Die Menschenherrschaft auf der Waage gewogen
Teil 6: Schwarzhemden und Hakenkreuze
Faschismus: Herrschaft durch Diktatur, gekennzeichnet durch staatliche Kontrolle der Wirtschaft, durch ein Netz von gesellschaftlichen Organisationen und eine Ideologie des militanten Nationalismus. Nationalsozialismus: Faschismus, wie er von der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei unter Hitler ausgeübt wurde.
DAS Wort „Faschismus“ weckt im allgemeinen die Vorstellung von italienischen Schwarzhemden und von der braun uniformierten deutschen SA mit ihren Hakenkreuzen. Doch auch in anderen Ländern kam der Faschismus auf.
In den 30er Jahren trat er in Ungarn, Rumänien und Japan zutage. Im spanischen Bürgerkrieg verhalfen Faschisten Francisco Franco zur Herrschaft über Spanien, obwohl nach Ansicht der meisten Historiker die Diktatur Francos (1939—75) nicht rein faschistisch war. Die von Juan D. Perón aufgerichtete argentinische Diktatur (1943—55) hingegen war faschistisch.
Anbetung des Staates
Der Begriff „Faschismus“ leitet sich von dem italienischen Wort fascio her und bezieht sich auf ein altrömisches Symbol der Amtsgewalt. Es wurde in Lateinisch fasces genannt und war ein Rutenbündel, aus dem ein Beil herausragte — ein treffendes Symbol für die Einheit des Volkes unter der obersten Staatsgewalt.
Zwar reichen die Wurzeln des Faschismus bis in die Zeit Niccolò Machiavellis zurück, doch erst 1919, d. h. 450 Jahre nach dessen Geburt, wurde das Wort zum erstenmal gebraucht, und zwar von Benito Mussolini. Machiavelli behauptete, die politische Korruption seiner Tage könne nur durch einen autoritären Herrscher überwunden werden, der seine Macht skrupellos, aber besonnen ausübe.
Ebensolch einen starken, opportunistischen und charismatischen Führer braucht eine faschistische Regierung, um etwas zu erreichen. So galten Mussolini und Hitler einfach als Il Duce bzw. der Führer.
Der Faschismus erhebt den Staat über jegliche Autorität, sowohl religiöse als auch andere. Der französische Rechtslehrer Jean Bodin (16. Jahrhundert), der englische Philosoph Thomas Hobbes (17. Jahrhundert) und die deutschen Philosophen Johann Gottlieb Fichte, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Heinrich von Treitschke (18. und 19. Jahrhundert) verherrlichten alle den Staat. Nach Hegel hat der Staat eine übergeordnete Stellung, und die höchste Pflicht des einzelnen besteht darin, ihn loyal zu unterstützen.
Es liegt in der Natur aller Regierungen, Autorität auszuüben. Doch faschistische Staaten gehen bis zum Äußersten, indem sie blinden Gehorsam verlangen. Für von Treitschke waren die Menschen kaum mehr als Sklaven des Staates. Er sagte, solange jemand gehorche, sei es gleichgültig, was er denke. Bezeichnenderweise ersetzte der Faschismus die Losung der Französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ durch den italienischen Aufruf „Glauben, gehorchen, kämpfen“.
Der Faschismus verherrlicht den Krieg
Kämpfen? Ja! „Allein der Krieg spannt die menschlichen Energien aufs höchste an und drückt den Völkern, die den Mut haben, sich ihm zu stellen, den Stempel des Adels auf“, sagte Mussolini einmal und erläuterte: „Krieg ist für den Mann, was Mutterschaft für die Frau ist.“ Er bezeichnete beständigen Frieden als „bedrückend“ und als „Verneinung aller grundlegenden Tugenden des Menschen“. Mit diesen Worten spiegelte Mussolini lediglich die Ansichten von Treitschkes wider, der behauptete, der Krieg sei eine Notwendigkeit und ihn aus der Welt zu verbannen sei nicht nur tief unmoralisch, sondern dadurch würden auch wesentliche und erhabene Kräfte der menschlichen Seele verkümmern.
Angesichts des Krieges und der Diktatur überrascht es nicht, daß viele Historiker den Beginn des modernen Faschismus bis zu Napoleon I. zurückverfolgen. Er war im frühen 19. Jahrhundert Diktator, aber zugegebenermaßen selbst kein Faschist. Dennoch wurden viele seiner politischen Vorgehensweisen, wie zum Beispiel die Gründung einer Geheimpolizei, der geschickte Einsatz der Propaganda und die Pressezensur, später von den Faschisten übernommen. Und bestimmt ist seine Entschlossenheit, den Ruhm Frankreichs wiedererstehen zu lassen, kennzeichnend für den nationalistischen Größenwahn, für den die faschistischen Führer später bekannt wurden.
Im Jahre 1922 waren die Faschisten in Italien stark genug, um Mussolini als Ministerpräsidenten einzusetzen — eine Stellung, die er rasch als Sprungbrett benutzte, um Diktator zu werden. Was Löhne, Arbeitszeit und Produktionsziele betrifft, war die private Industrie einer strengen Regierungskontrolle unterworfen. Private Unternehmen wurden nur insoweit gefördert, als sie den Interessen der Regierung dienten. Nichtfaschistische Parteien wurden verboten, ebenso die Gewerkschaften. Die Regierung beherrschte geschickt die Medien und brachte Gegner durch die Zensur zum Schweigen. Besonders achtete man darauf, die Jugend zu indoktrinieren, und die persönliche Freiheit war stark beschnitten.
Faschismus deutscher Prägung
„Trotz des zeitlichen Zusammentreffens ihrer Wege zur Macht“, heißt es in dem Buch Fascism von A. Cassels, „wiesen der italienische Faschismus und der deutsche Nationalsozialismus bedeutende Unterschiede in der Beschaffenheit und in der Zukunftsvorstellung auf.“
Neben den bereits erwähnten deutschen Philosophen, Vorläufern des faschistischen Denkens, bereiteten auch andere, wie der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche aus dem 19. Jahrhundert, den Weg für eine Art Faschismus, die allein in Deutschland aufkam. Nicht, daß Nietzsche Faschist war, aber er trat für eine Herrscherelite ein, eine Rasse von Übermenschen. Dabei hatte er allerdings keine bestimmte Rasse oder Nation im Sinn, am wenigsten die Deutschen, von denen er keine hohe Meinung hatte. Doch einige seiner Ideen kamen dem nahe, was den nationalsozialistischen Ideologen als Idealbild des Deutschen vorschwebte. Diese Ideen wurden übernommen, während andere, die nicht mit der Nazidoktrin übereinstimmten, fallengelassen wurden.
Hitler war zudem stark von dem deutschen Komponisten Richard Wagner beeinflußt. In den Augen des extrem nationalistischen und patriotischen Wagner sollte Deutschland in der Welt eine große Mission erfüllen. „Nach Ansicht Hitlers und der Nazi-Ideologen war Wagner der vollkommene Held“, heißt es in der Encyclopedia of the Third Reich. „Der Komponist brachte Deutschlands Größe zum Ausdruck. Wagners Musik rechtfertigte nach Hitlers Meinung den deutschen Nationalismus.“
William L. Shirer schreibt: „Es waren indes nicht seine [Wagners] politischen Schriften, es war sein monumentales Opernwerk, das im modernen Deutschland mythenbildend wirkte. Dieses Werk, das so lebhaft die Welt der deutschen Vorzeit heraufbeschwor, mit ihren Heldensagen, mit den kämpfenden heidnischen Göttern und Heroen, mit Dämonen und Drachen, mit ihren Blutfehden und primitiven Stammesfehden, mit ihrem Sinn für das Schicksalhafte, für die Liebesseligkeit und den Adel des Todes, dieses Werk gab Deutschland eine germanische Weltanschauung, die sich Hitler und die Nationalsozialisten zu eigen machten.“
Das Denken Nietzsches und Wagners war von Joseph Arthur Graf von Gobineau geprägt worden, einem französischen Diplomaten und Rassentheoretiker, der zwischen 1853 und 1855 sein Werk Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen schrieb. Er behauptete, die rassischen Anlagen seien für das Schicksal von Zivilisationen bestimmend. Die rassischen Merkmale arischer Gesellschaften zu verwässern würde letztlich, so meinte er, zu deren Niedergang führen.
Der Rassismus und der Antisemitismus, die sich aus diesen Ideen entwickelten, waren für den deutschen Faschismus kennzeichnend. Beide Merkmale waren in Italien weniger bedeutsam. Tatsächlich betrachteten viele Italiener Hinweise auf Antisemitismus in Italien als Anzeichen dafür, daß Hitler Mussolini als beherrschende Kraft im Faschismus verdrängte. Mit der Zeit wuchs Hitlers Einfluß auf die Politik des italienischen Faschismus in der Tat.
In ihrem Streben nach nationaler Größe blickten der italienische und der deutsche Faschismus in entgegengesetzte Richtungen. Der Autor A. Cassels erklärt: „Während Mussolini seine Landsleute aufforderte, den Taten der alten Römer nachzueifern, zielte die nationalsozialistische Umwälzung des Geistes darauf ab, die Deutschen anzustacheln, nicht nur die Taten der fernen teutonischen Giganten nachzuahmen, sondern diese Stammeshelden im 20. Jahrhundert zu verkörpern.“ Mit anderen Worten: Der Faschismus in Italien wollte vergangenen Ruhm dadurch wiedererlangen, daß er Italien, ein industriell unterentwickeltes Land, sozusagen ins 20. Jahrhundert schleifte. Deutschland hingegen wollte früheren Ruhm durch den Rückzug in eine mythische Vergangenheit zurückgewinnen.
Wodurch es möglich wurde
In den meisten Ländern sind die Faschisten nach einer nationalen Katastrophe, einem wirtschaftlichen Zusammenbruch oder einer militärischen Niederlage an die Macht gelangt. Das traf sowohl auf Deutschland als auch auf Italien zu. Obwohl die Länder im Ersten Weltkrieg auf gegnerischen Seiten kämpften, gingen beide geschwächt aus dem Kampf hervor. Nationale Unzufriedenheit, wirtschaftliche Verschiebungen und eine Verstärkung des Klassenkampfes plagten beide Länder. Deutschland erlebte eine galoppierende Inflation und eine enorm steigende Arbeitslosigkeit. Außerdem war das demokratische Prinzip schwach, behindert durch die militärische und autoritäre preußische Tradition. Und überall drohte das Schreckgespenst des sowjetischen Bolschewismus.
Die Vorstellung Charles Darwins von der Evolution und der natürlichen Zuchtwahl war ein weiterer bedeutender Faktor beim Aufstieg des Faschismus. Das Werk The Columbia History of the World spricht von einem „Wiedererwachen des Sozialdarwinismus in den Ideologien der Faschisten, der bei Mussolini und bei Hitler zum Ausdruck kam“.
Die Encyclopedia of the Third Reich stimmt mit dieser Beurteilung überein und erklärt, daß der Sozialdarwinismus „die Ideologie hinter der Völkermordpolitik Hitlers“ war. In Einklang mit der darwinistischen Abstammungslehre „argumentierten deutsche Ideologen, der moderne Staat solle seine minderwertige Bevölkerung zugunsten der starken, gesunden Elemente verdrängen, statt seine Energie für den Schutz der Schwachen einzusetzen“. Sie behaupteten, daß der Krieg im Kampf um das Überleben des Tüchtigsten normal ist und daß „der Sieg den Starken gehört, während die Schwachen beseitigt werden müssen“.
Hat man daraus gelernt?
Die Zeit der italienischen Schwarzhemden und der braun uniformierten deutschen SA mit ihren Hakenkreuzen ist vorbei. Doch selbst 1990 gibt es noch Überbleibsel des Faschismus. Vor zwei Jahren wies die Zeitschrift Newsweek darauf hin, daß in praktisch jedem westeuropäischen Land „die Kräfte der extremen Rechten erneut beweisen, daß verkappter Rassismus und der Appell an nationalistische und autoritäre Werte immer noch überraschende Unterstützung gewinnen können“. Die französische Front national von Jean-Marie Le Pen ist zweifellos eine der dynamischsten dieser Bewegungen mit einer Botschaft, die im Grunde „dieselbe wie die des Nationalsozialismus“ ist.
Ist es vernünftig, auf neofaschistische Bewegungen zu vertrauen? Bilden die Wurzeln des Faschismus — darwinistische Abstammungslehre, Rassismus, Militarismus und Nationalismus — eine solide Grundlage für eine gute Regierung? Oder muß man nicht vielmehr sagen, daß der Faschismus wie alle anderen Arten der Menschenherrschaft auf der Waage gewogen und zu leicht befunden wurde?
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Der Faschismus — Hat er eine solide Grundlage?
Darwinistische Abstammungslehre: „Eine zunehmende Anzahl von Wissenschaftlern, insbesondere eine wachsende Anzahl Evolutionisten, ... behaupten, daß die Abstammungstheorie Darwins überhaupt keine streng wissenschaftliche Theorie ist“ (New Scientist, 25. Juni 1981, Michael Ruse).
Rassismus: „Wo eine Kluft zwischen den Rassen und Völkern besteht, ist sie psychologischer und sozialer Art, aber nicht genetisch bedingt“ (Genes and the Man, Professor Bentley Glass).
„Alle Menschen, ganz gleich, zu welcher Rasse sie gehören, stammen ... von dem gleichen ersten Menschen ab“ (Heredity and Humans, Amram Scheinfeld, wissenschaftlicher Publizist).
Militarismus: „Die Findigkeit, die harte Arbeit und die Werte, die für diesen ... Wahnsinn aufgewandt werden, sind wirklich verblüffend. Wenn die Nationen den Krieg nicht mehr lernen würden, gäbe es nichts, was der Menschheit unmöglich wäre“ (Herman Wouk, amerikanischer Schriftsteller und Gewinner des Pulitzerpreises).
Nationalismus: „Der Nationalismus teilt die Menschen in intolerante Gruppen ein. Demzufolge denken die Menschen in erster Linie amerikanisch, russisch, chinesisch, ägyptisch oder peruanisch und erst in zweiter Linie — wenn sie das überhaupt tun — menschlich“ (Conflict and Cooperation Among Nations, Ivo Duchacek).
„Viele Probleme, denen wir heute gegenüberstehen, beruhen auf falschen Ansichten, von denen man einige fast unbewußt übernommen hat, zum Beispiel den engstirnigen Nationalismus mit der Einstellung: ‚Mein Vaterland, sei es im Recht oder Unrecht!‘“ (U Thant, ehemaliger UN-Generalsekretär).
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Alte religiöse Symbole wie das Hakenkreuz und das Motto „Gott mit uns“ konnten Hitlers Herrschaft nicht retten
Die Faszes, Mussolinis Symbol für den Faschismus, sind auf einigen US-Münzen abgebildet