Wie ich in einem Gefängnis im kommunistischen China meinen Glauben bewahrte
Erzählt von Harold King
AM 27. Mai 1963 begleitete mich ein chinesischer Polizist zu der Brücke, die Hongkong mit China verbindet. Ich hatte eine Haftzeit von über viereinhalb Jahren in Gefängnissen im kommunistischen China hinter mir. In dieser ganzen Zeit wurde mir nicht erlaubt, auch nur mit einem Mitchristen zu sprechen. Man nahm mir alle Bibeln und die ganze biblische Literatur, die ich besaß, weg. Jetzt aber war ich wieder frei! Auf der anderen Seite der Brücke warteten Missionare vom Hongkonger Zweigbüro der Watch Tower Society (Wachtturm-Gesellschaft) auf mich, um mich zu empfangen. In wenigen Sekunden war ich in ihren Armen — wir fanden keine Worte! Wie dankbar war ich doch Jehova, daß ich wieder mitten unter seinem Volk sein durfte!
Als wir zum Zweigbüro der Gesellschaft in Hongkong weitergingen, fragten mich alle, die mich abgeholt hatten, besorgt, wie es mir gehe. Auch waren sie gespannt, von ihren christlichen Brüdern, die noch im kommunistischen China sind, etwas zu hören. So gut wie ich es konnte, erzählte ich ihnen alles, was geschehen war.
EINGESCHRÄNKTE TÄTIGKEIT
1954 wurden Stanley Jones und ich, die wir beide Missionare waren, von der Behörde zur Polizeiwache bestellt. Dort sagte man uns, daß wir aufhören müßten, von Haus zu Haus zu predigen. Wenn wir predigen wollten, müßten wir dies in unserer „Kirche“ tun, nicht außerhalb. Sie verboten nicht, daß wir unsere Heimbibelstudien durchführten, doch sie verlangten die Anschriften aller, die wir besuchten.
Einiges mußte an unserer Predigttätigkeit geändert werden, um sie mindestens teilweise aufrechtzuerhalten. Natürlich hatte uns die Polizei nicht gesagt, daß alle Zeugen Jehovas ihren Predigtdienst von Haus zu Haus einstellen müßten. Nur uns Missionaren wurde dies auferlegt. Daher ließen unsere chinesischen Brüder im Predigen nicht im geringsten nach. Durch ihr williges Vorandrängen zeigten sie, daß Jehovas Geist auf ihnen ruhte.
Obgleich wir den Personen, bei denen wir Heimbibelstudien durchführten, erklärten, daß die Polizei ihre Anschriften verlangt habe, wollten die meisten ihre Studien fortsetzen. Der Druck wurde jedoch stärker. Sobald ein Ausländer den Hof einer eingefriedeten chinesischen Häusergruppe betrat, wurde er beobachtet. Man hinderte ihn nicht daran, einen Besuch zu machen, doch, sobald er wieder gegangen war, ging der „Bevollmächtigte“ der Häusergruppe zu der Wohnung, die besucht worden war, um sich nach dem Grund des Besuchs zu erkundigen. Auf diese Weise wurden verschiedene eingeschüchtert. Auch von anderer Seite wurde der Druck schwerer: Es wurde von jedem erwartet, daß er politische Versammlungen besuche. Immer mehr Zeit wurde davon beansprucht. Einige begannen, schwach zu werden. Es gab aber auch andere, die an die Hilfe Jehovas Gottes glaubten. Sie studierten weiter, besuchten die Zusammenkünfte der Versammlung regelmäßig und mieden die politischen Versammlungen in den Fabriken und Schulen.
EINE GLAUBENSPRÜFUNG FÜR DIE CHINESISCHEN VERKÜNDIGER
Dann wurden aber Maßnahmen gegen unsere eifrigen chinesischen Verkündiger des Königreiches ergriffen. Nancy Yuan war die erste unserer christlichen Schwestern, die in Schanghai verhaftet wurde. Sie wurde von ihren vier Kindern, von denen das jüngste vier Jahre alt war, getrennt. Versuche unsererseits, zu vermitteln, scheiterten. Wohin man unsere Schwester brachte, wissen wir nicht; doch uns ist bekannt, daß etwa ein Jahr nach ihrer Verhaftung ihre Mutter einen Brief erhielt, aus dem hervorging, daß unsere Schwester noch stark im Glauben war und unerschütterlich in ihrem Vertrauen, daß Jehova zu befreien vermag.
Vom Jahre 1957 an führte die Regierung einen sogenannten „Umerziehungsfeldzug“ durch. Es wurde von jedem Arbeiter verlangt, daß er seinen Lebenslauf schreibe und dann besondere Zusammenkünfte besuche, bei denen seine Handlungsweise und Lebensanschauung bemängelt wurden. Unsere Brüder stießen auf große Schwierigkeiten. Sie hatten ihren Arbeitskollegen Zeugnis gegeben und sie auf das Ende dieser bösen Welt und die Hoffnung einer gerechten neuen Welt durch Jesus Christus hingewiesen. Jetzt wandten sich ihre Arbeitskollegen gegen sie und erhoben die Anklage, sie hätten gepredigt, daß Gott die chinesische Volksrepublik zerstören werde. Alle, die es ablehnten, die sozialistische Ansicht anzunehmen und die politischen Versammlungen zu besuchen, wurden bald verhaftet. So wurde ein Bruder nach dem anderen verhaftet.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte es eine Höchstzahl von achtundfünfzig Verkündigern in der Versammlung Schanghai gegeben. Verkündiger, die woandershin gezogen waren, hatten die „gute Botschaft“ an andere Orte im riesigen Gebiet Chinas getragen. Sonntags besuchten über 120 Personen die Zusammenkünfte, die in Schanghai abgehalten wurden. Allmählich brachen die Furchtsamen jedoch ihre Verbindung zu uns ab. Trotzdem wurde der Kern der Versammlung immer entschlossener, das Werk, das ihnen Gott zu tun gegeben hatte, fortzusetzen. Sie waren furchtlos, denn sie vertrauten völlig auf die Allmacht des wahren Gottes.
MISSIONARE INHAFTIERT
Am 14. Oktober 1958 stand in unserem Missionarheim das Frühstück auf dem Tisch, und Stanley Jones wollte eben das Gebet sprechen, als jemand laut an die Tür klopfte. Im nächsten Augenblick standen Polizisten vor uns mit Gewehren in der Hand und legten uns Handschellen an. Zuerst protestierte Stanley, daß Gewehre und Handschellen bei uns Christen unnötig seien, doch vergebens. Die Nachbarn wurden als Zeugen herbeigerufen, und das Haus wurde von oben bis unten durchsucht. Außer unseren Bibeln, der biblischen Literatur und den Aufzeichnungen, die wir über unseren Predigtdienst führten, wurde nichts gefunden. Um Mittag wurden wir schnell in zwei wartende Autos geladen und zur Polizeiwache gebracht. An jenem Morgen hatte ich das letzte Mal die Möglichkeit gehabt, mit Stanley zu sprechen. Er war mir ein guter Partner im Dienste des Herrn gewesen. Er war immer von Herzen mit den chinesischen Brüdern verbunden. Er bekundete tiefe Wertschätzung für geistige Dinge. Gemäß dem, was ich auf Umwegen erfahren habe, ist er Jehova Gott immer noch völlig ergeben. Er ist jedoch im kommunistischen China noch im Gefängnis.
Im Gefängnis begannen die Verhöre, zunächst dreimal am Tag, später zweimal täglich, dann seltener. Keine körperliche Gewalttätigkeit wurde angewandt. Ich wurde überhaupt nicht geschlagen. Es gab nur die endlosen Verhöre, und nachher mußte man immer wieder alles, was bei den Befragungen gesagt worden war, aufschreiben. Es war alles sehr anstrengend. Ich wußte, was ich während meines Aufenthalts in Schanghai getan hatte. Doch ich hatte das nicht mit dem Beweggrund, den mir die Regierung unterschob, gesagt und getan. Wir lehrten die Menschen z. B. aus der Bibel, daß Satan der Gott dieser Welt sei und daß diese böse Welt in der Schlacht von Harmagedon vernichtet werde. Es wäre jedoch absurd von uns gewesen, hätten wir die Behauptung bejaht, daß dies eine umstürzlerische Tätigkeit gegen den Staat sei. Die Behörden wünschten jedoch, daß wir das sagen sollten. Sie blieben hartnäckig bei ihrer Anklage, wir seien imperialistische Agenten. Das waren wir nicht! Wir stellten aber fest, daß die Kommunisten einen jeden als „Imperialisten“ bezeichnen, der kein Kommunist ist und den sie für einen Kämpfer gegen den Kommunismus halten. Unsere Weigerung, die Anklage anzuerkennen, wurde als eine Weigerung, unsere „Verbrechen“ einzugestehen, gewertet. Die Polizei schien jedoch zufrieden zu sein, als ich dann sagte, das Ergebnis, das sie sich vorgestellt haben, könnte vielleicht erwartet werden, wenn die gesamte Bevölkerung die Botschaft, die wir predigten, annähme, das jedoch offensichtlich nicht vorkommen konnte. Zwei ganze Jahre, vorwiegend in Einzelhaft, vergingen. Das war die „Vorbereitungszeit“ für den Prozeß.
Das Gerichtsverfahren selbst war sehr kurz. Die Anklage wurde verlesen. Ich durfte die gestellten Fragen lediglich mit Ja oder Nein beantworten. Keine Erklärungen waren gestattet. Ich wurde zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Ich hatte bereits zwei Jahre hinter mir. Stanley, der die Hauptverantwortung für das Werk trug, wurde zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Das war das letzte Mal, daß ich ihn sah. Doch selbst dann durften wir nicht miteinander sprechen.
DEN GLAUBEN BEWAHRT
Als ich ins Gefängnis gebracht wurde, wimmelte meine Zelle von anscheinend ausgehungertem Ungeziefer. Ich konnte nicht entrinnen. Die Angriffe dauerten die ganze Nacht hindurch. Es war mir unmöglich zu schlafen. Nachdem ich den Reis und das Wasser zu mir genommen hatte, die mir gegeben worden waren, bekam ich Verdauungsstörungen. Als mich der Gefängniswärter am nächsten Tag in meiner Zelle sah, erkannte er, daß ich in einem sehr schlechten Zustand war, und schickte mich zum Gefängnisarzt. Am gleichen Tag wurde die Zelle gereinigt und gespritzt, und meine Diät wurde geändert. Die Zelle selbst war leer, abgesehen von einem mit einem Deckel versehenen Holzeimer, der als Toilette diente. Ich mußte auf dem Boden sitzen und auf dem Boden essen und nachts auf dem Boden schlafen, obgleich ein wenig Bettzeug erlaubt war, das ich als Unterlage benutzte. Ich durfte kein Schreibmaterial haben, außer dem, was ich zum Schreiben meiner Berichte über die Verhöre benötigte. Fast der einzige Lesestoff, den ich in die Hände bekam, war ein chinesisches Nachrichtenblatt. Ich durfte keine Arbeit verrichten, außer daß ich meine eigene Zelle reinigte. Ich hatte keine andere Wahl, als nur dort zu sitzen und zu denken.
Gleich von Anfang an erkannte ich, daß ich etwas tun müßte, um einen starken Glauben zu bewahren. Kaum war ich an dem Tag meiner Verhaftung in meiner Zelle eingeschlossen, da kniete ich nieder und fing an, laut zu beten. Fast im gleichen Augenblick wurde ich jedoch unterbrochen, denn der Wächter öffnete die Klappe des Beobachtungslochs und wollte wissen, mit wem ich spreche. Ich erwiderte, ich bete zu meinem Gott, wie dies ein Christ tun sollte. Er befahl: „Das können Sie aber hier nicht tun!“ Ich setzte mich also hin und betete unauffälliger weiter.
Ich nahm mir etwas „Predigtdienst“ vor, um meine Wertschätzung für geistige Dinge lebendig zu erhalten. Wem könnte ich jedoch in Einzelhaft predigen? Ich wollte verschiedene Predigten auf Grund der Dinge, deren ich mich noch erinnern konnte, ausarbeiten und sie Personen halten, die ich in meiner Phantasie vor mir sah. Ich stellte mir vor, daß ich in den Dienst hinauszog, an den Türen klopfte und den Wohnungsinhabern Zeugnis gab. Jeden Morgen sprach ich im Geiste an einigen Türen vor. Im Laufe der Zeit traf ich eine „Frau Carter“ an, die Interesse bekundete. Nach einigen Besuchen konnte ein Heimbibelstudium vereinbart werden. Während des Studiums betrachteten wir die Hauptthemen im Buch „Gott bleibt wahrhaftig“, wie ich sie noch in Erinnerung hatte. Ich sprach dieses alles laut vor mich hin, damit die Gedanken durch den Klang noch tiefer in meinen Sinn eindringen würden. Sicher dachten die Wärter, daß ich den Verstand verliere. In Wirklichkeit konnte ich mich aber dadurch stark im Glauben halten und einen gesunden Sinn bewahren. Es war mir außerdem eine Hilfe, richtig für die Fortsetzung meiner Predigttätigkeit nach meiner Freilassung ausgerüstet zu sein. Ich vertraute darauf, daß Jehova, unser Gott, in der Lage ist, seine Diener zu bewahren und zu befreien, wenn sie ihm nur treu bleiben. Nein, ich dachte nicht, daß er mich aus dem Gefängnis befreien mußte, um das zu bewirken. Ich hoffte jedoch, zum Leben in der neuen Welt errettet zu werden. Ich kam mir vor wie verschiedene treue Hebräer in früheren Zeiten. Als der König über sie zu Gericht saß, weil sie es ablehnten, der Anbetung Gottes untreu zu werden, sagten sie: „Ob unser Gott, dem wir dienen, uns aus dem brennenden Feuerofen zu erretten vermag — und er wird uns aus deiner Hand, o König, erretten — oder ob nicht, es sei dir kund, o König, daß wir deinen Göttern nicht dienen und das goldene Bild, welches du aufgerichtet hast, nicht anbeten werden.“ — Dan. 3:17, 18.
Nach meinem Gerichtsverfahren wurde ich von der Strafanstalt ins Schanghaier Gefängnis gebracht. Dort waren meine Verhältnisse besser. Obgleich ich in einer abgelegenen Zelle untergebracht war und keinen Umgang mit den anderen Gefangenen hatte, erhielt ich im Laufe der Zeit wenigstens etwas mehr Bewegungsfreiheit. Ich durfte mich tagsüber auf dem Laufgang vor meiner Zelle aufhalten. In meiner Zelle stand kein einziges Möbelstück, doch auf dem Laufsteg gab es einen kleinen Tisch und einen Schemel, die ich benutzen durfte. Ich erhielt auch Schreibmaterial und machte gleich davon Gebrauch.
GLAUBENSSTÄRKENDE LOBLIEDER
Ich begann biblische Themen in einer solchen Weise aufzuschreiben, daß ich sie als Liederstrophen verwenden könnte. Dann summte ich verschiedene Verbindungen von Noten, bis ich eine Melodie fand, die jeweils paßte. Im Laufe der Zeit hatte ich eine beträchtliche Sammlung von Liedern, die mir Jehovas Vorsätze vor Augen hielten. Einige der Texte hatten nur wenige Verse. Andere, die biblische Verheißungen von 1. Mose bis zur Offenbarung berührten, umfaßten bis zu 144 Verse. Sie waren mir eine Hilfe, um Teile der Bibel zu wiederholen und Themen durch die ganze Bibel zu verfolgen. Ich hatte z. B. Lieder mit den Titeln: „Der Same wird erwählt“, „Folge Jehovas Ruf!“, „Die Gedächtnisfeier“, „Die größte von diesen ist die Liebe“, „Über eine Million Brüder“ und „Von Haus zu Haus“. Welche Kraft schöpfte ich doch daraus, die Worte zu singen:
Trotz Satans Gewalt sind wir ohne Scheu,
Der Teufel kann uns doch niemals scheiden
Von Jehova Gott, den wir lieben treu,
Dem wir von Herzen ergeben bleiben.
Eher würde es einem gelingen,
Sinais Berge im Meer zu versenken,
Als der Versuch, uns dazu zu zwingen,
Uns von Gottes Herrschaft abzuwenden.
Gott werden wir die Treue bewahren,
Die Liebe ist für uns ein Quell der Kraft,
Wenn uns Satan droht mit seinen Scharen,
Uns Jehova immer Rettung verschafft.
Geht der Teufel jedoch schließlich so weit,
Daß er Zeugen tötet zu seiner Schand’,
So steht Jesus Christus auf unsrer Seit’
Mit den Schlüsseln des Grabs in seiner Hand.
Jeden Morgen vor dem Frühstück sang ich etwa fünf meiner Lieder und am Abend wieder vier oder fünf.
Obgleich meine ersten Versuche, im Gefängnis zu beten, etwas schroff unterbrochen wurden, erkannte ich, wie wichtig es ist, mich eng an Jehova zu halten. Vielleicht war ich von meinen Mitmenschen abgeschnitten, doch niemand konnte mich von Gott scheiden. Als ich zum Schanghaier Gefängnis gebracht worden war, entschloß ich mich, nunmehr wieder in einer offenen Art zu beten. Ich wußte, daß ich auf diese Weise mindestens denen, die in meiner Nähe waren, Zeugnis geben konnte. Daher kniete ich in meiner Zelle dreimal täglich nieder, allen sichtbar, die an meiner Zelle vorbeigingen, und betete laut. Ich dachte dabei an Daniel, von dem die Bibel sagt, daß er trotz eines Verbots „dreimal des Tages ... auf seine Kniee“ fiel „und betete und lobpries vor seinem Gott“. (Dan. 6:11) Ich bat Gott um Weisheit, damit ich recht spreche und handle und ihn dadurch ehre. Ich betete darum, daß sein glorreiches Vorhaben siegen möge. Ernstlich betete ich für meine Brüder in allen Teilen der Welt. Es schien mir, als wenn Gottes Geist meine Gedanken bei solchen Anlässen in sehr nützliche Bahnen lenkte und mir das Gefühl der Gefaßtheit vermittelte. Welche Kraft und welchen Trost schenkte mir doch das Gebet! Obendrein wurde ich auf diese Weise allen als ein christlicher Prediger bekannt.
Manchmal plagte mich jedoch der Gedanke, ich hätte vielleicht vor meiner Verhaftung nicht wirklich alles im Dienste Jehovas getan, was ich eigentlich hätte tun sollen. Zuerst war ich darüber besorgt. Dann stellte ich jedoch fest, daß ich aus einer solchen Überprüfung Nutzen ziehen konnte, indem ich meine Schwächen und die Möglichkeiten, sie in Zukunft zu überwinden, erkennen würde. Ich entschloß mich, sofern ich wieder die Freiheit dazu haben sollte, künftig ein weit tüchtigerer Diener Gottes zu sein. Ich trug diese Dinge Jehova im Gebet vor und fühlte mich dadurch erquickt. So wurden meine Überzeugung und mein Entschluß, in Jehovas Dienst auszuharren, während meiner Haftzeit gestärkt.
Jedes Jahr richtete ich mich darauf ein, die Feier zum Gedächtnis an den Tod Christi zu begehen, wie ich es konnte. Durch mein Zellenfenster beobachtete ich, wie der Mond gegen Frühlingsanfang voll wurde. Ich rechnete das Datum der Gedächtnisfeier so genau wie möglich aus. Natürlich hatte ich keine Möglichkeit, die Symbole, das Brot und den Wein, zu beschaffen, und die Wärter lehnten es ab, mir solche Dinge zu geben. Die ersten beiden Jahre konnte ich mir daher die Symbole nur vorstellen und durch Bewegungen eine Teilnahme an ihnen zum Ausdruck bringen, ähnlich wie ich Menschen, die ich in meiner Phantasie vor mir sah, predigte. Im dritten Jahr fand ich in meinem Paket vom Roten Kreuz einige Büchsen schwarzer Johannisbeeren, und es gelang mir, aus den Johannisbeeren Wein zu machen. Ich konnte Reis als ungesäuertes „Brot“ verwenden. Dieses Jahr hatte ich meinen Wein und auch ungesäuerte Oblaten aus einem Paket vom Roten Kreuz als Symbole. Ich sang und betete und hielt eine regelrechte Ansprache bei der Gedächtnisfeier, wie es in irgendeiner Versammlung des Volkes Jehovas sonst geschehen würde. So fühlte ich mich jedes Jahr mit meinen Brüdern in der ganzen Welt verbunden, als ich diese so wichtige Feier beging.
Obgleich meine Tätigkeit im Gefängnis sehr eingeschränkt war, versuchte ich durch ein rechtes Beispiel Zeugnis zu geben. Ich dachte dabei an Nehemia, der in Gefangenschaft so treu als Mundschenk des Königs von Persien diente, daß ihm seine Bitte gewährt wurde, nach Jerusalem zu reisen und sich dort der Angelegenheiten der Anbetung seines Gottes anzunehmen. Wiederholt bat ich um Arbeit, doch dieser Wunsch wurde mir abgeschlagen. Es wurde jedoch von jedem Gefangenen verlangt, daß er seine eigene Zelle sauber hielt. Ich versuchte meine in mustergültiger Ordnung zu halten. Allmählich dehnte ich meine Arbeit aus und machte den Platz vor meiner Zelle in der Zeit, da ich mich dort aufhalten durfte, sauber, und dann die leeren Zellen daneben. Später putzte und polierte ich sogar die Tische der Wärter. Ich war aufrichtig bemüht, etwas zu tun, um zu helfen, und allmählich gewann ich das Vertrauen der Wärter. Einer von ihnen sagte mir: „Alles, was Sie tun, tun Sie sehr gut, sei es das Saubermachen oder Ihr Sprachstudium. Ich hoffe, daß Sie Ihren Eifer im Dienste der Menschheit anwenden werden, wenn Sie wieder in England sind.“ Ich versicherte ihm, daß ich genau das vorhabe.
Niemals empfand ich Haß gegenüber diesen Männern, die eingeteilt waren, um auf mich aufzupassen. Sie erinnerten mich an die Heeresoffiziere, die Jesus an den Marterpfahl schlagen mußten. Sie wußten nicht, was sie taten. Darum betete ich zu Gott, er möge den Wärtern vergeben und nur jene bestrafen, die wirklich verantwortlich zu machen sind, weil sie Gott und sein Volk hassen und dies gewaltsam zum Ausdruck gebracht haben.
WIEDER UNTER DEM VOLKE JEHOVAS!
Als ich endlich davon unterrichtet wurde, daß die Zeit meiner Entlassung nahe sei — sogar fünf Monate vor dem Strafablauf —, wie erleichtert fühlte ich mich doch! Man machte mit mir eine Rundfahrt durch Schanghai und das umliegende Gebiet, um mir zu zeigen, was der Kommunismus in materieller Hinsicht für die Menschen getan hat. Dann wurde ich schließlich am 27. Mai über die bereits erwähnte Brücke gebracht, und meine wartenden Brüder schlossen mich in die Arme! Wie wunderbar, wieder mit Jehovas Volk zusammen zu sein!
Die Brüder in Hongkong waren so liebevoll, daß es mir schwer fiel, sie zu verlassen. Doch ich bestieg am 1. Juni ein Flugzeug, um die Heimreise nach England anzutreten. Die erste Landung war in Japan, wo mich eine große Anzahl von Zeugen erwartete, um mich zu begrüßen. Sie hatten nichts von meinen Reisevorkehrungen gehört, aber sie hatten die Meldung über meine Freilassung in der Zeitung verfolgt und dachten, daß ich vielleicht an Bord dieses Flugzeuges sein könnte. Sie wollten dort sein, um mich willkommen zu heißen.
In New York war ich überwältigt vor Freude, als ich sah, daß Bruder Knorr, der Präsident der Watch Tower Society, am Flughafen war, um mich zu empfangen. Er war der erste, der mich in die Arme schloß, um mich herzlich zu begrüßen. Vieles im Brooklyner Bethelheim und in der Druckerei hatte sich geändert, seitdem ich sie 1947, ehe ich nach China gereist war, das letzte Mal gesehen hatte. Dort herrscht jedoch der gleiche Geist der Liebe wie vorher, nur schließt er jetzt einen größeren Personenkreis ein.
Auch hier wollten die Brüder meine Erfahrungen hören. Ich freute mich, sie erzählen zu können und den Brüdern zu versichern, daß ich mich trotz der vergangenen viereinhalb Jahre nie in meinen fünfundzwanzig Jahren des Vollzeitdienstes so stark im Glauben gefühlt hätte wie jetzt. Wieso? Weil keine Waffen, Mauern oder Gefängnisgitter den Geist Gottes von seinem Volk zurückhalten können! Wenn wir das Wort Gottes fleißig studiert haben und es tief in unsere Herzen haben eindringen lassen, so haben wir nichts zu befürchten. Wir können nicht aus eigener Kraft stehen. Doch Gott läßt durch seine Allmacht selbst den Schwächsten unter uns siegreich aus der Verfolgung hervorgehen!
● Wie stark ist dein Glaube? Könntest du unter endlosen Verhören und in jahrelanger Absonderung hinter Gefängnismauern standhalten, ohne zu straucheln? Bedenke: Die Heilige Schrift erklärt, daß „alle, die in Christus Jesus nach dem Willen Gottes leben wollen, Verfolgungen zu bestehen haben“. (2. Tim. 3:12, Kr) Jetzt, ehe Verfolgung kommt, ist es an der Zeit, dich zu stärken. Wie? Durch weisen Gebrauch deiner Zeit zum Studieren und Nachsinnen über das Wort Gottes, bis es tief in dein Herz eindringt, durch regelmäßiges Zusammenkommen mit Jehovas Volk und durch Anwendung des Gelernten im Dienste Jehovas. So wirst du zu denen gehören, „deren Sinne durch Uebung geschult sind zur Unterscheidung des Guten und des Bösen“. (Hebr. 5:14, SB) Ein solches Unterscheidungsvermögen ist unerläßlich, wenn uns Verfolgung droht. Wenn du dich aber bereits jetzt auf Jehova verläßt und die geistige Hilfe ausnutzt, die er beschafft, so wirst du in Zeiten der Entscheidung Kraft von ihm empfangen, und er wird dich stützen. — Die Herausgeber.