Hat die Eisenbahn eine Zukunft?
Von unserem Korrespondenten in Großbritannien
ES WAR schon immer eine Herausforderung, Güter und Personen kostengünstig und schnell über Land zu transportieren. Seit die industrielle Revolution den Bedarf an Rohmaterialien vergrößerte, hat die Eisenbahn eine wesentliche Rolle bei der Lösung dieses Problems gespielt. Obwohl man sich heute zunehmend auf den Kraftverkehr verläßt, betrachten viele angesichts der Sorge um die Umwelt die Eisenbahn wieder mit anderen Augen.
Wie sah die Entwicklung der Eisenbahn aus? Welche Rolle spielt sie in der modernen Gesellschaft? Wie ist es um ihre Zukunft bestellt?
Die Entwicklung im 19. Jahrhundert
Im Jahr 1804 zog eine Dampflokomotive, die der englische Ingenieur Richard Trevithick gebaut hatte, zehn Tonnen Eisenstangen mit einer Geschwindigkeit von 8 Kilometern pro Stunde über eine 14 Kilometer lange Schienenstrecke. Aber dieser frühe Erfolg der Eisenbahn war nicht von Dauer, denn die schwachen Gleise hielten dem Gewicht der Maschine nicht lange stand. Die Herausforderung bestand nun darin, eine Maschine zu konstruieren, die einerseits schwer genug war, um die Reibhaftung auf den Eisenschienen zu gewährleisten — damit die Räder nicht durchdrehten —, und die andererseits das Gleis nicht beschädigte.
Acht Jahre später ersann John Blenkinsop eine Zahnstangen-Schiene für Lokomotiven, die in einem Bergwerk in Yorkshire eingesetzt wurde. Dann löste William Hedley das Haftungsproblem dadurch, daß er mit Zahnrädern mehrere Achsen einer Lokomotive antrieb, statt die Dampfkraft nur auf ein Räderpaar wirken zu lassen. Danach liefen die Züge im allgemeinen auf glatten Gleisen. Ab 1820 rollten die immer größeren und schwereren Dampflokomotiven, die man entwickelte, auf schmiedeeisernen Schienen von jeweils 6 Meter Länge.
Die Stockton-Darlington-Eisenbahn in England kam im Jahr 1825 zu Ruhm, als der erste dampfgetriebene öffentliche Personenzug der Welt neben 69 Tonnen Fracht noch über 600 Personen auf den 34 Kilometern Gleis mit einer Höchstgeschwindigkeit von 24 Kilometern pro Stunde beförderte. Einer der Fahrgäste war der Amerikaner Evan Thomas aus Baltimore (Maryland), der anschließend an seinem Heimatort andere Geschäftsleute überzeugte, sich für eine Eisenbahn in ihrer Stadt zu entscheiden statt für einen Kanal. So wurde im Jahr 1827 die Baltimore-Ohio-Eisenbahn gegründet.
Stahlschienen, die etwa 60mal elastischer waren als schmiedeeiserne Schienen, wurden ab 1857 in Großbritannien als Regelgleis eingeführt. Bis 1870 erreichte das Schienennetz des Landes eine Ausdehnung von über 20 000 Kilometern. Die Auswirkungen waren „tiefgreifend“, wie die Londoner Times feststellte. „Bevor es die Eisenbahnen gab, waren die meisten Menschen kaum aus ihren Dörfern herausgekommen.“
Auch anderswo entstanden immer neue Eisenbahnstrecken. Von 1847 an schickten zum Beispiel die reichen Bewohner von Zürich ihre Bediensteten mit der gerade dem Verkehr übergebenen Eisenbahn in das nahe Baden, um die begehrten Spanischen Brötli zu holen. So begann die inzwischen schon 150 Jahre währende innige Verbindung zwischen den Schweizern und ihrer Eisenbahn.
Eisenbahnen spielten eine entscheidende Rolle bei der Erschließung der Vereinigten Staaten. Im Jahr 1869 wurde die erste transkontinentale Strecke Nordamerikas, von der Ostküste zur Westküste, vollendet. Sie erschloß den westlichen Teil der Vereinigten Staaten für die schnelle Besiedlung. 1885 stellte man die erste transkontinentale Linie in Kanada fertig, die von Montreal (Quebec) nach Vancouver (Britisch-Kolumbien) führte. Tatsächlich gab es in der ganzen Welt einen Eisenbahn-Boom.
Änderungen im Zugbetrieb
Im Laufe der Zeit begannen Eisenbahnverwaltungen, nach Möglichkeiten für einen effizienteren Betrieb zu suchen. Sie stellten fest, daß Diesel- und Elektrolokomotiven, die etwa den zweieinhalbfachen Wirkungsgrad wie Dampfloks haben, viel wirtschaftlicher waren. Obwohl die Herstellungskosten für Diesellokomotiven höher lagen als für Dampfloks, bedeutete ihre größere Flexibilität, daß weniger Loks benötigt wurden. Der elektrische Zugbetrieb hatte den Vorteil, schneller und relativ umweltfreundlich zu sein. Trotzdem wurde der Dampfbetrieb in vielen Ländern noch lange beibehalten.
In Frankreich wurden schon vor dem Ersten Weltkrieg Vorortszüge von elektrisch betriebenen Lokomotiven gezogen, und nach dem Krieg wurden Elektroloks auch auf Fernbahnen eingesetzt. In ähnlicher Weise wurde in Japan der Übergang von der Dampftraktion über dieselgetriebene Züge zum Elektrobetrieb praktisch vollständig vollzogen. „Die steigenden Kosten für Brennstoffe und Löhne sind die Hauptargumente“ wird in dem Werk Steam Locomotives of Japan festgestellt. Weiter heißt es: „Ein anderer wesentlicher Grund wird auch sein, daß die Dampfmaschine inzwischen ein Anachronismus ist, etwas, was vielen modernen Menschen nicht mehr gefällt. Der Durchschnittsreisende ist nicht besonders erfreut, wenn ihm während der Fahrt Rauch ins Gesicht weht; er wünscht Komfort und Geschwindigkeit.“ Ein Sprecher der Indischen Staatsbahnen stimmt dem zu. „Wir können nicht an Dampfloks festhalten. Jeder möchte schnell reisen. Die Dampfloks sind überholt. Und umweltfreundlich sind sie auch nicht gerade.“
Da Geschwindigkeit und Kapazität entscheidende Faktoren für den erfolgreichen Betrieb einer modernen Eisenbahn sind, haben sich Bahnverwaltungen auch mit anderen Entwicklungen beschäftigt. In Großbritannien bestehen viele moderne elektrische Personenzüge aus einem festen Wagenverband mit einer Lokomotive an dem einen Ende und einem Steuerwagen mit Lokführerstand an dem anderen.
Die Elektrifizierung der Eisenbahn ging nicht ohne Probleme vor sich. Gleichstromsysteme, die den Strom aus einer dritten Schiene oder der Oberleitung beziehen, erfordern zahlreiche Unterwerke, um die Spannung aufrechtzuerhalten. Erst die Entwicklung von Wechselstromsystemen mit relativ hoher Spannung, für die dünnere Oberleitungsdrähte verwendet werden können, hat in Verbindung mit kleineren und leichteren Elektromotoren zu einem kostengünstigeren Bahnbetrieb geführt. Heutzutage können Fernzüge selbst unter verschiedenen Bahnstromsystemen ihre Fahrt ohne Unterbrechung fortsetzen.
Durch den Stadtbahnverkehr wiederbelebt
Ein Gebiet, wo die Eisenbahn heute eine neue Blüte erlebt, ist der Stadtbahnverkehr.a Moderne Stadtbahnsysteme entstehen in den sich ständig ausdehnenden Ballungsgebieten der Welt. In Sydney (Australien), wo die Verantwortlichen für das Verkehrswesen eingesehen haben sollen, daß es verkehrt war, die Straßenbahnen der Stadt auszurangieren, sind wieder Stadtbahnfahrzeuge im Einsatz.
Während in vielen britischen Städten bereits vor Jahrzehnten die Straßenbahnen stillgelegt wurden, blieben in den meisten Städten auf dem europäischen Kontinent die seit 100 Jahren bestehenden Netze erhalten. „In Zürich ist die Bahn König“, berichtete die Zeitung The Independent. „Wenn sich eine Straßenbahn einer Verkehrsampel nähert, schaltet diese auf Grün, wodurch garantiert wird, daß die Bahn nicht warten muß. ... Die Bahnen sind immer pünktlich.“
Während Metro- oder Untergrundbahnsysteme in Städten mit einer Millionenbevölkerung gute Dienste leisten, werden Straßenbahnen erfolgreich in Städten mit einer Bevölkerung von einer halben Million oder weniger betrieben — das behauptet ein italienischer Umweltschützer.
Straßenbahnen können im allgemeinen dieselben Fahrbahnen benutzen wie andere Straßenfahrzeuge. Da Stadtbahnfahrzeuge eine geringere Achslast haben als konventionelle Lokomotiven und Waggons, brauchen sowohl Gleise als auch Brücken nicht so stark belastbar zu sein. Was im Innern geschieht, kann durch die großen Fenster der Fahrzeuge gesehen werden, was zur Sicherheit der Fahrgäste beiträgt. „Dank ihrer unerreichten Anschlußflexibilität verbindet die moderne Straßenbahn die Geschwindigkeit der Eisenbahn mit der Erreichbarkeit des Busses“ wurde in einer Studie über die Beförderungsmittel in Sheffield (England), betitelt Tram to Supertram, festgestellt. Die Straßenbahn verbindet „Sauberkeit und ein gewisses Ambiente mit guten Noten in ökologischer Hinsicht“. Die Times kommentierte: „Während der Hauptverkehrszeit sind Straßenbahnen schneller als Kraftfahrzeuge, und sie sind bei weitem umweltfreundlicher.“
Schneller und sicherer?
Train à Grande Vitesse (TGV), Intercity-Expreß, Eurostar, Pendolino, die Stromlinienzüge der japanischen Shinkansen-Linie (neues Netz) — immer größer wird die Vielfalt moderner Hochgeschwindigkeitszüge. Aus dem Wunsch heraus, höhere Geschwindigkeiten und größere Sicherheit zu bieten, gehen Bahnkonstrukteure neue Wege, um dem Hochgeschwindigkeitszugverkehr gerecht zu werden. Auf Neubaustrecken ohne scharfe Kurven und mit geschweißten Gleisen kann der französische TGV eine Reisegeschwindigkeit von weit über 200 Stundenkilometern erreichen.
Eurostar-Züge verbinden jetzt London durch den Kanaltunnel mit Paris und Brüssel. Nachdem die Eurostars Großbritanniens alte Gleisanlagen hinter sich gelassen haben, die die Zuggeschwindigkeit einschränken, rollen sie mit 300 Stundenkilometern durch Frankreich und Belgien. Die Reisezeit von 3 Stunden von London nach Paris und 2 Stunden und 40 Minuten von London nach Brüssel hat die Eisenbahn zu einem ernsthaften Konkurrenten der Fähr- und Fluglinien gemacht. Doch wie ist eine solche Steigerung der Geschwindigkeit möglich gewesen?
In Japan entwickelten Ingenieure einen Leichtgewichtszug, dessen Waggons einen niedrigen Schwerpunkt haben, um eine gute Haftung auf den Schienen zu gewährleisten. Im Gegensatz zu dem konventionellen System, bei dem sich die Radsätze an je 2 Drehgestellen unter jedem Wagen befinden, teilen sich 2 Waggons der Eurostar-Züge (18 Waggons zwischen 2 Triebköpfen) jeweils 1 Drehgestell. Dies vermindert Vibrationen und Gewicht und ermöglicht einen ruhigeren und schnelleren Lauf.
Die Signaltechnik für die Hochgeschwindigkeitszüge unterscheidet sich völlig von den Flügelsignalen früherer Zeiten, ja selbst von den Lichtsignalen, die immer noch auf vielen normalen Strecken üblich sind. Im Fahrzeug wird auf Computerbildschirmen alles angezeigt, was der Lokführer wissen muß, während sein Zug dahineilt. Ausgeklügelte Kommunikationssysteme ermöglichen es, von Bahnleitzentralen aus ganze Strecken zu überwachen.
Eisenbahnplaner haben auch untersucht, wie die Geschwindigkeit der Züge erhöht werden kann, die auf konventionellen Strecken verkehren. Eine Neuerung ist die Neigezugtechnik. Die Pendolinozüge, die in Italien und in der Schweiz fahren, verfügen über diese Technik, ebenso der schwedische X2000. Letzterer legt die gewundene Strecke zwischen Stockholm und Göteborg mit einer Spitzengeschwindigkeit von 200 Stundenkilometern zurück. Auf Grund einer genialen Abstimmung von Stoßdämpfern und sich radial selbst einstellenden Drehgestellen spüren die Fahrgäste wenig von den unangenehmen Zentrifugalkräften, wenn sich der Zug unterwegs in die Kurven legt.
Berichte von immer höheren Geschwindigkeiten der Züge und von schrecklichen Entgleisungen geben Anlaß zu der Frage, ob die Sicherheit auf der Strecke bleibt. Unter dem Eindruck eines furchtbaren Eisenbahnunglücks in Großbritannien im Jahr 1997 berichtete die Sunday Times, daß in Zukunft „zu den Vorrichtungen am Gleis digitale Kontrollgeräte zur Früherkennung von Unfallgefahren gehören werden“. Ein neues funkgestütztes Signalsystem wird Funkmitteilungen von der zentralen Betriebsstelle der Bahngesellschaft direkt in den Lokführerstand übertragen. Außerdem soll die automatische Zugbeeinflussung zum Standard in britischen Zügen werden, was in vielen europäischen und außereuropäischen Ländern längst der Fall ist. Wenn der Lokführer versäumt, auf neben dem Gleis stehende Warnsignale zu reagieren, werden automatisch die Bremsen des Zuges betätigt, um ihn sicher zum Stehen zu bringen.
In Zukunft magnetisch?
Der Fahrgast, der an die Kreisch- und Klirrgeräusche einer normalen Bahnfahrt auf Hochleistungsgleisen oder auch auf innerstädtischen U-Bahn-Strecken gewöhnt ist, empfindet einen ruhigeren, leiseren Lauf als eine echte Wohltat. Die Züge, die auf einigen Linien der Pariser Metro auf Gummirädern rollen, sind für die dortigen Stadtbewohner eine ziemliche Verbesserung. Doch im Vergleich zu den jüngsten Entwicklungen im schienengebundenen Verkehr verblaßt dies zur Bedeutungslosigkeit.
Die Stahlschienen, auf denen konventionelle Züge verkehren, begrenzen deren Geschwindigkeit. Um höhere Geschwindigkeiten zu erreichen, sind Ingenieure gegenwärtig mit der Entwicklung von Magnetschwebebahnen beschäftigt, die über einen Fahrweg aus Metall gleiten. Diese Züge bewegen sich praktisch ohne Reibung, da starke Elektromagnete sie über den Fahrweg schweben lassen und auf über 500 Stundenkilometer beschleunigen. Tatsächlich berichtete die Londoner Times vom 13. Dezember 1997, daß eine japanische Magnetschwebebahn einen Geschwindigkeitsweltrekord von 531 Stundenkilometern aufgestellt hat, und zwar bei bemannten und bei unbemannten Fahrten.
Angesichts der Beharrlichkeit von Dampfenthusiasten — Menschen, die Dampflokomotiven erhalten und aufarbeiten — und auch anderer, die sich heute für dieselbetriebene und elektrische Züge einsetzen, scheint die Zukunft der Eisenbahnen gesichert. Ob die Züge und ihre Gleise weiterentwickelt werden oder ob man völlig neue Wege einschlagen wird, kann nur die Zeit zeigen. Zumindest für die Gegenwart wird uns die Eisenbahn erhalten bleiben.
[Fußnote]
a Stadtbahnen sind gemäß der Brockhaus Enzyklopädie „eine Weiterentwicklung der Straßenbahnen“. Sie verkehren sowohl auf in die Straße eingelassenen Schienen als auch auf getrennten Gleiskörpern.
[Kasten auf Seite 22]
Paläste auf Rädern
Das Britische Eisenbahnmuseum in der Stadt York beherbergt eine bemerkenswerte Sammlung von alten Reisezugwagen, die von der königlichen Familie benutzt wurden. Zwischen 1842 und 1977 rollten 28 Hofzüge durch Großbritannien. Während der Regierungszeit von Königin Victoria (1837—1901) wurden nicht weniger als 21 Züge für sie gebaut. Nach ihrer ersten Eisenbahnfahrt erklärte sie, das Erlebnis habe sie „durchaus entzückt“.
König Edward VII., Victorias Sohn, wollte nicht in den Wagen reisen, die für seine Mutter gebaut worden waren. Statt dessen benutzte er 3 neue Züge. König George V. und Königin Mary ließen diese später modernisieren und das erste Badezimmer in einen Eisenbahnwagen einbauen.
[Kasten auf Seite 24]
Sicherheit kommt zuerst
Im Kampf gegen die Kriminalität verschärfen Eisenbahngesellschaften die Sicherheitsvorkehrungen und installieren Kameras und Sperrvorrichtungen. Aber was kann man selbst tun, um die persönliche Sicherheit bei einer Zugfahrt zu erhöhen? Es folgen einige Empfehlungen:
• Wertsachen nicht demonstrativ zeigen
• Tür und Fenster des Abteils schließen
• Wertsachen an mehreren Stellen im Gepäck und in der Kleidung aufbewahren
• Bei Bedrohung nicht aggressiv werden
• Gegebenenfalls eine Geldbörse mit etwas Geld zur Täuschung dabeihaben
• Fotokopien seiner Ausweispapiere mitnehmen
[Nachweis]
The Daily Telegraph, 22. März 1997
[Bilder auf Seite 22, 23]
1 „Lake Shore Flyer“ (1886, USA)
2 Schweizer Centralbahn (1893)
3 Class B1 (1942, England)
4 Bödelibahn „Zephir“ (1874)
[Bildnachweis]
Copyright: Eurostar/SNCF-CAV/Michel URTADO
[Bilder auf Seite 24, 25]
1 Shinkansen, Modell 500 (Japan)
2 Eurostar (Frankreich)
3 Train à Grande Vitesse (TGV) (Frankreich)
4 THALYS PBA (Frankreich)
[Bildnachweis]
Copyright: Thalys/SNCF-CAV/Jean-Jacques D’ANGELO