Das prämenstruelle Syndrom — Mythos oder Realität?
IHR Verhalten ist sprunghaft und unvorhersehbar. Gerade eben war sie noch ein liebenswürdiger Mensch; jetzt ist sie auf einmal streitlustig. Sie gibt Äußerungen der Hoffnungslosigkeit von sich. Obwohl du ihr tröstend zuredest, reagiert sie übersensibel auf das, was du sagst oder tust. Es kann passieren, daß sie aus einer Mücke einen Elefanten macht und daß sich an einer Kleinigkeit ein hitziger Streit entzündet. Nach ein paar Tagen oder einer Woche ist diese „andere“ Frau plötzlich verschwunden, und sie ist wieder sie selbst — eine Zeitlang.
NATÜRLICH machen nicht alle Frauen solche drastischen Stimmungswechsel durch. Doch manch eine Frau hat vielleicht schon in den Tagen vor der Menstruation dieses weibliche Gegenstück zu Dr. Jekyll und Mr. Hyde bei sich wiedererkannt. Was ist die Ursache für derartige Stimmungsschwankungen? Ist dieses Verhalten wirklich die Folge von Veränderungen während des Menstruationszyklus?
Was ist PMS?
Der Zeitschrift American Journal of Psychiatry zufolge leiden Frauen, bei denen „sich zyklisch Symptome von solcher Schwere zeigen, daß sie sich in verschiedenen Lebensbereichen störend bemerkbar machen“, und bei denen diese Erscheinungen durchweg vor der Menstruation auftreten, wahrscheinlich unter PMS (prämenstruelles Syndrom). Zwar gibt es keine Laboruntersuchungen, durch die sich PMS nachweisen läßt, doch kann man davon ausgehen, daß Frauen mit PMS während jedes Zyklus eine symptomfreie Phase von ein oder zwei Wochen haben. Von dieser Definition ausgehend, schätzen Ärzte, daß nur 10 Prozent der Frauen unter PMS leiden.
Andere Mediziner widersprechen dieser Auffassung. Sie behaupten, ein größerer Anteil der Frauen — zwischen 40 und 90 Prozent — leide unter dem prämenstruellen Syndrom. Nach ihrer Definition zeichnet sich PMS durch verschiedene Beschwerden aus, wie zum Beispiel Gewichtszunahme, Müdigkeit, Gelenkschmerzen, Unterleibskrämpfe, Migräne, Reizbarkeit, Berührungsempfindlichkeit der Brüste, Weinerlichkeit, Heißhunger und Stimmungsschwankungen. Mit PMS werden über 150 Symptome in Verbindung gebracht. Frauen können eines oder mehrere dieser Symptome aufweisen, und das selbst dann, wenn sie keine Menstruation mehr haben. Im allgemeinen tritt PMS jedoch in den Dreißigern auf. Für die Mehrheit der Frauen sind die prämenstruellen Erscheinungen belastend, aber sie arrangieren sich damit. Der vorliegende Artikel konzentriert sich auf die mildere Form von PMS.
Nancy Reame, Forscherin an der Universität von Michigan, sagte, PMS werde in den Vereinigten Staaten als „ganzheitliches Gesundheitsproblem“ angesehen. Allerdings würden Art und Schwere der Symptome von Land zu Land erheblich voneinander abweichen. „Die einen berichten in erster Linie über ausgeprägte körperliche Symptome, während andere Kulturen mehr emotionale Symptome angeben“, erklärte sie. Sie hat in China Forschungen betrieben und führte die Chinesen als Beispiel an. „In der chinesischen Kultur werden emotionale Symptome nicht akzeptiert“, sagte sie, weshalb Frauen auf die Frage nach Menstruationsbeschwerden Krämpfe in den Vordergrund stellten.
Erste Erkenntnisse über PMS
Als erster erörterte 1931 ein New Yorker Arzt, Dr. Robert T. Frank, PMS in seiner Abhandlung „Die hormonellen Ursachen prämenstrueller Spannung“. Er beobachtete Frauen, die vor der Menstruation an Müdigkeit, Konzentrationsstörungen und nervöser Spannung litten.
Die englischen Ärzte Katharina Dalton und Raymond Greene veröffentlichten 22 Jahre später in einer medizinischen Fachzeitschrift einen Aufsatz über dieses Thema und prägten den Ausdruck „prämenstruelles Syndrom“. Frau Dr. Dalton bezeichnete PMS als die „am weitesten verbreitete und wahrscheinlich älteste Krankheit der Welt“. Ihre Erkenntnisse über die möglichen Auswirkungen von PMS auf das Verhalten von Frauen wurden 1980 bekannt. Sie und andere Ärzte wurden um ein medizinisches Gutachten für zwei des Mordes angeklagte Britinnen gebeten. Ihre Theorie lautete, das Verhalten einer Frau werde durch hormonelle Schwankungen im Verlauf des Menstruationszyklus beeinflußt. Gestützt auf die PMS-Diagnose, wurde die Mordanklage in beiden Fällen nicht aufrechterhalten. Bei einer der Frauen wurde die Anklage auf Totschlag abgeändert, weil man ihr „verminderte Zurechnungsfähigkeit“ zubilligte.
Destruktives Verhalten bei Frauen wie in den obenerwähnten Fällen tritt wohl nur sehr vereinzelt auf. Die Ursachen eines solchen Verhaltens und auch der milderen Beschwerden, die ein Großteil der Frauen um die Zeit der Menstruation verspürt, werden weiterhin auf den Seiten medizinischer und nichtmedizinischer Zeitschriften diskutiert.
Liegen alldem wirklich zyklische Hormonschwankungen im Körper der Frau zugrunde? Oder ist die Vorstellung von sich austobenden Hormonen und dem ungebärdigen weiblichen Körper bloß ein Mythos? Es gibt unterschiedliche Meinungen darüber, welche Auswirkungen, wenn überhaupt, Hormonschwankungen auf das Verhalten einer Frau haben. Viele Forscher und Ärzte sind sich darin einig, daß ein besseres Verständnis der Wechselwirkungen zwischen Gehirn und Eierstockhormonen während des Menstruationszyklus ein Schlüssel zu der Erkenntnis ist, warum manche Frauen an PMS leiden.
Der Menstruationszyklus
Etwa alle vier Wochen tritt der weibliche Körper in einen hochkomplizierten Zyklus hormoneller Veränderungen ein, zu dem die von vielen als lästig betrachtete Menstruation gehört. Der Ausdruck „Menstruation“ kommt von dem lateinischen Wort mensis, das „Monat“ bedeutet.
Der Zyklus beginnt damit, daß der zum Gehirn gehörende Hypothalamus ein Signal an die Hypophyse (Hirnanhangsdrüse) sendet. Sobald das Signal angekommen ist, schüttet die Hypophyse FSH (follikelstimulierendes Hormon) aus. FSH gelangt durch das Blut zu den Eierstöcken und löst die Produktion von Östrogen aus. Auf den erhöhten Östrogenspiegel reagiert die Hypophyse mit der Ausschüttung von LH (luteinisierendes Hormon). Durch LH geht die Sekretion von FSH zurück. Eine Eizelle reift und macht sich auf den Weg in die Gebärmutter. Nach dem Eisprung wird das Hormon Progesteron gebildet. Wird die Eizelle nicht befruchtet, sinkt sowohl der Östrogen- als auch der Progesteronspiegel rasch ab.
Da die hormonelle Unterstützung fehlt, löst sich die Gebärmutterschleimhaut ab, wobei Blut, Schleim und etwas Gewebe durch die Scheide ausgestoßen werden. Es dauert etwa drei bis sieben Tage, bis die Gebärmutter die Schleimhaut vollständig abgestoßen hat; damit ist ein Menstruationszyklus beendet. Gegen Ende eines Zyklus regt das Gehirn erneut zur Hormonproduktion an, und ein neuer Zyklus wird in Gang gesetzt.
Ein Kampf der Hormone?
Einige halten ein Ungleichgewicht zwischen Östrogen und Progesteron für die Ursache des prämenstruellen Syndroms. Sie behaupten, die Hormone würden normalerweise zusammenarbeiten, um ein vollkommenes Gleichgewicht zu erreichen. Werde dagegen von dem einen Hormon mehr produziert als von dem anderen, komme es zum Kampf, der den weiblichen Körper in Mitleidenschaft ziehe.
Ein erhöhter Östrogenspiegel könne Frauen reizbar machen. Bei anderen dagegen überwiege Progesteron, wodurch sie sich deprimiert fühlten und müde würden.
Andere Forscher widersprechen der Theorie, PMS werde durch ein hormonelles Ungleichgewicht hervorgerufen. Ihrer Meinung nach tragen psychologische und gesellschaftliche Faktoren entscheidend dazu bei, daß bei bestimmten Frauen prämenstruelle Erscheinungen auftreten. Die Zeitschrift Patient Care schrieb in einem Bericht über die Ursachen von PMS: „Bei Frauen mit einer schweren Form von PMS und bei solchen, die nicht darunter leiden, hat man keine deutlichen Unterschiede in bezug auf Zusammensetzung, Verhältnis, Menge oder zeitliche Abstimmung der Geschlechtshormone festgestellt.“
Offenbar kann das Auftreten von PMS-Symptomen durch Streß beschleunigt, verzögert oder verstärkt werden. In dem Buch PMS—Premenstrual Syndrome and You: Next Month Can Be Different heißt es: „Streß hemmt die Ausschüttung von Hormonen, und eine unzureichende Hormonzufuhr kann zu dem hormonellen Ungleichgewicht führen, durch das PMS-Symptome verschlimmert werden.“ Gesundheitliche, finanzielle oder familiäre Probleme scheinen vor der Menstruation unter Umständen größer zu sein und sind schwerer zu bewältigen.
Angst vor Stigmatisierung
Eine Reihe Forscher argumentieren, daß man zu der Auffassung gelangen könnte, Frauen mit menstruationsbedingten Symptomen entsprächen im Berufsleben oder was das Treffen von Entscheidungen anbelangt, nicht dem Idealbild. „So weist die Gesellschaft die Frauen in ihre Schranken. Wenn man einmal im Monat in seiner Leistungsfähigkeit beeinträchtigt ist, dann heißt das, daß man keine wichtigen, führenden, einflußreichen Posten bekleiden sollte“, meint die Psychologin Barbara Sommer.
Andere Forscher behaupten, Frauen würden PMS akzeptieren, weil sie damit eine Entschuldigung für ihr Verhalten hätten. In einem Interview mit der Zeitschrift Redbook sagte Dr. Carol Tavris (Autorin des Buches The Mismeasure of Woman), Frauen hätten durch PMS „die Möglichkeit zu fragen: ‚Was ist aus medizinischer Sicht an mir verkehrt?‘ statt: ‚Was ist an meinem Leben verkehrt, daß ich mich so elend fühle? ‘“
Psychiaterinnen vom Frauenausschuß der APA (Amerikanische Psychiatrische Gemeinschaft) kämpften 1985 gegen die Aufnahme von PMS in das Handbuch für Diagnostik und Statistik der APA. Im Anhang des aktuellen Handbuches (1987) wird PMS als „dysphorische Störung der abklingenden Lutealphase“ aufgeführt, doch eine Arbeitsgruppe der APA hat vorgeschlagen, die Bezeichnung „prämenstruelle dysphorische Störung“ in den laufenden Text der nächsten Ausgabe aufzunehmen. Durch die Aufnahme in das Handbuch würde das Leiden als psychische Störung anerkannt.
„Es hat in dem Buch überhaupt nichts zu suchen, weil es keine Geistesstörung ist“, sagt Dr. Paula Kaplan, ehemalige Beraterin der Arbeitsgruppe. „Das nächste Mal, wenn eine Frau für das Amt einer Justizministerin nominiert wird, fragt man sie am Ende: ‚Haben Sie prämenstruelle dysphorische Störungen? ‘“
Die Suche nach Abhilfe
In der Medizin wird das Thema PMS weiter diskutiert. Über die genaue Ursache und die Behandlung von PMS entstehen viele Theorien. Einige Ärzte sind der Ansicht, es gebe 18 Arten von PMS, von denen jede andere Symptome hervorrufe. Einer aktuellen Studie zufolge könnte Zink beim Auslösen prämenstrueller Erscheinungen eine Rolle spielen. Eine andere Studie läßt vermuten, daß ein Mangel an Vitamin B6 die Wurzel des Übels ist und bei manchen leichte Depressionen verursacht.
Auf der Suche nach Abhilfe probieren Frauen, die immer wieder unter prämenstruellen Erscheinungen leiden, die verschiedensten Behandlungen aus, wie zum Beispiel Lichttherapie, Schlafmanipulation, Entspannungstechniken, Antidepressiva und Progesteronzäpfchen. Bisher hat man allerdings noch keine durchweg wirksame Therapie entdeckt.
Frauen, die vor der Menstruation starke Beschwerden haben, sollten einen Arzt aufsuchen. Jeder Fall von PMS ist anders, und jeder Frau steht gutfundierter ärztlicher Rat und eine angemessene Betreuung zu. Da sich hinter PMS andere ernstzunehmende Leiden verbergen können, wie Schilddrüsenerkrankungen, Endometriose und Depressionen, ist eine ärztliche Untersuchung wichtig.
Es wird empfohlen, vor dem ersten Arztbesuch die prämenstruellen körperlichen und emotionellen Symptome in Tabellen oder in einem Kalender genau festzuhalten. Wenn eine Frau weiß, an welchen Tagen sie zu Verstimmtheit, Reizbarkeit oder Depressionen neigt, kann ihr das helfen, ihre Tätigkeiten entsprechend zu planen. Sie kann dadurch auch leichter feststellen, ob sie unter PMS leidet oder nicht.
Der Arzt rät ihr vielleicht, Streßfaktoren zu vermindern. Auch nährstoffreiche Kost und regelmäßige körperliche Betätigung kann bei PMS helfen. Eine kohlenhydratreiche, eiweißarme Ernährung hat gemäß einer Universitätsstudie bei einigen Frauen mit prämenstruellen Depressionen die Stimmung aufgehellt. Regelmäßiges Konditionstraining oder flotte Spaziergänge während des Tages können ebenfalls dazu beitragen, gegen Müdigkeit und Niedergedrücktheit anzukämpfen.
Natürlich können die Familienangehörigen, vor allem der Ehemann, eine Hilfe sein. Sie sollten sich Mühe geben, besonders nett, rücksichtsvoll und verständnisvoll zu sein, wenn der Frau der monatliche Zyklus zu schaffen macht.
Die Diskussion geht weiter
Manche halten es für unkorrekt, die normalen emotionellen und körperlichen Veränderungen, die eine Frau im Verlauf ihres Menstruationszyklus erlebt, als „Syndrom“ zu bezeichnen. Andere wollen PMS nicht akzeptieren, weil sie meinen, Frauen würden dadurch stigmatisiert.
Für eine Reihe von Frauen ist PMS jedoch etwas sehr Reales. Jeden Monat zeigen sich bei ihnen Symptome, die es ihnen schwermachen, Familie und Beruf zu bewältigen. Die Suche nach Abhilfe und Verständnis kann frustrierend sein, da viele Ärzte und Laien nach wie vor über die Realität von PMS diskutieren.
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