Wer ist schuld — Rußland oder der Tourist?
„ICH werde dieses Land nie mehr besuchen“, sagte der Mann, der im Opernhaus in Leningrad (UdSSR) neben mir saß. Er hatte mir gerade einige ärgerliche Erlebnisse geschildert, die er während seiner Reise durch die Sowjetunion gehabt hatte und für die er dem Land die Schuld gab. Damals stimmte ich ihm zu, da ich selbst einige unangenehme Erfahrungen gemacht hatte. Aber wer ist wirklich schuld — das Land oder der Tourist? Urteile selbst.
Mit der Kamera in Rußland
Bei unserer Einreise von Finnland aus war die erste sowjetische Stadt, in der meine Freunde und ich haltmachten, Wyborg. Wir wollten zum Bahnhof gehen, um uns etwas auszuruhen und Geld zu wechseln. Aber da dies meine erste Gelegenheit war, den typischen Russen in seiner Umgebung zu sehen, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, ein paar Aufnahmen von den Menschenmengen, die auf dem Bürgersteig auf und ab gingen, zu machen.
In der Menge, die ich fotografierte, befanden sich zwei Soldaten. Sie kamen auf mich zu, und als ich meine Kamera wieder heruntergenommen hatte, standen sie direkt vor mir und starrten auf die Kamera. Einer von ihnen zeigte darauf und machte einige schnelle, ärgerliche Gebärden. Offensichtlich wollten sie, daß ich die Kamera öffnete. Aber da ich mir nicht sicher war und sie kein Wort gesagt hatten, versuchte ich, sie mit einem verwirrten Blick davon abzubringen. Sie wiederholten einfach die Gesten, diesmal bestimmter. Da ich sehen konnte, daß sie ungeduldig wurden, öffnete ich meine Kamera. Mir schien, ich sollte nur den Film dem Licht aussetzen. Ich hoffte, daß wenigstens einige der Bilder, die ich bereits aufgenommen hatte, den Lichteinfall überstehen würden. Welche Überraschung, als sie den ganzen Film mit den Bildern, die ich während der letzten zwei Tage aufgenommen hatte, beschlagnahmten!
Meine erste Reaktion war, das Land für den Zwischenfall verantwortlich zu machen. Aber wem war die Schuld zuzuschreiben? Ein wenig Nachforschung vor Reiseantritt hätte ausgereicht, mit den russischen Vorschriften über das Fotografieren vertraut zu werden. Wenn du ins Ausland reist, ist es gut, im Sinn zu behalten, daß viele Nationen in bestimmten Bereichen oder bei bestimmten Gelegenheiten das Fotografieren verbieten. Ein Reiseführer über Rußland sagt einfach: „Machen Sie keine Aufnahmen von Einrichtungen, die ausdrücklich nicht fotografiert werden dürfen — Flughäfen, Fabriken, Militäranlagen oder Personal, Gefängnisse, Eisenbahnknotenpunkte oder Bahnhöfe usw.“ Fotografiere auch keine Personen, bevor du nicht um ihre Erlaubnis gefragt hast. Und ich hatte ein Bild von Soldaten vor einem Bahnhof gemacht! Wem sollte die Schuld für diese peinliche Situation gegeben werden — dem Land oder dem Touristen? Etwas über die örtlichen Sitten und Bräuche sowie die Vorschriften zu lesen hätte es mir erspart, so in Verlegenheit zu kommen. Aber weitere Überraschungen warteten auf mich.
Wie finde ich Zutritt zu Museen?
Nun waren wir in Leningrad, das von vielen das Venedig des Nordens genannt wird. Unser Besuch im Winterpalast erinnerte mich daran, daß hier der letzte Zar regierte. Hier war es auch, wo der erste Sowjet (von dem russischen Wort, das „Rat“ bedeutet) sein Hauptbüro einrichtete. Für mich war es ein aufregendes Erlebnis, genau dort zu stehen, wo sich einige der wichtigsten Ereignisse der russischen Geschichte abgespielt hatten. Direkt vor mir befand sich eines der berühmtesten Kunstmuseen der Welt, die Eremitage, wo man hervorragende Gemälde von Leonardo da Vinci, El Greco, Tizian, Rubens, Velázquez, van Dyck, Rembrandt und anderen sehen kann. Aber stell dir vor, wie enttäuscht wir waren, zu erfahren, daß auf unserer Tour kein Besuch der Eremitage vorgesehen war!
Das gleiche traf auch auf die Kasaner Kathedrale am Newski Prospekt zu, die in ein Museum für Religionsgeschichte und Atheismus umgewandelt worden ist. Auf unsere Anfrage erfuhren wir, daß wir dieses Museum allein besuchen könnten. So gingen wir an einem Tag dorthin und fanden eine große Menschenmenge vor, die versuchte hineinzukommen. Ab und zu öffnete sich die Tür, und man ließ nur bestimmte Personen eintreten. Wir bemühten uns, das System zu enträtseln, gaben aber auf. Schließlich durften wir hinein, aber erst nach einigem Argumentieren mit dem Portier. Wer war daran schuld?
In einem Gespräch, das ich kürzlich mit einem sowjetischen Regierungsbeamten hatte, der in New York tätig ist, fand ich heraus, daß, selbst wenn Museen an gewissen Tagen überfüllt sind, ein Ausländer nur seinen Paß vorzuzeigen braucht, um vom Portier hineingelassen zu werden, ohne anstehen zu müssen, und das manchmal sogar kostenlos. Bedauerlicherweise wußte ich das zu der Zeit, als ich in Rußland war, noch nicht und mußte daher Lehrgeld dafür bezahlen, daß ich auf meine Reise in ein anderes Land nicht vorbereitet war. Ehrlich gesagt, jetzt habe ich keine andere Wahl mehr, als mir selbst, dem Touristen, die Schuld zu geben.
Wie steht es mit Einkäufen?
Der Fehler, den viele Touristen machen, ist der, im Ausland die gleichen Verhältnisse zu erwarten, die sie von ihrem Heimatland gewohnt sind. Wir machten diesen Fehler, als wir einige Lebensmittel am nahe gelegenen Newski Prospekt einkaufen wollten. Das war nicht so einfach, wie wir dachten. Nach dem Versuch, in verschiedenen Geschäften einzukaufen, konnten wir immer noch nicht herausfinden, wie wir dabei vorgehen mußten. Wir versuchten es mit Gesten und zeigten genau auf das, was wir wünschten, aber es klappte nicht. Nachdem wir schließlich zwei Stunden in mehreren Geschäften zugebracht hatten, konnten wir endlich einen Laib Brot und etwas Käse bekommen.
Einige Monate später las ich in einem Reiseführer, was man in der UdSSR beim Einkaufen beachten muß: „Sie werden merken, daß Sie dreimal anstehen müssen: zuerst, um auszusuchen, was Sie kaufen möchten, und um eine Karte dafür zu erhalten, dann an der Kasse zum Bezahlen und Abstempeln der Karte und schließlich, um das Eingekaufte abzuholen.“ Ja, die Auskunft war erhältlich, aber es nützte mir wenig, sie nach meiner Reise zu lesen. Die Zeit, dich mit dem Land, in das du reisen möchtest, vertraut zu machen, ist nicht nach oder während des Besuchs, sondern vorher.
Die Sprachschranke
Es ist offensichtlich, daß es zu den meisten dieser Zwischenfälle nicht gekommen wäre, hätte ich die Sprache beherrscht. Natürlich wird von niemandem erwartet, die Sprache zu lernen, bevor er Rußland oder irgendein anderes Land besucht. Aber wenn jemand die Gelegenheit hat, ist es sicherlich günstig, einige Grundbegriffe zu lernen. Zumindest sollte man ein Taschenbuch mit Redewendungen bei sich haben. Man kann dann stets auf die Wörter zeigen, um sich verständlich zu machen.
Die Sprachschranke war der Grund für einige meiner Enttäuschungen in Rußland. Aber warum das Land dafür verantwortlich machen? Es ist gut, zu bedenken, daß Touristen, die dein Heimatland besuchen, manchmal die gleichen Enttäuschungen erleben.
Illegale Tätigkeiten
Einige Touristen bringen sich in sehr peinliche Situationen, indem sie sich auf illegale Geschäfte einlassen, nur um schnell zu etwas Geld zu kommen. Das zeigt einen Mangel an Respekt vor denen, die gastfreundlich die Tür ihres Landes geöffnet haben.
Mehr als einmal wurden wir von Männern angesprochen, die versuchten, etwas von unserer Kleidung oder einige unserer Devisen abzukaufen. Ich erinnere mich an einen Mann, der zu mir kam und fragte: „Haben Sie denn gar nichts zu verkaufen?“ Kein Wunder also, daß Reiseführer davor warnen, auf illegale Angebote einzugehen, ob es sich dabei um Devisen, Kleidung, Kameras oder etwas anderes handelt.
Obwohl viele sich auf Schwarzhandel einließen, haben wir, da wir Zeugen Jehovas sind, das nie getan, noch haben wir uns willentlich an irgendwelchen anderen ungesetzlichen Tätigkeiten beteiligt. (Der Zwischenfall mit der Kamera war auf Unwissenheit unsererseits zurückzuführen.) Als Christen müssen wir vor den örtlichen Behörden Respekt haben. Wir geben „Cäsars Dinge Cäsar zurück“ (Matthäus 22:21). Wenn man über etwas im Zweifel ist, ist es vielleicht das beste, der Regel zu folgen: Bist du dir nicht sicher, ob etwas erlaubt ist, dann nimm lieber an, es sei verboten. Eine solche Einstellung dient als Schutz, wenn man verreist, ungeachtet, welches Land man besucht.
Wie hast du entschieden?
So, wie sieht deine Entscheidung jetzt aus? Wer ist schuld — Rußland oder der Tourist? Ohne Zweifel sollte der Tourist und nicht das Land die größere Schuld tragen. Und das trifft wahrscheinlich auch auf viele andere zu, die Rußland und andere Länder bereisten, deren Kultur und Regierungsform von dem, was sie gewohnt sind, abweichen. Tatsache ist, daß viele Reisende, obwohl sie sich sonst gut vorbereitet haben, nicht darauf eingestellt sind, mit einem fremden Land Bekanntschaft zu machen. Wenn du daher deine nächste Auslandsreise planst, frage dich: Wieviel weiß ich über die Menschen, denen ich begegnen werde, über ihre Sprache und ihre Sitten und Bräuche? Du bemerkst dann vielleicht, daß du — obwohl dein Gepäck zur Abreise bereitsteht — geistig nicht vorbereitet bist.
Aber du magst fragen: „Sind denn all diese Auskünfte wirklich erhältlich?“ Ja, sogar reichlich! Wenn du zum Beispiel in die UdSSR reisen möchtest, kann dir das Intourist-Reisebüro nützliche Hinweise geben. Es untersteht der sowjetischen Regierung und wird von ihr betrieben, unterhält Büros in den meisten Ländern und ist bereit, dir zu helfen, wann immer möglich. Dort sind offizielle Angaben über die gültigen Vorschriften wie auch andere hilfreiche Auskünfte zu bekommen.
Reiseführer für zahlreiche Länder sind ebenfalls in großer Auswahl vorhanden und in Buchhandlungen und Bibliotheken erhältlich. Warum nicht etwas über das Reiseland lesen, bevor du deine Reise antrittst? Das wird dir helfen, deine Ferien zu genießen, peinliche Situationen zu vermeiden und auch zu verhindern, daß du ohne einen Film mit wertvollen Aufnahmen zurückkehrst, weil man ihn beschlagnahmt hat.
Wem wirst du also die Schuld geben, wenn dir das nächste Mal etwas Ärgerliches widerfährt, während du deinen Urlaub im Ausland verbringst? Dem Land oder dir selbst? (Eingesandt.)