerade am Anfang der Suche nach weiteren Wirkstoffen. Selbst einigermaßen bekannte Pflanzen bergen noch viele Geheimnisse in sich. Gegenwärtig ist Süßholz sehr gefragt, weil man darin entzündungshemmende Substanzen entdeckt hat und deren Derivate manchen Arthritispatienten Linderung verschaffen können. Wissenschaftler untersuchen auch die Erbse auf ihre antimykotische und antimikrobielle Wirkung.
Da die Pflanzenwelt in einigen Gegenden der Welt mutwillig zerstört wird, bevor man über diese Pflanzen Aufzeichnungen machen kann, muß die Suche nach neuen Wirkstoffen rasch erfolgen. Eine sorgfältige chemische Analyse der Pflanzen sowie deren Erhaltung hat nach wie vor selbst bei bekannten Pflanzen höchste Priorität. Eins bleibt jedoch ein Rätsel: Was nützen viele dieser einzigartigen Substanzen den Pflanzen selbst? Wieso produziert der Kohlportulak beispielsweise derartig viel Noradrenalin, ein für den Menschen unentbehrliches Hormon?
Unser Wissen über die komplexe Pflanzenwelt ist wirklich immer noch äußerst begrenzt. Das, was wir wissen, deutet jedoch auf einen großen Schöpfer hin, dem die Ehre für all dies gebührt.
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Ingwer wird als Mittel gegen Reisekrankheit eingesetzt