Harte Arbeit — Eine Gefahr für die Gesundheit?
DER Versicherungsagent im mittleren Alter fiel gegen sein Auto, übergab sich und brach zusammen. Dabei hielt er die Aktentasche, das Symbol seiner Arbeit, fest umklammert. Seine Firma hatte das Motto ausgegeben: „Jetzt ist der entscheidende Punkt. Setz deine Kraft zu 150 Prozent ein.“ Diesem Motto entsprechend hatte er in dem Monat, wo er zusammenbrach, etwa 3 000 Kilometer mit dem Auto zurückgelegt. Vier Tage später starb er.
Das ist kein Einzelfall. „Firmenkrieger“, wie man sie in Japan nennt, werden von einem Alptraum verfolgt, einem Alptraum namens karoshi — dem Tod durch Überarbeitung. Ein Anwalt, der sich auf solche Fälle spezialisiert hat, geht davon aus, daß „in Japan jedes Jahr mindestens 30 000 Karoshi-Opfer zu beklagen sind“. Kein Wunder, daß bei einer kürzlich durchgeführten Umfrage 40 Prozent der japanischen Büroangestellten vor einem möglichen Tod durch Überarbeitung Angst hatten.
Eine Verbindung zwischen Überarbeitung und gesundheitlichen Problemen mag zwar schwer zu beweisen sein, aber die Angehörigen der Opfer haben wenig Zweifel daran. Tatsächlich wurde die Wendung „Tod durch Überarbeitung“ für Schadensersatzklagen von Hinterbliebenen geprägt. „Medizinisch betrachtet, bezieht sich dies“, wie Tetsunojo Uehata vom Institut für Volksgesundheit in Japan ausführte, „auf den Tod beziehungsweise eine Behinderung durch Gehirnschlag, Herzinfarkt oder durch akutes Herzversagen als Folge einer stark belastenden Arbeit, die Bluthochdruck und Arteriosklerose fördert.“ In einem unlängst erschienenen Bericht des japanischen Ministeriums für Gesundheit und Soziales wurde die Warnung ausgesprochen, ständige Überstunden würden den notwendigen Schlaf rauben und schließlich zu mangelndem Wohlbefinden und zu Krankheiten führen.
Doch so, wie Raucher es hassen, sich die Gefahren des Rauchens einzugestehen, und Alkoholiker die Gefahren des Trinkens, so erkennen Workaholics auch nur widerwillig die Gefahren an, die von unvernünftig vielen Überstunden ausgehen. Und der Tod ist nicht das einzige Risiko.
Ausgebrannt und depressiv
Während einige Workaholics sterben oder Behinderungen davontragen, fühlen sich andere ausgebrannt. „Das Ausgebranntsein ist medizinisch nicht genau definiert“, erklärt die Zeitschrift Fortune, „doch die allgemein akzeptierten Symptome schließen Müdigkeit, Lustlosigkeit, häufiges Fehlen am Arbeitsplatz, zunehmende Gesundheitsprobleme und Drogen- oder Alkoholmißbrauch ein.“ Einige Betroffene verhalten sich ihrer Umwelt gegenüber feindselig, während andere anfangen, nachlässig zu werden und Fehler zu machen. Wie kommt es jedoch dazu, daß sich jemand durch die Arbeit ausgebrannt fühlt?
Im allgemeinen sind es keine verhaltensgestörten Personen oder solche mit seelischen Problemen. Oft handelt es sich um Menschen, die ihre Arbeit sehr ernst nehmen. Sie mögen hart kämpfen, um den mörderischen Konkurrenzkampf zu überleben, oder sich abplagen, um die Karriereleiter hinaufzuklettern. Sie arbeiten lange und hart und versuchen, alles unter Kontrolle zu haben. Doch wenn unerschütterliche Hingabe und pausenloser Arbeitseinsatz nicht die erwartete Befriedigung und Belohnung verschaffen, werden die Betreffenden desillusioniert, fühlen sich ausgezehrt und von der Arbeit ausgebrannt.
Was sind die Folgen? In Tokio erhält ein Telefondienst, der unter dem Namen „Lebensverbindung“ eingerichtet wurde, um Menschen mit Selbstmordabsichten zu helfen, immer mehr Anrufe von verzweifelten Büroangestellten im mittleren Alter und darüber. Von den über 25 000 Personen, die 1986 in Japan Selbstmord begingen, waren erstaunlicherweise 40 Prozent in ihren Vierzigern oder Fünfzigern, und 70 Prozent waren männlich. „Das liegt daran, daß unter den Gehaltsempfängern mittleren Alters die Depressionen auf dem Vormarsch sind“, klagte Hiroshi Inamura, Professor für Psychiatrie.
Dann gibt es noch das, was als Feiertagsneurose bezeichnet wird. Welche Symptome dabei auftreten? Eine Gereiztheit infolge des Nichtstuns an Feiertagen. Vom Zwang zur Arbeit getrieben, plagt den Arbeitsfanatiker an freien Tagen das schlechte Gewissen. Unfähig, zur Ruhe zu kommen, läuft er in seinem kleinen Raum auf und ab wie ein Tiger im Käfig. Wenn dann der Montag kommt, geht er erleichtert wieder ins Büro.
Eine außergewöhnliche Art der Depression, die heutzutage Arbeitnehmer mittleren Alters in die Wartezimmer der Ärzte treibt, ist die Furcht vor dem Zuhause. Ausgezehrte Arbeitnehmer verbringen ihren Feierabend in Cafés und Bars. Schließlich kommen sie gar nicht mehr nach Hause. Warum fürchten sie sich davor, nach Hause zu gehen? Ehefrauen ohne Mitgefühl können zwar auch eine Ursache dafür sein, doch „viele haben zu hart gearbeitet und darüber die Fähigkeit verloren, sich in der Welt draußen und oft sogar in der eigenen Familie zurechtzufinden“, so Dr. Toru Sekiya, der für solche Patienten ein „Nachtkliniksystem“ betreibt.
Das Familienleben erstickt
Der Workaholic leidet vielleicht noch nicht einmal am meisten. Wie die Zeitschrift Entrepreneur beobachtete, ist „Arbeitssucht häufig eher ein Problem für diejenigen, die ihr Leben mit einem Workaholic teilen müssen“. Das Leben des Ehepartners kann zu einem einzigen Alptraum werden. Der Workaholic „hat bereits die Liebe seines Lebens gefunden“, heißt es in der Zeitschrift The Bulletin (Sydney, Australien), „und den zweiten Platz in der Rangfolge zu akzeptieren ist nicht immer leicht“. Was passiert in solchen Ehen?
Nehmen wir das Beispiel von Larry, einem amerikanischen Arbeitnehmer bei einer japanischen Firma in den Vereinigten Staaten. Er machte eine Unmenge von unbezahlten Überstunden und erhöhte die Produktivität der Fabrik um 234 Prozent. Erfolgreich und glücklich? „Verrückt!“ meinte seine Frau vor Gericht, als sie sich von ihm scheiden ließ.
Noch schlimmer war der Fall eines japanischen Geschäftsmanns, der jeden Morgen um fünf Uhr zur Arbeit fuhr und nicht vor neun Uhr abends zurückkam. Seine Frau begann zu trinken. Eines Tages erwürgte der Mann seine Frau bei einer Auseinandersetzung wegen ihres Alkoholkonsums. Das Gericht sprach ihn des Mordes schuldig und erklärte: „Völlig der Arbeit verschrieben, haben Sie nicht die Einsamkeit Ihrer Frau bemerkt und sich nicht genügend bemüht, ihr Ursachen zu geben, sich ihres Lebens zu erfreuen.“
Den Ehepartner zu erwürgen ist zwar eine sehr extreme Folge der Überarbeitung, doch kann das Familienleben auch auf andere Weise zerstört werden. Wenn der Mann an Sonntagen zu Hause ist, sitzt er vielleicht nur vor dem Fernseher, wo sein Lieblingssportprogramm läuft, und verdöst den ganzen Nachmittag. Solche Ehemänner bemerken nicht, wie sehr sie sich von anderen Aspekten des Lebens entfernt haben. Von ihrer Arbeit überwältigt, vernachlässigen sie etwas, was zu dem Wertvollsten ihres Lebens zählt: ihre Familie. Sie ignorieren die Notwendigkeit des familiären Gedankenaustauschs und schaffen sich so die besten Voraussetzungen für einen einsamen Lebensabend.
Alt, aber unzufrieden
In der Einleitung des Buches At Work ist folgende nachdenklich stimmende Passage zu finden: „In unserer Gesellschaft ... ist die Verbindung zwischen Arbeit, Selbstachtung und gesellschaftlicher Stellung so eng, daß es einigen nach dem Ausscheiden aus dem Arbeitsleben äußerst schwer fällt, sich in ein Leben ohne ihre frühere Rolle am Arbeitsplatz hineinzufinden.“ Wer die Arbeit zum Mittelpunkt seines Lebens macht, muß sich die Frage stellen: Was verbleibt mir, wenn ich die Arbeit verliere? Man sollte nicht vergessen: Im Ruhestand dreht sich das Leben möglicherweise um die Familie, die Nachbarn und die Bekannten.
Wer den notwendigen Gedankenaustausch mit den Angehörigen und den Nachbarn vernachlässigt hat, weiß nicht, worüber er mit ihnen reden soll, wenn er im Ruhestand ist. „Sie zahlen wahrhaftig die Rechnung dafür, daß sie sich geweigert haben, an irgend etwas anderes als die Arbeit zu denken“, sagte in Japan eine Expertin, die seit Jahren Ehepaare mittleren Alters berät. „Ihrem Leben fehlt es am menschlichen Aspekt, und sie haben alles als selbstverständlich betrachtet, nur weil sie der Ernährer der Familie waren. Doch sobald sie auf Rente oder in Pension gehen, scheint alles anders zu sein.“
Die 30 oder 40 Jahre harte Arbeit, angeblich zum Wohl der Familie, können genau das Gegenteil bewirken. Wie traurig ist es doch, wenn nach Jahren harter Arbeit der ehemalige Ernährer von seiner Familie als nureochiba (nasses, heruntergefallenes Laub) und als „industrieller Ausschuß“ betrachtet wird. Der Ausdruck nureochiba wird in Japan für Ehemänner gebraucht, die nicht mehr im Berufsleben stehen und die nichts anderes zu tun haben, als den lieben langen Tag ihrer Frau im Weg zu stehen. Sie werden daher mit nassen, heruntergefallenen Blättern verglichen, die sich am Besen festsetzen und nicht abgeschüttelt werden können, die nichts sind als eine Plage.
Wenn man all die Gefahren betrachtet, kommen unwillkürlich die Fragen auf: Wie kann harte Arbeit wirklich lohnend sein? Gibt es eine Arbeit, die wirkliche Befriedigung einträgt? Der nächste Artikel dieser Serie greift diese Fragen auf.
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Zeitgemäße Warnung
„Wenn Ihr Ehemann den Appetit verliert, an Schlaflosigkeit leidet, nicht mehr mit Ihnen spricht, dann sind das Warnsignale. Sagen Sie ihm, er soll an etwas anderem als der Arbeit Freude finden und versuchen, mit Menschen zusammenzusein, die nicht zur Firma gehören“ (Dr. Toru Sekiya, Neurologische Klinik Sekiya [Tokio, Japan]).
„Ich arbeite gern lange, doch wenn man dabei seinen Mann oder seine Familie verliert, macht man etwas verkehrt. Es macht keinen Spaß, sein Geld allein zu zählen“ (Mary Kay Ash, Chefin der Firma Mary Kay Cosmetics).
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Überarbeitung führt nicht selten zu schweren Problemen
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Workaholics ruinieren oftmals das Leben derer, die ihnen am nächsten sein sollten