Hält dich das Fernsehen vom Lesen ab?
DURCH den allumfassenden Einfluß des Fernsehens wird eine Art Mülldeponie des Intellekts in jeder Richtung erweitert. In den Vereinigten Staaten, wo fast 75 Millionen Haushaltungen ein Fernsehgerät haben, hat jeder Achtzehnjährige gewöhnlich mehr Stunden (15 000) vor dem Fernsehgerät verbracht als in der Schule. Bei Schriftstellern ist es üblich geworden, daß sie ihre Werke im Hinblick auf eine spätere Verwendung im Fernsehen verfassen.
„Als das Fernsehen zum Liebling der Bevölkerung wurde, schwand bei den amerikanischen Schriftstellern der Sinn für literarische Tradition“, äußerte sich Norman Mailer vorwurfsvoll auf einem Symposium der Yale-Universität. Warum sollte man sich für eine literarische Vorzüglichkeit verausgaben, wenn sich ein nebulöses, sexbetontes Stück, in einen schillernden Stil gebettet, als Fernsehfassung besser verkauft als in Form eines Buches? Außerdem — wer liest heute noch Bücher? Wäre es nicht eine Verschwendung von Zeit und Mühe, wenn das Werk eines Tages sowieso als Fernsehstück käme?
Da heute 70 Prozent der Amerikaner die Abendnachrichten im Fernsehen oder Rundfunk verfolgen, haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten viele Abendzeitungen, große und kleine, Bankrott gemacht. Zum Beispiel haben im Jahre 1981 die New York Daily News (Abendausgabe) und solch wohlbekannte Zeitungen wie der Washington Star und das Philadelphia Bulletin kurz nacheinander ihr Erscheinen eingestellt.
Erkennst du, wie das Fernsehen dich deines Intellekts berauben kann? Das Fernsehen findet wie das Kino durch unsere Augen und Ohren Zugang zu uns. Es beherrscht völlig unsere beiden Hauptsinne. Hervorgehoben wird die Handlung. Der gesamte Bereich unserer Aufmerksamkeit wird beansprucht. Was immer es zu denken gibt, wird bereits für uns gedacht. Jeder Zentimeter des Raumes wird für uns erforscht, und jede Phase der Zeit wird unserer Vorstellungskraft vorweggenommen. Es gibt für uns kein Denken, Sorgen, Wundern oder Fragen. Wir kauern vor dem Fernseher wie geistige Trottel, ohne von unserem eigenen Denkvermögen Gebrauch zu machen.
Doch das Denken, das ja geistige Betätigung bedeutet, erfordert Übung wie ein Muskel. „Bewahre praktische Weisheit und Denkvermögen“, rät ein Bibelspruch, „und sie werden sich als Leben für deine Seele und als Anmut für deinen Hals erweisen“ (Sprüche 3:21, 22).
Die Herausgeber von Büchern und Zeitschriften versuchen verzweifelt, die audiovisuelle Vormachtstellung des Fernsehens zu brechen. Sie locken uns mit mehr Illustrationen und weniger Worten. Meist sprechen sie das Sinnliche, das Lüsterne, das Sensationelle oder irgend etwas anderes an, was ihnen ihrer Meinung nach Vorteile bringen kann im Kampf um möglichst viele Leser.
Wollen wir angesichts dieser Lawine intellektueller und moralischer Verseuchung die Suche nach wertvoller und lohnender Bildung aufgeben? Wenn nicht, welcher Weg ist dann zu empfehlen? Werde ein Leser!
Pflege die Kunst des Lesens
Möchtest du bis zum vollen Maße deiner geistigen Fähigkeiten heranreifen? Strebst du nach den höchsten Werten im Leben? Bist du dir deiner geistigen Bedürfnisse bewußt? Wenn du dich in dieser Richtung weiterentwickeln möchtest, mußt du dich hauptsächlich auf das geschriebene Wort stützen.
Wörter, die in Schrift (Druck) festgehalten sind, haben im Gegensatz zum flüchtigen Fernsehbild Beständigkeit. Wenn wir sie lesen, können wir innehalten. Wir können sie noch einmal lesen. Wir können meditieren, abwägen, aus dem Gelesenen Schlußfolgerungen ziehen, eine Lektion lernen und währenddessen unsere Geisteskräfte trainieren. Doch ohne es zu bemerken, werden durch langes und ständiges Fernsehen womöglich unsere geistigen Reflexe erschlaffen und nachlassen. Unsere Aufmerksamkeit wird „kurzatmiger“. Das Fernsehen mit seinen äußerst konzentrierten Szenen — manchenorts alle paar Minuten von Werbesendungen unterbrochen — kann dazu führen, daß wir uns nicht mehr über längere Zeit konzentrieren können. Unser intellektuelles Stehvermögen kann erschöpft werden.
Die Herausgeber von Büchern und Zeitschriften sind sich dessen bewußt. Sie wissen, daß Druckspalten, die nicht durch visuelle Hilfen aufgelockert sind, beim Durchschnittsleser auf Ablehnung stoßen. Der kurze, lebendig illustrierte Bericht ist eher in der Lage, unsere Aufmerksamkeit zu fesseln. Bei umfangreichem und tiefgründigem Lesestoff ist die Wahrscheinlichkeit, daß er uns fesselt, wesentlich größer, wenn er unterteilt ist. Er kann beispielsweise mit phantasievollen Untertiteln und passenden Auszügen oder Hinweisen am Rand — zusammen mit visuellen Hilfen — versehen werden.
Entwickle einen Appetit auf das Lesen
Laß dich durch nichts von einem ständigen Leseprogramm abhalten. Wenn dein Sinn Lesestoff beiseite schiebt, dann ziehe ihn mit der Hand zurück. Zwinge deine Augen, die Worte zu verzehren, so wie es eine Kinderpflegerin macht, die darauf besteht, daß das Kind seinen Mund öffnet und den Löffel leer macht. Tauche deine Denkprozesse in den Strom der Wörter ein, bis dein Intellekt im Verständnis des Lesestoffes schwimmt.
Lesen ist Kommunikation. Gibt es nicht viele Geistesgrößen, mit denen du kommunizieren möchtest? Ein Teil der Worte und der Weisheit der Geistesgrößen der Menschheitsgeschichte ist in schriftlicher Form festgehalten worden. Führe sie dir zu Gemüte. Auch Engel haben Worte geäußert, die von Menschen aufgezeichnet wurden. Doch am wichtigsten ist, daß Gott selbst Menschen jeden Zeitalters Worte des Lebens vermittelt hat. Sie sind in der Heiligen Schrift, der Bibel, aufgezeichnet. Wenn du die Bibel selbst liest, wirst du erkennen, daß ‘das Wort Gottes lebendig ist und Macht ausübt’ (Hebräer 4:12; Lukas 1:19; 9:35; Johannes 8:40; 2. Timotheus 3:16, 17).
Grabe die Bedeutung der Wörter aus
Wenn dir das Lesen nicht leichtfällt, dann gib nicht auf. Du kannst es lernen. Gehe das Problem mit Schwung an. Höchstwahrscheinlich beginnt dein Problem damit, daß du mit vielen Wörtern nicht vertraut bist. Aber bei wem ist das nicht der Fall? Die deutsche Sprache umfaßt 300 000 bis 400 000 Wörter. Der Durchschnittserwachsene gebraucht nur 12 000 bis 16 000 davon. Stell dir vor, wie viel uns entgeht!
Wenn dir die Bedeutung eines Wortes unklar ist, dann betrachte sie als eine in einer Schale eingeschlossene Nuß. Wir knacken die Schale, holen die Nuß heraus und stellen fest, daß sie wohlschmeckend und sättigend ist. Ähnliches kann man mit Wörtern erleben. Schiebe keins beiseite, bevor du nicht das Geheimnis seiner Bedeutung „geknackt“ hast. Ein neues Wort kennenzulernen belebt die Vorstellungskraft. Es regt zu Vergleichen an. Du wirst feststellen, daß du dann sagst: „Es gleicht diesem“ oder: „Es gleicht jenem“ — wie ein Diamant, der in viele Richtungen funkelt. Jedes neue Wort erhellt den Intellekt in einem bestimmten Bereich, der zuvor nie so zugänglich war.
Was tust du als erstes, wenn du ein Wort siehst, das du nicht kennst? Ein Redakteur eines amerikanischen Wörterbuchverlags sagte, daß er zuerst versucht, die Bedeutung vom Wortgebrauch her zu erraten. Was würden die benachbarten Wörter aussagen, wenn dieses Wort fehlen würde? Dadurch erhalten wir bereits Hinweise.
Aber du sollst nicht nur raten. Knacke die Nuß! Schlage das Wort in einem Wörterbuch nach.
Nehmen wir an, du stößt auf das Wort „Katalysator“:
„Harveys Sinn für Humor erwies sich als der Katalysator, durch den jene Nacht von ihrem Grauen verlor.“
Allein vom Zusammenhang her haben wir eine gute Vorstellung, was „Katalysator“ bedeutet. Aber würdest du dir zutrauen, das Wort bereits jetzt zu gebrauchen? Laß uns herausfinden, wie das Wort „Katalysator“ definiert wird, bevor wir es in unseren aktiven Wortschatz aufnehmen:
„Ein Stoff, der eine chemische Reaktion entweder beschleunigt oder verlangsamt, aber dabei selbst keine bleibende chemische Veränderung erfährt.“
Abgesehen von der grundlegenden chemischen Bedeutung ist „Katalysator“ ein gutes Wort, um zu beschreiben, wie Harveys Humor das Grauen eines schrecklichen Vorfalls „verlangsamt“ oder abschwächt. Aber was steckt hinter der Bedeutung? Welche Wurzeln hat der Baum, der die Nuß hervorbrachte?
Wir finden „Katalysator“ inmitten einer ganzen Familie von Wörtern. Direkt darunter befindet sich im Wörterbuch das Wort „Katalyse“. Manche Wörterbücher verraten uns unter anderem, daß es durch die Verschmelzung der beiden griechischen Wurzelwörter kata (herab) und lyein (lockern) entstanden ist.
Die Wurzelwörter eines Wortes auszugraben dient in mehrfacher Hinsicht unserer Bildung. Es hilft uns, Wörter im Gedächtnis zu behalten. Das Verstehen von Wörtern, die wir bereits kennen, wird vertieft. Auf einmal eröffnen sich uns ganz neue Wortfamilien. Sprachexperten sagen, daß das Erfassen der Wurzelbedeutung der größte Lohn für den Gebrauch des Wörterbuches ist.
Vor und nach „Katalysator“ finden wir Spalten von Wörtern, die alle mit dem griechischen kata (herab) beginnen. Im folgenden werden einige aufgeführt:
„Katachrese“ [kata, herab oder gegen, chresthai, gebrauchen]: der „Gegengebrauch“ oder Mißbrauch eines Wortes — etwas, wovor wir uns hüten wollen.
„Kataklysmus“ [kata, herab, klyzein, waschen]: eine Überschwemmung.
„Katastrophe“ [kata, herab, strephein, umwenden]: Ruin, Unheil, Unglück ... Schon durch ein einfaches Wurzelwort tut sich uns eine ganze Welt von Wörtern auf.
Hier beginnt der Wortschatz. Zusätzliche Bedeutungen ergeben sich durch das Hinzufügen von Vorsilben und Nachsilben. Probieren wir einmal aus, was mit dem Wortstamm „form“ geschieht, wenn wir eine Vorsilbe wie „kon“ oder „Re“ hinzufügen oder wenn wir eine Nachsilbe, wie zum Beispiel „bar“ oder „los“, anhängen.
Allein die Einführung auf den ersten Seiten eines guten Wörterbuches zu studieren ist eine sehr gute Schulung. Ob du noch zur Schule gehst oder nicht, du kannst an Lesefertigkeit gewinnen, indem du, wie oben beschrieben, vollen Gebrauch von Wörterbüchern machst.
Was ist lesenswert?
Inmitten des Wirrwarrs von Schundliteratur an Zeitschriftenständen und in Buchhandlungen gibt es immer etwas Wertvolles, was man aussuchen und lesen kann. Aber nach welchen sicheren Richtlinien kann man guten Lesestoff finden? Eine der besten Richtlinien für die Auswahl von Lesestoff oder jegliche andere Form der Kommunikation wurde vor fast zweitausend Jahren aufgezeichnet: „Was irgend wahr, ... von ernsthaftem Interesse, ... gerecht, ... keusch, ... liebenswert ist, worüber irgend man wohlredet, wenn es irgendeine Tugend und irgend etwas Lobenswertes gibt, diese Dinge erwägt weiterhin“ (Die Bibel, Philipper 4:8).