Welche Voraussetzungen bestehen für eine bessere Zukunft?
BIETEN die Verhältnisse in den Vereinigten Staaten heute, nach zweihundert Jahren, Aussicht auf eine bessere Zukunft? Zweifellos sind die USA ein wirtschaftlich starker Staat, auch haben sie viele weitere Faktoren aufzuweisen, die sich zu ihrem Vorteil auswirken können.
Manche Fachleute, die den Trend der Wirtschaft, des Schulwesens, der sozialen Probleme und der Politik beobachten, kommen indessen zu einem ernüchternden Schluß. Sie vertreten die Auffassung, daß das Land, obschon ihm große Kraft und viel Gutes innewohnt, bald in große Schwierigkeiten kommen wird, es sei denn, die negativen Trends ändern sich.
Sie schreiben, daß viele amerikanische Familien den „amerikanischen Traum“ ausgeträumt hätten. Mit diesem „Traum“ ist die Überzeugung gemeint, daß es unaufhörlich aufwärtsgeht: bessere Erwerbsmöglichkeiten, steigende Einkünfte und ein höherer Lebensstandard sowie Sicherheit, innerer Frieden und eine goldene Zukunft für die Kinder.
Aber viele Amerikaner verspüren nichts davon. Die New York Times schrieb: „Unter einem großen Teil der Amerikaner wächst die Furcht, daß es mit diesem Traum aus und vorbei sei. Der große amerikanische Traum ... erscheint vielen immer weniger realisierbar.“
Ein wachsendes Problem
Ein Hauptproblem betrifft die Art und Weise, wie die Amerikaner ihren Wohlstand in den vergangenen paar Jahrzehnten größtenteils finanziert haben: mit geborgtem Geld! Es wurden Schulden über Schulden gemacht. Sie haben die Zukunft verpfändet, um gegenwärtig gut leben zu können. Aber wenn der Schuldenberg zu groß wird, kommt es zum Bankrott.
In Amerika haben Privatpersonen, Betriebe sowie Kommunal- und Staatsregierungen, ja sogar die Bundesregierung so viel Schulden — und machen ständig noch mehr —, daß sie in Gefahr sind, ihre Ausgaben nicht mehr bezahlen zu können. Das Nachrichtenmagazin U.S. News & World Report schreibt: „Der Schuldenberg wächst schneller als die amerikanische Wirtschaft, die ihn tragen muß. Die öffentlichen und die privaten Schulden machen jetzt mehr als das Doppelte des Bruttosozialproduktesa aus.“ Die gesamte Schuld beträgt gegenwärtig über drei Billionen Dollar!
Die erwähnte Zeitschrift berichtet, daß die „Schulden der Industriebetriebe heute etwa das Siebzehnfache ihres Gewinns nach Abzug der Steuern ausmachen“ und weiterhin wachsen. Die Schulden der Bundesregierung betragen weit über 600 Milliarden Dollar, und auch dieser Schuldenberg wächst weiter. In den vergangenen siebzehn Jahren hat der Staatshaushalt nur einmal einen geringen Überschuß aufgewiesen. Das Defizit für das Fiskaljahr 1975 betrug über 43 Milliarden Dollar. Für das Steuerjahr 1976 wird ein Rekorddefizit von 75 Milliarden Dollar erwartet.
Im Jahre 1939 betrugen die Zinsen für die Staatsschulden eine Milliarde Dollar im Jahr. Für das Fiskaljahr 1977 rechnet man mit etwa 45 Milliarden Dollar. Allein die Zinsen für ein Jahr ergeben mehr, als die gesamten Staatsschulden ausmachten, die das Land seit seinem Bestehen bis zum Zweiten Weltkrieg gehabt hatte.
Senator Harry F. Byrd jr. sagte: „Wenn wir diese Defizitfinanzierung fortsetzen, wird eine Katastrophe für das Land unvermeidlich sein.“
Hat jedoch die Wirtschaft in den vergangenen Monaten nicht wieder etwas angezogen? Ja, die meisten Wirtschaftsexperten glauben, die Rezession der jüngsten Vergangenheit sei vorbei. Ein großer Teil des Wirtschaftsaufschwungs ist jedoch mit geliehenem Geld finanziert worden. Wenn man 75 Milliarden geborgte Dollar in eine Wirtschaft pumpt, beginnt sie sich zu erholen — wenigstens vorübergehend. Aber die Schuldenlast wird schwerer und schwerer. Einige Beobachter haben den Gedanken geäußert, man könne das mit einem Heroinsüchtigen vergleichen, der immer mehr von der Droge benötigt, bis sein Organismus nicht mehr damit fertig wird und zusammenbricht.
Niedrigerer Lebensstandard
Die Stadt New York hat bereits erfahren, was für Folgen es hat, wenn man dauernd mehr ausgibt, als man einnimmt. Die Schuldenlast der Stadt ist so groß geworden, daß sie nur mit Mühe Geld aufnehmen kann, um die laufenden Ausgaben zu decken, von einer Rückzahlung der Darlehen gar nicht zu reden.
Die Stadt hat deshalb ihre Dienste reduziert, was gleichbedeutend ist mit dem Einsparen öffentlicher Bediensteter. Aber das Defizit bleibt trotz drastischer Maßnahmen bestehen. Auch wird es für die Stadt immer schwieriger, die Steuern, die bereits sehr hoch sind, noch mehr zu erhöhen.
Aber was einer Stadt widerfährt — daß ihr Lebensstandard sinkt, wenn mehr Geld ausgegeben als eingenommen wird —, kann auch einem ganzen Land widerfahren. Manche Experten sind der Auffassung, daß dieser Prozeß bereits begonnen hat. Professor George Sternlieb von der Rutgers-Universität erklärte: „Was wir überwachen, ist nichts anderes als ein Absinken des amerikanischen Lebensstandards.“
Auch die Steuern beeinträchtigen den Lebensstandard. Sie sind der Ausgabeposten, der von der Inflation am meisten betroffen wird. Die verschiedenen Steuern, die ein Arbeitnehmer zahlen muß, machen bereits mehr als ein Drittel seines Lohnes aus. US-Finanzminister William E. Simon sagte: „Das Steuersystem des Bundes, das sich seit den Anfängen der Republik entwickelt hat, ist heute in Nöten.“ Man befürchtet eine „Steuerrevolte“. Einer der Gründe, warum sich die amerikanischen Kolonien gegen das Mutterland empörten, war eine Steuer, die die Kolonisten für ungerecht hielten.
Armut inmitten von Reichtum
In den USA leben viele im Wohlstand, gleichzeitig herrscht aber auch große Armut. Die Zeitung New York Post schrieb: „Es wird geschätzt, daß 10 bis 30 Millionen Amerikaner unter dem Existenzminimum leben.“ Viele weitere haben gerade das Existenzminimum oder nicht viel mehr.
Der Rubrikjournalist Jack Anderson berichtete über einen Reporter, der sich als Landarbeiter ausgab und sich als Wanderarbeiter verdingte. Der Raum, den man ihm als Wohnraum anwies, war „menschenunwürdig“. „Die Lebensbedingungen“, sagte er, „waren alles andere, als was man im 20. Jahrhundert gewohnt ist, ja sie erinnerten mehr an die Quartiere, in denen man im 19. Jahrhundert die Sklaven unterbrachte.“
Anderson schloß mit den Worten: „Es ist eine Ironie, daß die Personen, die auf den fruchtbarsten Feldern der Welt arbeiten, oft in bitterster Armut leben; was sie verdienen, reicht nur für das Allernotwendigste. Einige könnten fast als Leibeigene des Gutsbesitzers gelten, denn er nimmt von dem, was sie verdienen, mehr weg, als er ihnen auszahlt. Und die Mehrzahl dieser Landarbeiter hat anscheinend keine Aussicht, diesem armseligen Dasein zu entrinnen.“
Die große Zahl älterer Menschen, die in Armut leben, ist, wie zugegeben wird, eine Schande für das ganze Land. Ferner werden die Lebensbedingungen in vielen Großstädten immer schlechter. Viele Häuser verfallen oder werden aufgegeben. Und dieser Prozeß geht so schnell vor sich, daß Sanierungsprogramme damit nicht Schritt halten können.
Somit leben jetzt, zweihundert Jahre nach der Gründung der Vereinigten Staaten, viele Amerikaner sehr gut, Millionen andere Amerikaner aber sehr schlecht. Daran haben all die Wohlstandsjahre und all die gutgemeinten Bemühungen nichts geändert. Das sind keine Voraussetzungen für eine bessere Zukunft.
Weitere Übel
Seit zweihundert Jahren besteht in diesem Land ein ziemlich fortschrittliches Schulwesen, dennoch gibt es Millionen, die kaum lesen können. Das amerikanische Erziehungsministerium erklärte, es sei „empörend“, daß etwa ein Fünftel der Erwachsenenbevölkerung (23 Millionen Amerikaner) unfähig sei, so gut zu lesen, daß es für das tägliche Leben ausreiche, zum Beispiel für das Einkaufen, um den Führerschein zu machen oder um eine Versicherungspolice durchzulesen. Das erwähnte Amt berichtete, daß weitere 39 Millionen Amerikaner mit ihren Schulkenntnissen „gerade so durchkämen“.
Die Verhältnisse in vielen amerikanischen Schulen geben keinen Anlaß zu der Hoffnung, daß die Kinder in Zukunft besser ausgebildet werden. Die amerikanische Presse berichtet, daß in den Schulen die Gewalttat grassiert und Belästigungen, Überfälle, Wandalismus und Bandenkämpfe immer häufiger vorkommen. In einer Schrift wurde der Zustand als die „Herrschaft des Schulhausterrors“ bezeichnet. In einer Großstadt kam es in fünf Monaten zu 474 Angriffen auf Volksschullehrer und Professoren.
Dieser Trend entspricht dem Trend in der Kriminalität. Jetzt werden jedes Jahr über 11 Millionen Verbrechen begangen. Weitere Millionen werden nie gemeldet.
Das Familienleben entartet ebenfalls. Soziologen von Boston haben ermittelt, daß „in einer amerikanischen Durchschnittsfamilie Gewalttätigkeit so selbstverständlich ist wie Liebe“. Fünfzig Prozent der befragten Ehepaare gaben zu, daß es in ihrer Familie im vergangenen Jahr zu Handgreiflichkeiten gekommen war. Auch wird geschätzt, daß jedes Jahr eine Million Kindesmißhandlungen vorkommen.
Vertrauensschwund
Die New York Times schrieb: „In den vergangenen paar Jahren sind wir als Volk vom Weg abgekommen; wir leben in Ungewißheit; wir sind unsicher geworden in unseren Beziehungen zueinander und zur Welt. Der Optimismus und die sittliche Kraft — so charakteristisch für Amerika in den vergangenen Jahrzehnten — sind durch einen tiefsitzenden Zynismus und durch Enttäuschungen fast ganz verdrängt worden.“
Auch Senator Frank Church beobachtete, daß „der Mangel an Vertrauen, ein weitverbreiteter Zynismus und ein großer Pessimismus die zentralsten und fundamentalsten Probleme sind, denen sich Amerika heute gegenübersieht“. Senator Church, der eine Untersuchung der Mißbräuche, die in Bundesämtern vorgekommen sind, leitete, sagte: „In allen Kreisen der amerikanischen Gesellschaft bis hinauf zur Bundesregierung kümmert man sich immer weniger um das Gesetz.“ Er erklärte, daß „der Bestand einer freien Regierung gefährdet ist, wenn sie sich nicht mehr an das Gesetz hält“.
Die Zukunft
Werden die Vereinigten Staaten so, wie sie heute sind, fortbestehen und schließlich die Dreihundertjahrfeier ihrer Unabhängigkeit begehen können?
Viele glauben, daß die Demokratie keine Zukunft hat. Sie weisen darauf hin, daß die Zahl der demokratischen Regierungen in der Welt immer kleiner, die der totalitären Regierungen dagegen immer größer wird.
Die deutsche Zeitschrift Stern schrieb, daß das „amerikanische Jahrhundert“ vorbei sei, brachte aber die Hoffnung zum Ausdruck, daß Amerika ein „Comeback“ haben werde, und der Wunsch wurde geäußert, daß sich Amerika dann anders verhalten möge. Die amerikafreundliche Zeitschrift Economist (London) sprach vom „Ende“ des amerikanischen „Empire“. Die Zeitschrift schrieb, daß, „wahrscheinlich schon ziemlich am Anfang der nächsten hundert Jahre (1976 bis 2076) eine andere Nation in der Welt führend sein wird“.
Es gibt aber noch einen triftigeren Grund, warum wir erwarten dürfen, daß, lange bevor die nächsten hundert Jahre um sein werden, ein großer Wechsel eintreten wird. Die Ursache dafür wird aber kein Sieg einer anderen Weltmacht über die Vereinigten Staaten sein.
[Fußnote]
a Geldwert aller innerhalb eines Jahres in einer Volkswirtschaft erzeugten Güter und Dienstleistungen.