Was widerfährt den Städten?
„STREIK! Streik! Streik!“ Von diesem Ruf hallten die Ratsstuben in San Francisco wider. Streiken wollte die Polizei, die seit dem Bestehen der Stadt noch nie gestreikt hatte.
Bevor an jenem trüben Montag im August 1975 der Morgen dämmerte, waren zwei Polizisten von einem wütenden Autofahrer absichtlich gestreift und ein anderer Polizist war mit einem Baseballschläger verprügelt worden. Auch wurde an jenem Tag auf Polizeibeamte geschossen, worauf diese auf die Straßenlampen feuerten, um zu verhindern, daß die Heckenschützen sie sehen und aufs Korn nehmen konnten. Ferner beging die Bevölkerung zahllose widerrechtliche Handlungen jeder Art, angefangen von Parksünden bis zu Mordtaten, weil die Polizei sich im Ausstand befand.
Der Grund für diesen Streik und für eine Streikdrohung der Feuerwehrleute waren die Streitigkeiten zwischen Bürgermeister und Stadtrat einerseits und Polizei und Feuerwehr andererseits. Dabei ging es um die Fragen: Wieviel mehr Lohn und andere Vergünstigungen sollten diese städtischen Bediensteten erhalten, und haben Bedienstete, die lebenswichtige Funktionen erfüllen, das Recht, wegen solcher Fragen zu streiken?
„Eine ganze Stadt wurde gekidnappt und gefangengehalten, bis das Lösegeld bezahlt wurde“, schrieb der Kolumnist William Safire in der New York Times. „Das Lösegeld wurde bezahlt, und jetzt gehen die Erpresser wieder auf Streife und sorgen dafür, daß niemand anders das Gesetz übertritt.“
Die Gewerkschaften der öffentlichen Bediensteten jedoch erklären in immer mehr Städten, daß es leider auf keine andere Weise möglich sei, das zu bekommen, worauf sie — ihrer Meinung nach — ein Recht hätten. Wenn die Erneuerung der Tarifverträge fällig wird, kommt es deshalb in einer Stadt nach der anderen zu einem Streik der städtischen Bediensteten, der jeweils lähmend auf das Leben in diesen Städten wirkt.
Finanznot
Hinter diesen Symptomen verbergen sich schwere Probleme. Viele Großstädte in den Vereinigten Staaten und in anderen Ländern sind in Geldnot: Die gut organisierten öffentlichen Bediensteten fordern immer höhere Löhne, und auch andere Haushaltsausgaben der Städte schnellen in die Höhe. Ferner wird die Armee der Unterstützungsempfänger größer und größer, während die Einnahmen der Städte sinken.
Im vergangenen Jahr war die Geldnot der Stadt New York, die als Finanzkapitale der Welt gilt, so groß, daß ihr der Bankrott drohte. Im Laufe von zehn Jahren hatten sich die Ausgaben der Stadt mehr als verdreifacht. Obschon Tausende von öffentlichen Bediensteten eingespart wurden und man in aller Eile die „Vereinigung zur Unterstützung der Stadt“ (MAC) ins Leben rief, um der Stadt finanziell wieder auf die Beine zu helfen, blieb die Gefahr des Bankrotts wochenlang bestehen. Und als der Staat New York der Stadt aushalf, geriet auch er in finanzielle Schwierigkeiten.
Das wirkte sich sofort auf die Wirtschaft aus. So konnte man in dem Finanzblatt Business Week lesen:
„Die Probleme der Stadt New York vergiften den Brunnen für alle. ... Bereits haben Staaten und Städte — selbst solche, die nicht in Geldnot sind — Schwierigkeiten, Darlehen aufzunehmen, und wenn sie es tun, müssen sie einen höheren Zinssatz bezahlen. ... viele Staaten und Städte machen die Erfahrung, daß sie in dieselbe Klemme geraten wie die Stadt New York: Entweder sie reduzieren ihre Ausgaben und Dienste ..., oder sie gehen unweigerlich dem Konkurs entgegen.“
Die verzweifelte Forderung, daß der Bund helfen solle, veranlaßte ein anderes Finanzblatt, die Frage aufzuwerfen: „Onkel Sam kann New York aus der Klemme helfen, aber wer wird Onkel Sam aus der Klemme helfen?“ (Forbes, 1. Juli 1975, S. 42). Die amerikanische Bundesregierung schuldet ihren Kreditgebern bereits das Doppelte von dem, was sie jährlich an Steuern einnimmt, die Stadt New York dagegen schuldet ihnen nur etwas mehr als ein Jahreseinkommen.
Das Weltwirtschaftssystem beruht zu einem großen Teil auf der Grundlage des Kredits. Und viele Fachleute sind der Meinung, daß New York lediglich das Kreditsystem der Welt im kleinen widerspiegle. „Kredit ist Glaubwürdigkeit“, erklärte ein Sprecher New Yorks. „Glaubwürdigkeit bedeutet, daß der Kreditnehmer imstande ist zurückzuzahlen. Wenn ein großer Schuldner wie New York nicht zahlt, wirkt sich das überall auf die Kredittransaktionen aus.“
Hinter diesem Finanzdebakel verbergen sich zahlreiche tiefsitzende städtische Probleme, denen schwer beizukommen ist: Die stetige Ausbreitung der Großstadtghettos beschleunigt die Flucht des „Mittelstandes“ in die Vorstädte; die öffentlichen Angestellten sind bereit, auf die Barrikaden zu gehen; die Zahl der Wohlfahrtsempfänger steigt beängstigend; die Häuser zerfallen; die Verschmutzung besteht nach wie vor; das Verbrechertum gedeiht, und die Gewalttätigkeit nimmt zu. Von solchen Problemen werden vor allem die Großstädte in einem Maße gequält, das nicht allein durch die größere Bevölkerung zu erklären ist. Und in vielen Großstädten verschlimmert sich die Lage fortgesetzt.
Eine weltweite Krankheit
„New York hat es lediglich zuerst erwischt“, sagte Henry W. Maier, Oberbürgermeister von Milwaukee. „Alle Großstädte sind in der gleichen Lage wie New York. Es ist lediglich eine Frage der Zeit.“ Doch es ergeht nicht nur den Städten in den Vereinigten Staaten so. In der japanischen Zeitung Daily Yomiuri wurde zum Beispiel berichtet, daß in jenem Land Hunderte von Städten vor dem „Bankrott stehen, während die Haushaltsausgaben ständig steigen“ (5. Oktober 1975, S. 2).
Das Ausmaß der Großstadtprobleme ist gewaltig, weil sich in den vergangenen 25 Jahren 116 Städte zu Millionenstädten entwickelt haben, während es bis dahin in all den Jahrhunderten nur 75 Städten gelang, eine Millionenstadt zu werden. Am schnellsten wachsen die Städte in den Ländern der „dritten Welt“, in den Ländern also, die es sich am wenigsten leisten können. In vielen dieser Städte gibt es aber außer den Problemen, mit denen die Großstädte in den westlichen Ländern zu kämpfen haben, zusätzlich noch solche, die in engem Zusammenhang mit ihrer Kultur stehen.
„Über ein Drittel der Bevölkerung von Manila, Caracas, Kinshasa und Kairo wohnt illegal in diesen Städten. Diese Menschen hausen in Zelten, Wellblechhütten oder Schuppen, die keine Wasserversorgung haben und an keine Kanalisation angeschlossen sind“, berichtet das Milwaukee Journal. „Die Fachleute rechnen damit, daß spätestens 1980 in vielen Ländern die meisten Städte größtenteils aus Slum- und Barackenvierteln bestehen werden.“
Ein Rückblick ergibt jedoch, daß die Städte früher in vielen Fällen ganz anders aussahen. In der in Lagos (Nigeria) erscheinenden Sunday Times schrieb Kunle Akinsemoyin: „Ich kann mich noch gut an die Zeit erinnern, als Lagos jeden Nigerianer mit Stolz erfüllte. Das war vor rund vierzig Jahren, als ich noch ein Junge war ... Die Menschen waren freundlich, hilfsbereit, anständig und gastfrei.“ Traurig fügte er hinzu, daß seine Heimatstadt jetzt immer mehr in den Ruf komme, die schmutzigste Stadt der Welt zu sein.
Manch einer unter unseren älteren Lesern hat vielleicht dieselbe Erfahrung gemacht wie Herr Akinsemoyin. Warum erleiden viele Städte, die früher blühende Kulturzentren gewesen sind, schwere Rückschläge? Ist an den Großstädten etwas grundsätzlich verkehrt?