„Hilfe! Wir haben nicht genug Müll!“
Vom „Awake!“-Korrespondenten in Deutschland
ZU WENIG Müll in einer Zeit, in der die Menschen von einer. Müllawine bedroht werden? Zur Zeit wird in Deutschland die Gesamtmenge an Abfallstoffen (ohne Abwässer) auf ca. 200 Millionen Kubikmeter pro Jahr geschätzt. Damit könnten mehr als 2 000 Quadratkilometer 10 cm hoch bedeckt werden.
Das Problem ist international. England und Frankreich haben bereits Ministerien für Natur- und Umweltschutz geschaffen. Als Joseph Tydings aus Maryland noch das Amt eines Senators bekleidete, sagte er, daß für die Maßnahmen der Müllbeseitigung für die nächsten fünf Jahre die Summe von 4 Milliarden Dollar bereitgestellt werden müßte. Eine Schätzung für die Kosten der Müllbeseitigung in Deutschland für den Zeitraum von 1971 bis 1980 sieht die Summe von 2 Milliarden DM vor.
Wie aber kommt es nun zu diesem Hilferuf nach Müll? Natürlich besteht nicht überall Nachfrage nach noch mehr Müll. Es fällt bereits mehr als genug an. Aber es gibt Orte, wo der Ruf ertönt: „Hilfe! Wir haben nicht genug Müll!“ Warum? Von welchem Wert ist Müll?
Vor etwa 30 Jahren hat die niederländische Regierung den Wert des Hausmülls für die Landwirtschaft entdeckt. Als die Stadtverwaltung der Hauptstadt Den Haag den kostspieligen Bau einer Müllverbrennungsanlage plante, wurde sie von der Regierung veranlaßt, diesen Plan aufzugeben und statt dessen den Müll zu kompostieren und den so gewonnenen Müllkompost in der Landwirtschaft zu verwenden. Dieser Müllkompost ist für die Landwirtschaft so wertvoll, daß I. R. Teensma, Amsterdam, sagte: „In den Niederlanden ist die Nachfrage nach Müllkompost so groß, daß sie nur zur Hälfte gedeckt werden kann.“
In anderen Ländern ist die Lage ähnlich. In der Schweiz überstieg 1971 die Nachfrage nach dem aus Müll gewonnenen Reifkompost bei weitem das Angebot, und in Deutschland war der Bedarf so groß, daß gewisse Schwierigkeiten bestanden, genügend Kompostmengen für das Olympiagelände in München zu beschaffen. Ein Bericht aus einem Kompostwerk in Blaubeuren bei Ulm widerspiegelt das Problem; es heißt darin: „Wir haben nicht genug Müll, um unsere Kunden mit Müllkompost zu befriedigen.“
Müllbeseitigung
Für die Müllbeseitigung kommen gewöhnlich drei Methoden zur Anwendung: die Ablagerung, die Verbrennung oder die Kompostierung. Die Nachfrage nach Müllkompost läßt auf interessante Möglichkeiten dieser Methode der Müllbeseitigung oder, besser ausgedrückt, der Müllverwertung schließen. Was ist Müllkompost, und wie wird er hergestellt?
Das Vorbild der Humusbereitung, der allmählichen Zersetzung animalischer und pflanzlicher Stoffe, kann im Wald beobachtet werden. Blattorgane, wie Nadeln und Blätter, dürres Holz usw. werden alljährlich abgestoßen und fallen zur Erde. Die Arbeit des Waldbodens ist es nun, diese Stoffe abzubauen. Damit sind unzählige Lebewesen beschäftigt, von den Regenwürmern bis zu den für das Menschenauge unsichtbaren Mikroorganismen. Ungefähr 90 % der Streusubstanzen passieren den Darmkanal der Würmer und bilden ein gutvorbereitetes Humusmaterial für den weiteren Abbau durch andere Organismen. Zur Hauptsache besorgen die Bakterien und Pilze die weitere Zerlegung des Bodenmülls. Verständlicherweise ist dieser natürliche Prozeß zu langsam für die Müllkompostzubereitung.
Um die Nachfrage einigermaßen decken zu können, ist eine Schnellkompostierung erforderlich. Wie geht die Schnellkompostierung vor sich? Wie kann aus Kehricht wohlduftende Gartenerde oder gar Schweinefutter werden? Wir wollen uns einmal den Hergang in einem Kompostwerk etwas näher anschauen.
Ein Kompostwerk
Die ankommenden Müllwagen kippen ihren Inhalt in einen Schacht. Ein Förderband bringt den Müll in eine Siebraspel. Diese Maschine zerkleinert Glas, Holz, Plastik und Papier in kleine Stückchen von 35 bis 40 Millimeter Durchmesser. Große Teile, wie Blechdosen, bleiben im Sieb zurück. Der Raspeldurchgang wird vom nächsten Förderband aufgenommen und durch einen Magneten von den restlichen Eisenteilchen befreit.
Das Gemisch kommt danach in die Knetpresse. Hier wird dem Müll Klärschlamm beigefügt; beides wird miteinander vermengt und zerkrümelt. Die nächste Station für dieses Knetgut ist der Übergabe- oder Vorratsbunker. Von hier aus werden mit einem Greiferkran die hohen Behälter gefüllt. In diesen Behältern, die oben offen und unten mit einem Siebboden versehen sind, findet jetzt der Rottungsvorgang statt. Sauerstoffgehalt und Feuchtigkeit werden automatisch gesteuert, und somit werden für die im Müll enthaltenen Mikroorganismen optimale Lebensbedingungen geschaffen. Die „Aerobier“ (sauerstoffliebende Bakterien) nehmen überhand und vermehren sich so rasch, daß die sauerstofffeindlichen „Anaerobier“ zurückgedrängt werden. Am Anfang der Verrottung wird das Material sehr schnell von Organismen durchwachsen. In der Hauptsache sind es verschiedene Arten von Strahlenpilzen, die später anderen Organismen Platz machen. Die Belüftung der Behälter erfolgt durch das Absaugen des Kohlendioxydes, das durch die Verrottung entsteht. Bei diesem neuen Verfahren tritt keine Fäulnis mehr auf und damit auch kein übler Geruch.
Klärschlamm ist ein besonders gefährliches Reservoir von Krankheits- und Seuchenerregern. Was geschieht nun bei der Kompostierung dieses gefährlichen Materials? Schon am ersten Tag entwickelt sich in den großen Behältern eine Temperatur von 80 bis 85 Grad Celsius, die alle Krankheitserreger sicher abtötet; die hitzeresistent sind, werden von Bakterien abgebaut. Sogar der resistente Milzbrandbazillus wird während einer kurzen Kompostierung von nur zwei Wochen abgetötet; alle anderen, weniger resistenten pathogenen Organismen werden in kürzerer Zeit vernichtet. Das Resultat ist eine sichere Entseuchung des gefährlichen Abwasserschlammes.
Was geschieht mit dem Glas im Müll? Nach einer Untersuchung von Dr. Spohn, Heidelberg, wird pulverisiertes Glas auch während des Rotteprozesses abgebaut und dabei auch durch die Tätigkeit von Mikroorganismen (Saxophaten) seiner scharfen Kanten beraubt. In einem Prospekt des Kompostwerkes Blaubeuren steht sogar der Hinweis: „Enthaltene Silikatstückchen (Glasteilchen und dergleichen) nicht aussortieren! Sie sind fabrikationsbedingt und vollkommen unschädlich.“
Nach etwa zwei Wochen wird der entstandene Kompost aus den Behältern herausgenommen und für etwa einen Monat in Mieten gesetzt, um ihn voll ausreifen zu lassen. Das Endprodukt ist ein Reifkompost, der aus den Ausscheidungsprodukten der Bodenorganismen besteht, die den ursprünglichen Inhalt der Mülltonnen restlos verdaut haben. Er sieht aus wie gute Gartenerde, riecht wie Pilze und ist auch frei von pathogenen Bakterien.
Vom Müll zu gesunden Kulturen und Schweinefutter
Müllkompost ist allerdings kein Düngemittel, belebt aber den Boden, verbessert und stabilisiert seine Struktur und fördert seinen Luft-, Wasser- und Wärmehaushalt. Da im Boden mehr Luft gespeichert wird, können die mikrobiellen Lebensprozesse im Boden angeregt und unterhalten werden. Eine zielbewußte Anwendung des Müllkompostes kann daher die Gesundheit und die Fruchtbarkeit des Bodens erhalten und erneuern.
Auf dieser Erde, angereichert mit Müllkompost, wächst schmackhaftes und gesundes Gemüse. Der Pflanzenschutz vereinfacht sich; denn Pflanzen, die auf humusgepflegtem Boden wachsen, sind so gesund, daß sie ohne weiteres Dazutun erstaunlich resistent gegen Schädlinge bleiben. Auf Versuchsfeldern konnte z. B. bei Kartoffelpflanzungen ein sehr geringer Kartoffelkäferbefall beobachtet werden. Die Forschung ergab, daß Schädlinge in der Regel nur an kranke Pflanzen gehen.
Aber was hat Müll mit Schweinefutter zu tun? In den Niederlanden, in der Schweiz und in Deutschland findet der aus Müll hergestellte Kompost auch in der Schweinehaltung, besonders in der Ferkelaufzucht, gute Verwendung. In den Niederlanden wurden 1966 etwa 1 500 Tonnen für diesen Zweck abgesetzt. Von dem Werk in Blaubeuren werden viele Länder damit beliefert. Diese „Ferkelerde“ ist kein Schweinefutter, aber doch ein interessanter Futterzusatz mit wertvollen Aufbaustoffen.
Die Analyse ergibt über 40 verschiedene Mikroorganismen, die als Darmsymbiontena notwendig sind. Natürliche Antibiotika und Wirkstoffe, die in den üblichen Futtermitteln und auch in der Sauermilch nicht enthalten sind, kommen noch dazu. Berichte von Landwirten besagen, daß Gaben von „Ferkelerde“ während vier Wochen die regelmäßigen Eiseninjektionen und auch die Anwendung von Antibiotika unnötig machen würden; daß dadurch dem Durchfall vorgebeugt, dem Wurmbefall entgegengewirkt und das „Schwanzbeißen“ verhindert würde.
Rohstoffquelle oder lästiger Abfall?
Statt Müll und Klärschlamm als lästigen Abfall zu betrachten, treten Experten dafür ein, diese Abfälle vor der Vernichtung zu bewahren und als Rohstoffquelle nutzbringend zu verwenden. Die Landwirtschaft ist schon längst in das Traktorenzeitalter eingetreten, demnach könnte Müll eine sehr ergiebige Rohstoffquelle für Humus sein, schlußfolgern solche Fachleute.
Die Niederlande, das Ursprungsland der Müllkompostierung, verkaufen pro Jahr etwa 200 000 Tonnen Kompost. Die Kompostwerke in anderen Ländern wie Deutschland, Frankreich, Italien und der Schweiz sind ebenfalls erfolgreich. Die Verantwortlichen mancher Kompostwerke sind der Meinung, daß man gar nicht so viel Kompost aus Abfällen herstellen kann, wie man besonders für die Intensivkulturen zur Regenerierung der Böden benötigt.
Von jeher war es die einfachste und billigste Methode, den Müll zu einem Abfallplatz zu bringen. Heute aber wird die Müllawine immer größer, und die Ablagerungsmöglichkeiten werden immer geringer; dazu kommen noch Gefahren für die Umwelt und das Grundwasser. Immer mehr Gemeinden sehen sich vor die Frage gestellt, Müll und Klärschlamm als lästigen, ja gesundheitsgefährdenden Abfall zu betrachten oder ihn als Rohstoffquelle nutzbringend zu verwenden.
[Fußnote]
a „Symbiont“ ist ein Lebewesen, das mit Lebewesen einer anderen Art in Symbiose lebt.