Als Flüchtling fand ich wahre Gerechtigkeit
DA ES immer noch kalt war und Schnee lag, zog ich einen warmen Mantel an. Ich schluckte eine Mischung aller möglichen giftigen Substanzen, die ich in meinem Schrank gefunden hatte, auch Flüssigreiniger (Tetrachlorkohlenstoff). Dann machte ich mich auf den Weg hinunter zum Charles River in Cambridge (Massachusetts) in der Hoffnung, dort zu sterben. Meine Verzweiflung führte jedoch nicht zum Tod, sondern trug mir fünf Tage auf der Intensivstation eines Krankenhauses ein. Was hatte zu dieser Verzweiflungstat geführt? Blicken wir einmal zurück, um zu erfahren, woher ich stamme.
Ich bin ein Palästinenser griechischer Abstammung und wurde 1932 in Jaffa (Palästina) geboren. Meine Eltern erzogen mich in der griechisch-orthodoxen Religion, das heißt, wir gingen jede Woche zur Kirche und fasteten zu bestimmten Zeiten. Für mich war das nichts weiter als reine Formsache.
Da unsere Familie eine große Vertriebsgesellschaft für Lebensmittel und alkoholische Getränke besaß, waren meine Eltern ziemlich wohlhabend. Mit 10 Jahren wurde ich auf ein Internat der Quäker in Ram Allah geschickt, und später besuchte ich die anglikanische St.-George-Schule in Jerusalem. Von dieser Schule war ich sehr beeindruckt — dort lernten Schüler christlicher, arabischer und jüdischer Herkunft gemeinsam in relativer Eintracht. Es wurden Versöhnung, gute Manieren und Höflichkeit gelehrt. Doch Schule und Realität waren zwei Paar Schuhe.
In meiner Kindheit waren Bürgerunruhen an der Tagesordnung, weil Juden, Araber und Briten sich ständig in den Haaren lagen. Als kleines Kind sah ich mit an, wie ein Mann vor unserem Haus getötet wurde. Etliche Male kamen meine Eltern bei Schußwechseln gerade noch mit heiler Haut davon. Im Zweiten Weltkrieg wurde Haifa, eine wichtige Hafenstadt, von den Deutschen unter Beschuß genommen — noch mehr Tod und Verwüstung.
Als die britische Mandatsherrschaft über Palästina im Mai 1948 aufgehoben wurde, nahmen die Unruhen zu. Im Juli 1946 wurde das renommierteste Hotel Jerusalems, das König-David-Hotel, in die Luft gesprengt. Der Tod war nicht wählerisch — 41 Araber, 28 Briten, 17 Juden und 5 Menschen anderer Nationalität kamen um. Unsere Familie entschied, vor der Anarchie zu flüchten. Eines Nachts setzten wir uns nach Zypern ab, wo Verwandte meiner Mutter lebten. Mein Vater ließ sein Geschäft und sein Besitztum zurück.
Diese Ereignisse formten meine Ansichten in jungen Jahren. Mit 16 interessierte ich mich für Politik und las täglich Zeitung, um auf dem laufenden zu bleiben. Gamal Abd el-Nasser, Ägyptens Führer, war mein Idol; er schwächte den ausländischen Einfluß in seinem Land.
Im Jahr 1950 zogen wir in die Vereinigten Staaten. Damals war gerade der Koreakrieg im Gang, und ich wollte meinen Teil für das Land tun, das unsere Familie vor der Unterdrückung bewahrt hatte. Daher meldete ich mich freiwillig bei der Luftwaffe, wo ich schließlich zum Feldwebel aufstieg. Allerdings sah ich Korea nie — ich kam lediglich bis zum Luftwaffenstützpunkt Omaha (Nebraska).
Ein Reformer an einem theologischen Seminar
Nach meinem Ausscheiden aus der Luftwaffe besuchte ich zuerst die Universität von Texas und dann die Universität von Ohio, wo ich ein Wirtschaftsstudium absolvierte. Ich äußerte mich recht freimütig über die Ungerechtigkeit im Nahen Osten und wurde sogar eingeladen, über dieses Thema eine Vorlesung zu halten. Ein der Episkopalkirche angehörender Professor, Dr. David Anderson, der mich sprechen hörte, schlug mir vor, ein Stipendium an einem theologischen Seminar der Episkopalkirche in Boston anzunehmen, um mein Studium dort fortzusetzen. Da ich mit der Einrichtung bezahlter Geistlicher nicht einverstanden war, beabsichtigte ich nicht, Geistlicher zu werden. Dennoch wurde ich 1958 an dem Seminar angenommen.
Der Lehrplan schloß ein, in Nervenheilanstalten mit Anstaltsgeistlichen zusammenzuarbeiten. Der akademische und theoretische Aspekt des Seminars war wirklich interessant, aber ich war der Meinung, daß man mehr für die Gerechtigkeit in der Welt tun müßte. Daher gründete ich eine Reform-Aktionsgruppe, die „Sein Name werde unter allen Völkern bekanntgemacht“ hieß. Am Seminar sollte mehr Wert auf Taten gelegt werden. Ich wollte wie Jesus hinaus in die Welt, anstatt mich hinter Büchern zu verkriechen.
Bald stellte ich allerdings fest, daß meine vorgeschlagenen Reformen nicht in die Tat umgesetzt wurden. Schließlich bat man mich, das Seminar zu verlassen. Etwa zu jener Zeit verliebte ich mich in eine junge Frau; endlich hatte ich einen Menschen gefunden, mit dem ich meine Zukunft teilen könnte! Mir war, als seien wir füreinander geschaffen. Dann jedoch mußte ich erkennen, daß sie meine Gefühle nicht erwiderte. Das gab mir den Rest und führte zu dem Selbstmordversuch.
Eine Laufbahn als Lehrer
Nach der Rehabilitation ging ich auf die Columbia-Universität in New York und studierte Geographie und Geschichte, zwei Lehrfächer, die ich später unterrichten wollte. Damals hielt ich stets Ausschau nach dem, was ich das wahre, aktive Christentum nannte. Mein Beruf führte mich nach South Glens Falls (New York). Dort änderte sich mein Leben grundlegend. Ich lernte Georgia kennen, eine Lehrerin, die 1964 meine Frau und Partnerin wurde.
Ich war immer noch sehr politisch orientiert und verfolgte die Reden von Senator James Fulbright, der sich gegen den Vietnamkrieg aussprach. Auch ich war gegen diesen Krieg. Der Tod von Präsident John F. Kennedy im November 1963 war ein großer Schock für mich. Ich war so betroffen, daß ich seinem Begräbnis in Washington beiwohnte.
Auf der Suche nach dem Christentum
Im Jahr 1966 zogen wir nach Long Island (New York), wo ich an der Northport High School unterrichtete. Die Weltereignisse beunruhigten mich sehr — es war die Zeit der Drogen, der Hippies und der „Jesus-Freaks“. Ich besuchte eine charismatische Gruppe und stellte fest, daß diese Menschen ebenfalls von der wahren christlichen Botschaft weit entfernt waren; sie legten die Betonung mehr auf Gefühle statt auf Taten. Ein andermal hörte ich sogar, daß ein Geistlicher der Episkopalkirche den Vietnamkrieg befürwortete. Mir kam der Gedanke, daß einige Atheisten humaner waren als Angehörige der Kirchen.
Ich verlor meinen Glauben an Gott, aber nicht an den politischen Wert der Bergpredigt Jesu. Meiner Ansicht nach hatte er mit seinen Lehren den Teufelskreis des Hasses durchbrochen; das war die Lösung für die Probleme im Nahen Osten. Ich beschäftigte mich mit etlichen Religionsorganisationen — mit der katholischen Kirche, der Heilsarmee, den Baptisten und den Pfingstlern —, doch immer hatte ich den Eindruck, daß keine das wahre Christentum praktizierte. 1974 lernte ich einen Grundstücksmakler kennen; diese Bekanntschaft sollte mein Leben verändern.
Er hieß Frank Born. Ich zog ihn wegen Liegenschaften zu Rate. Im Laufe des Gesprächs nahm er eine Bibel zur Hand. Das wollte ich nicht, und daher sagte ich unvermittelt: „Es gibt keinen einzigen, der nach diesen Grundsätzen lebt.“ Er erwiderte: „Begleiten Sie mich in einen Königreichssaal der Zeugen Jehovas, und sehen Sie selbst.“ Ich wollte jedoch zuerst einige grundlegende Fragen von ihm beantwortet haben, bevor ich ihn in einen Königreichssaal begleitete.
Meine erste Frage lautete: „Werden bei Ihnen die Geistlichen bezahlt?“ Er antwortete: „Nein. Jeder Älteste stellt sich freiwillig zur Verfügung und ernährt sich und seine Familie durch eine weltliche Arbeit.“ Meine nächste Frage hieß: „Kommen Sie wie die ersten Christen in Privatwohnungen zusammen, um die Bibel zu studieren?“ Die Antwort lautete: „Ja. Wir treffen uns einmal in der Woche in verschiedenen Privatwohnungen in der Umgebung.“ Meine dritte Frage muß ihm etwas ungewöhnlich vorgekommen sein. „Schickt Ihre Kirche einen Geistlichen zur Amtseinführung des Präsidenten, um dort für den Präsidenten zu beten?“ Frank antwortete: „Wir verhalten uns in allen politischen Angelegenheiten neutral und beziehen keine Stellung. Wir sind treue Untertanen des Königreiches Gottes, denn nur dieses kann die heutigen Probleme der Menschheit lösen.“
Ich traute meinen Ohren nicht. Ich konnte es kaum erwarten, zu sehen, wo diese Christen zusammenkamen. Was stellte ich dort fest? Nicht auf Gefühle wurde Betonung gelegt, sondern es fand eine vernünftige Betrachtung der Bibel statt. Die Zusammenkünfte waren lehrreich und rüsteten die Anwesenden aus, ihren christlichen Glauben zu erklären und zu verteidigen. Diese Leute bildeten eine Aktionsgruppe, und sie gingen zu den Menschen hin, um diejenigen zu finden, die sich nach Gottes gerechter Herrschaft sehnten. Das war die Antwort auf die Probleme im Nahen Osten — Menschen aller Rassen, Sprachen und Kulturen beteten friedlich vereint Jehova Gott, den Souveränen Herrn des Universums, an. Und das taten sie in Übereinstimmung mit dem Beispiel und mit den Lehren Christi. Unter ihnen gab es keinen Haß und keine Unruhen, nur Frieden und Einheit.
Im Jahr 1975 ließ ich mich taufen; fünf Jahre später folgte Georgia meinem Beispiel. Robert und John, unsere beiden Söhne, verkündigen ebenfalls eifrig die gute Botschaft von Gottes Königreich.
Geänderte Ansichten
Im Laufe der Jahre sind meine Ansichten gemäßigter geworden. Früher war ich ein kämpferischer Aktivist, der ziemlich wenig Verständnis für die Ideale anderer aufbrachte. Mein Denken war durch die falsche Religion und durch die Politik beeinflußt, wie das bei Millionen Menschen der Fall ist. Jetzt weiß ich, daß Gott nicht parteiisch ist und daß ihm aufrichtige Menschen aller Rassen in Frieden und Einheit dienen können.
In den Reihen der Zeugen Jehovas habe ich Menschen unterschiedlichster Herkunft kennengelernt, auch Menschen, die andere früher haßten. Wie mir ist ihnen bewußt geworden, daß Gott wirklich Liebe ist; genau das lehrte Jesus unter anderem. Er sagte: „Ein neues Gebot gebe ich euch, daß ihr einander liebt, so wie ich euch geliebt habe, daß auch ihr einander liebt. Daran werden alle erkennen, daß ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe unter euch habt“ (Johannes 13:34, 35). (Von Constantine Louisidis erzählt.)
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Der damals 10jährige Constantine Louisidis im Internat der Quäker
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Der Tod von Präsident John F. Kennedy war ein großer Schock für mich