Alaskas mörderisches Schlittenrennen
Vom „Awake!“-Korrespondenten in Alaska
KANNST du dir vorstellen, ein Drittel der Entfernung von New York nach San Francisco oder die Strecke von London nach Rom auf einem einfachen Hundeschlitten zurückzulegen? Eine solch lange Strecke durch eine karge, von Winden heimgesuchte Schneewildnis zurückzulegen wäre gewiß ein Test der Körperkraft und Ausdauer. Es hatten sich 62 Schlittenfahrer mit ihrem Hundegespann eingefunden, und ich wollte mir das Rennen mit ansehen.
Ich flog mit einem Freund zur historischen Goldrausch-Stadt Nome (Alaska). Hier, an der Küste des Beringmeeres, würde das als Iditarod Trail Race bezeichnete Wettrennen enden.
Ein Hauch von Nostalgie
Iditarod ist der Name einer verlassenen Bergwerksstadt und einer alten Postroute. Diese folgte einem Netz von Pfaden, die aus dem 19. Jahrhundert datieren. Die Pfade erstreckten sich über mehr als 3 200 km — von Seward am Golf von Alaska bis nach Nome am Beringmeer. Im Sommer wurde der Verkehr auf der Iditarod-Route hauptsächlich mit Schiffen auf dem Yukon bewältigt. Im Winter verlegte man sich jedoch auf den Hundeschlitten. Daher der Name des Wettrennens: Iditarod Trail Race.
Das Schneemobil hat erst in den letzten Jahren den Hundeschlitten von seinem Platz verdrängt. Folglich ist das Iditarod-Wettrennen für viele, die der Vergangenheit nachtrauern, eine nostalgische Erinnerung an die Leistungen der Männer, die sich auf ihre Hunde verlassen mußten, um neue Gebiete zu erschließen.
Das Hundeschlittenfahren ist in vielen Teilen der Erde populär. In Alaska gilt es als willkommener Zeitvertreib während des langen Winters. Es kann einen von den Folgen des „cabin fever“ befreien, unter dem man zu leiden hat, wenn man sich zu lange im Haus aufhält. Hundeschlittenfahren kann aber auch dem Zuschauer Freude bereiten. Die Sibirischen Huskies und die Malamuten in einer schönen Winterlandschaft vor einem Schlitten in Aktion zu sehen ist ein erhebender Anblick.
Jedes Jahr werden mehrere Wettrennen abgehalten, die Tausende von Zuschauern an den Kurs locken, über den die Schlittenfahrer mit 29 bis 32 km/h dahinrasen. Die meisten Rennen dauern zwei bis drei Tage und haben eine Tagesleistung von 40 bis 50 km. Im Gegensatz dazu ist das Iditarod-Wettrennen ein Marathonrennen. Es ist ein Aufbruch in die Wildnis, wo die Männer und die Hunde bei zeitweise -45 °C von 30 Knoten schnellen Winden, von Schneestürmen, von Einsamkeit und Erschöpfung zufolge schlafloser Nächte geplagt werden.
Unser Flugzeug näherte sich dem schönen, aber kargen Rand des Beringmeeres an der Küste von Nome. Die Küste war von Eis und festem Schnee gesäumt, so weit das Auge reichte. Ich kratzte das Eis von meinem Fenster weg, um etwas klarere Sicht zu haben. Direkt unter uns zog das führende Gespann in der hellen Mittagssonne stolz und würdevoll seine Bahn. Die Hunde waren sich, während sie in ihrem gepolsterten Geschirr vorwärts strebten, dessen bewußt, daß sie an der Spitze der Herausforderer waren und siegreich dem Ziel entgegenliefen.
Wieviel kostet es?
Im Hauptquartier von Nome erfuhr ich einiges über die Kosten des Schlittenrennens. Es ist nicht damit getan, 14 Hunde vor einen Schlitten zu spannen und „Mush!“ zu rufen.
Ein kräftiger junger Mann von etwa 18 Jahren erzählte mir, daß er beim Iditarod-Rennen im Jahr zuvor der jüngste Schlittenfahrer war. Es kostete ihn 7 000 US-Dollar, sein Gespann für das Rennen vorzubereiten. Ich erfuhr, daß einige Schlittenfahrer für einen guten Schlittenhund 500 bis 600 Dollar zahlen. Ein wertvoller Hund, der allein läuft und führt, kann 2 000 bis 4 000 Dollar kosten. Kein Wunder, daß viele Schlittenfahrer ihre Hunde selbst züchten!
Auch das Hundefutter kostet sein Geld. Die Vorschrift verlangt, daß jeder Hund zwei Pfund Nahrung pro Tag auf der Strecke erhält. Sie muß mit Flugzeugen an bestimmte Streckenstationen transportiert werden. Die Zusammenstellung des Futters wird vom Schlittenfahrer selbst bestimmt. Die Hunde fressen Fisch oder Rindfleisch, Schweinefett, Weizenkeimöl, Honig und Pflanzenöl. Da eine warme Mahlzeit am besten ist, werden die Bestandteile miteinander vermengt und gekocht.
Es gilt auch, Gefahren zu begegnen — und nicht alle sind witterungsbedingt. Letztes Jahr wehrte sich ein Elch gegen das Vordringen in sein Revier. Das riesige Tier wich nicht von der Stelle und griff drei Gespanne an — 42 knurrende, jaulende Hunde. Ein Schlittenfahrer mußte auf einem nahe gelegenen Baum Zuflucht suchen. Die Konfrontation wurde so gefährlich, daß schließlich ein anderer Schlittenfahrer das Tier erschoß.
Das Wettrennen ist nur etwas für jemand, der auch die Opfer — Geld, Gefahren und Ausdauer — auf sich nimmt.
Richtige Behandlung der Hunde
Überrascht es dich, zu erfahren, daß diese Schlittenhunde „Laufschuhe“ tragen? Wenn du genau hinsiehst, wirst du Lederstiefelchen erkennen, die zu den Wettbewerbsbedingungen gehören. Es müssen zwei Sätze dieser Schuhe zur Verfügung stehen, damit die Pfoten der Huskies geschützt sind, vor allem wenn sie bei stürmischem Wetter auf vereistem Boden laufen.
Die Hundebesitzer neigen nicht zu einer harten Behandlung ihrer Tiere. Manchmal weigern sich Schlittenfahrer sogar, mit ihrem Gespann auf die Strecke zu gehen, oder ein Rennen wird wegen schlechter Bedingungen abgesagt.
Was geschieht, wenn ein Hund sehr ermüdet, wenn er krank wird oder sich verletzt? Er wird dann in den Schlittenkorb gelegt und zu einer der 28 Stationen gebracht, wo sich ein Tierarzt oder Rennwart befindet, der sich um das Tier kümmern kann. Am Zielort muß über alle Hunde Rechenschaft abgelegt werden. Wenn der Schlittenfahrer dazu nicht in der Lage ist, wird er disqualifiziert. Für die richtige Behandlung der Hunde wird viel getan.
Der Schlittenfahrer — ein kräftiger Bursche
Muß ein Schlittenfahrer aus ganz besonderem Holz geschnitzt sein? Nun, überlege einmal, welche Zähigkeit erforderlich ist, um unter den bereits erwähnten Bedingungen einen Hundeschlitten an einem steilen Hang zu ziehen oder zu schieben. Wärst du bereit, bei Minustemperaturen im Freien in einem Schlafsack oder auf einer Matratze aus Fichtenzweigen zu schlafen? Das erfordert sicher eine robuste Natur. Letztes Jahr nahm ein 75jähriger „Veteran“ am Rennen teil. Und er hielt die 1 600-km-Reise durch.
Unter den Schlittenfahrern waren auch sieben Frauen. Eine der Frauen war, um sich auf das Rennen vorzubereiten, vor einigen Jahren im Badeanzug auf einen gefrorenen See gegangen, um ein Loch ins Eis zu schlagen und in das eisige Wasser zu steigen. Sie wollte wissen, ob sie ein solches Erlebnis fern der Heimat ertragen könnte, falls ihr Schlitten einmal auf dem Eis einbrechen sollte. War sie entmutigt? Sie schaffte die gesamte Strecke bis nach Nome. Sechs von den sieben Frauen kamen bis zum Ziel.
Training
Obwohl Schlittenhunde zum Laufen gezüchtet werden und am glücklichsten sind, wenn sie laufen, brauchen sie eine gute Kondition. Genauso wie ein Mensch muß ein Hund an Kreislaufkapazität und Körperkraft zunehmen. Übergewicht kann für Tiere genauso schädlich sein wie für Menschen. Daher wird während der Sommermonate viel Zeit aufgewandt, um die Hunde zu trainieren.
Vor dem ersten Schneefall kann man Hundegespanne sehen, die an die vordere Stoßstange eines alten Autos gebunden sind. Der Schlittenfahrer thront auf der Motorhaube und läßt sich wie auf einem Kriegswagen über die Wege ziehen. Wenn er jedoch auch selbst eine gute Kondition anstrebt, steigt er am besten ab und läuft mit dem Gespann, denn er braucht viel Ausdauer, um mit einem Fuß den Schlitten zu schieben.
Das Iditarod Trail Race von 1980 dauerte vom 1. bis zum 25. März. Zweiundsechzig Gespanne waren am Start. Für die ersten zwanzig, die Nome erreichen würden, standen Preise im Wert von insgesamt 52 500 Dollar — für den Sieger 12 000 Dollar — in Aussicht. Sechsunddreißig Gespanne erreichten das Ziel. Die Anzahl der Hunde pro Gespann bewegte sich zwischen zehn und zwanzig. Die beliebteste Rasse sind die Sibirischen Huskies. Sie sind kleiner, zäher, schneller und friedlicher als die schweren Malamuten, die gerne untereinander kämpfen. Manchmal werden sie mit Indianerhunden (teils Wolf) oder Labradoren (robustere Füße) gekreuzt.
Etwa 1 500 Zuschauer standen an der Front Street von Nome, als der 44jährige Joe May aus Trapper Creek (Alaska) mit seinem Gespann von zehn erschöpften Hunden langsam über die Ziellinie fuhr. Als die heulende Feuersirene die Ankunft des Schlittenfahrers verkündete, hatte er Anspruch auf den Preis von 12 000 Dollar. Er verdiente jeden Penny davon, zumal er eine neue Rekordzeit erreicht hatte — 14 Tage, 7 Stunden und 11 Minuten.
Wird Joe May wieder an einem Iditarod-Rennen teilnehmen? „Das war mein letztes Rennen“, sagte er am Schluß. „Oder vielleicht doch nicht“, fügte er hinzu. Der Gesamtpreis für das Jahr 1981 wurde auf 100 000 Dollar erhöht.
[Karte/Bild auf Seite 21]
(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)
NOME
Nancy Lake
ANCHORAGE