Lassen wir uns nicht von der Leseunlust anstecken
EIN neuartiges Leseproblem breitet sich derzeit in der ganzen Welt aus — die Leseunlust. Betroffen sind Menschen, die zwar lesen können, aber nicht daran interessiert sind. Das Lesen, dem man sich einst mit Vergnügen widmete, wird heutzutage oft als mühselige Beschäftigung verschmäht. „Beim Lesen muß man sich ... anstrengen“, beklagte sich eine 12jährige, „und das macht keinen Spaß.“
Auch viele Erwachsene sind lesefaul. Die Vereinigten Staaten weisen zwar mit Stolz darauf hin, daß 97 Prozent ihrer Bürger des Lesens und Schreibens kundig sind, doch etwa die Hälfte der erwachsenen Amerikaner liest nur selten Bücher oder Zeitschriften. Lesefähigkeit geht offensichtlich nicht immer mit Lesebereitschaft einher. Das trifft sogar auf gebildete Menschen zu. „Wenn ich nach einem langen Arbeitstag müde nach Hause komme“, sagt ein Absolvent der Harvarduniversität, „schalte ich den Fernseher ein, statt ein Buch in die Hand zu nehmen. Das ist eben leichter.“
Was ist geschehen? Um Aufmerksamkeit ringende Medien haben in den letzten Jahrzehnten dem Lesen die Schau gestohlen. „Heute, wo man MTV, Video, Nintendo und den Walkman hat, ist man nicht so ohne weiteres bereit, ein Buch durchzuackern, wie in den Zeiten, als noch alles unkomplizierter war“, schrieb Stratford P. Sherman in dem Magazin Fortune. Der zeitraubendste Konkurrent des Lesens ist wahrscheinlich das Fernsehen. Wenn ein Amerikaner 65 Jahre alt ist, hat er im Durchschnitt neun Jahre vor dem Fernsehgerät zugebracht.
Da die Vorteile des Lesens allzuoft zugunsten des flimmernden Bildschirms geopfert werden, wäre es gut, sich einmal über folgende Punkte Gedanken zu machen.
Die Vorteile des Lesens
Lesen regt die Phantasie an. Das Fernsehen nimmt einem das Denken ab. Alles wird fix und fertig präsentiert: Gesichtsausdrücke, Veränderungen der Stimme und die Kulissen.
Beim Lesen nimmt man die Rollenverteilung und die Bühnengestaltung selbst vor und führt eigenhändig Regie. „Das Schöne an einem Buch ist, daß man so viel Freiheit hat“, sagte ein 10jähriger. „Man kann sich jede Person genauso vorstellen, wie man möchte, daß sie ist. Man kann alles viel besser bestimmen, wenn man ein Buch liest, als wenn man etwas im Fernsehen sieht.“ Dr. Bruno Bettelheim bemerkte: „Das Fernsehen nimmt die Phantasie gefangen, es befreit sie nicht. Ein gutes Buch regt den Geist an und befreit ihn gleichzeitig.“
Durch Lesen lernt man, sich gut auszudrücken. „Kein Kind und kein Erwachsener wird durch mehr Fernsehen zu einem besseren Fernsehzuschauer“, erklärte Reginald Damerall von der Universität von Massachusetts. „Die erforderlichen Fähigkeiten sind so elementar, daß uns von einem Fall von Fernsehschwäche bisher noch nichts zu Ohren gekommen ist.“
Im Gegensatz dazu verlangt das Lesen verbale Fertigkeiten und fördert sie auch; es ist mit Sprechen und Schreiben verflochten. Eine Lehrerin sagte: „Ohne Zweifel hängt der Erfolg eines Schülers in hohem Maß von seinem Wortschatz ab; das betrifft sowohl das Verständnis des Gelesenen als auch die Fähigkeit zur schriftlichen Argumentation. Einen großen Wortschatz kann man nur durch Lesen erwerben — es gibt einfach keinen anderen Weg.“
Lesen fördert die Geduld. In nur einer Stunde können mehr als tausend Bilder über den Fernsehschirm rasen, so daß der Zuschauer kaum Zeit hat, über das Gesehene nachzudenken. „Durch diese Technik wird eine kurze Aufmerksamkeitsspanne buchstäblich programmiert“, erklärte Dr. Matthew Dumont. Es verwundert daher nicht, daß einige Studien übermäßiges Fernsehen mit der Neigung zu impulsiven Entscheidungen und nervöser Unruhe in Zusammenhang bringen — sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen.
Lesen erfordert Geduld. „Sätze, Abschnitte und Seiten entbergen sich langsam, in einer bestimmten Abfolge und gemäß einer Logik, die sich durchaus nicht von selbst versteht“, schreibt Neil Postman in seinem Buch Das Verschwinden der Kindheit. Der Leser muß den Stoff einer Seite interpretieren, beurteilen und darüber nachdenken, wobei er das Tempo selbst bestimmen kann. Das Lesen ist ein komplexer Entschlüsselungsprozeß, der Geduld verlangt — und fördert.
Eine ausgeglichene Ansicht
Trotz der Vorteile des Lesens muß man einräumen, daß das Fernsehen auch seine guten Seiten hat. Bei der Übermittlung bestimmter Arten von Informationen ist es dem Lesen überlegen.a Eine fesselnde Fernsehsendung kann sogar das Interesse am Lesen wecken. „Es heißt, daß Verfilmungen von Kinderbüchern und wissenschaftliche Sendungen Kinder veranlassen, Bücher zu solchen Themen zu suchen“, schreibt die Encyclopedia Americana.
Eine ausgeglichene Ansicht ist sehr wichtig. Presse und Fernsehen sind zwei verschiedene Medien. Jedes hat seine Stärken und seine Grenzen. Beide können zum Guten oder zum Schlechten genutzt werden. Übermäßiges Lesen bis zu dem Punkt, daß man sich absondert, kann genauso schädlich sein wie übermäßiges Fernsehen (Sprüche 18:1; Prediger 12:12).
Wie auch immer, das Lesen wird oft zugunsten der visuellen Zerstreuung in den Hintergrund gerückt. Ein japanischer Journalist bemängelte: „Aus einer Zivilisation von Lesern wird eine Zivilisation von Betrachtern.“ Das ist vor allem unter Jugendlichen zu beobachten. Viele von ihnen entwickeln eine Leseunlust und müssen später unter den Folgen leiden. Wie können Eltern deshalb den Lesewillen ihrer Kinder fördern?
Wie Eltern helfen können
Ein gutes Beispiel geben. In einem Artikel des Magazins Newsweek mit der Überschrift „Wie man Kinder zu guten Lesern erzieht“ wurde folgendes zu bedenken gegeben: „Wenn Sie stundenlang vor dem Fernseher sitzen, wird es Ihr Kind wahrscheinlich auch tun. Sieht Ihr Kind dagegen, wie Sie genießerisch in ein Buch vertieft sind, dann merkt es, daß Sie nicht nur vom Lesen reden, sondern es auch praktizieren.“ Manche Eltern lesen ihren Kindern vor, was noch besser ist. Dadurch stellen sie eine innige Bindung her, an der es heute leider in vielen Familien mangelt.
Eine Bibliothek einrichten. „Besorgen Sie Bücher — Mengen von Büchern“, empfiehlt Dr. Theodore Isaac Rubin. „Ich kann mich erinnern, daß ich einfach deshalb Bücher las, weil welche da waren und alle anderen auch lasen.“ Kinder lesen, wenn Bücher greifbar sind. Falls sie eine eigene Bibliothek haben, wird die Lesebereitschaft noch größer sein.
Das Lesen zum Vergnügen machen. Man sagt: Wenn ein Kind gern liest, wird ihm das Lernen nur noch halb so schwer fallen. Deswegen sollte man das Lesen zu einem angenehmen Erlebnis für das Kind machen. Wie? Erstens ist es ratsam, beim Fernsehen Grenzen zu setzen; die Zeit, die man vor dem Fernseher verbringt, geht fast immer auf Kosten des Lesens. Zweitens kann man eine dem Lesen förderliche Atmosphäre schaffen; Mußestunden und ein ruhiger Ort, wie zum Beispiel eine eigene Bibliothek mit guten Lichtverhältnissen, laden zum Lesen ein. Drittens sollte man ein Kind nicht zum Lesen zwingen. Es ist gut, Gelegenheiten zum Lesen zu bieten und genügend Lesestoff bereitzustellen, aber das Kind sollte den Wunsch zu lesen selbst entwickeln.
Manche Eltern beginnen mit dem Vorlesen, wenn ihr Kind noch sehr klein ist. Das kann von Vorteil sein. Nach Ansicht einiger Experten versteht ein Kind im Alter von drei Jahren den Großteil der Sprache, die es als Erwachsener in alltäglichen Gesprächen gebrauchen wird, obschon es die Wörter noch nicht fließend aussprechen kann. „Kinder lernen früher und schneller, Sprache zu verstehen als zu sprechen“, heißt es in dem Buch The First Three Years of Life. Die Bibel sagt von Timotheus: „Du [hast] von frühester Kindheit an die heiligen Schriften gekannt“ (2. Timotheus 3:15). Ja, Timotheus hörte biblische Wörter, lange bevor er sie sprechen konnte.
Die Bibel — ein hervorragendes Hilfsmittel
„Die Bibel ist eine beeindruckende literarische Sammlung“ wird in dem Buch The Bible in Its Literary Milieu gesagt. Ihre 66 Bücher enthalten Gedichte, Lieder und Geschichtsberichte, von denen Jüngere und Ältere lernen können (Römer 15:4). Außerdem ist die Bibel „von Gott inspiriert und nützlich zum Lehren, zum Zurechtweisen, zum Richtigstellen der Dinge, zur Erziehung in der Gerechtigkeit“ (2. Timotheus 3:16).
Ja, den allerwichtigsten Lesestoff bietet Gottes Wort, die Bibel. Von jedem israelitischen König wurde mit gutem Grund verlangt, sich eine Abschrift davon anzufertigen und „darin [zu] lesen alle Tage seines Lebens“ (5. Mose 17:18, 19). Und Josua wurde geboten, „Tag und Nacht mit gedämpfter Stimme“ die Schriften zu lesen, das heißt, leise vor sich hin zu lesen (Josua 1:8).
Bestimmte Teile der Bibel sind allerdings nicht leicht zu lesen. Sie erfordern Konzentration. Aber achten wir auf folgende Worte des Petrus: „Wie neugeborene Kindlein entwickelt ein Verlangen nach der unverfälschten Milch, die zum Wort gehört“ (1. Petrus 2:2). Durch die Praxis kann die Vorliebe für die „Milch“ des Wortes Gottes so natürlich werden wie das instinktive Verlangen eines Säuglings nach der Muttermilch. Die Wertschätzung für das Lesen der Bibel kann man tatsächlich entwickeln.b Es ist der Mühe wert. „Dein Wort ist eine Leuchte meinem Fuß und ein Licht für meinen Pfad“, schrieb der Psalmist (Psalm 119:105). Brauchen wir in der heutigen schwierigen Zeit nicht alle eine solche Anleitung?
[Fußnoten]
a Die Watch Tower Society hat dem Rechnung getragen und in den letzten Jahren die Produktion von Druckschriften durch Videokassetten zu verschiedenen biblischen Themen ergänzt.
b Damit Kinder den Wunsch nach biblischer Erkenntnis entwickeln, hat die Wachtturm-Gesellschaft einfache Bibelstudienhilfsmittel herausgegeben, wie zum Beispiel die Bücher Mein Buch mit biblischen Geschichten und Auf den Großen Lehrer hören. Beide Veröffentlichungen sind auch als Tonbandkassetten erhältlich.