Was geschah nach dem Verbot?
DAS Verbot gegen Jehovas Zeugen trat Anfang September 1976 in Kraft. Beim Morgengrauen des 7. September traf die Bundespolizei im Auftrag des Innenministeriums im Zweigbüro der Zeugen Jehovas in Buenos Aires ein.
Die Polizei versiegelte die Druckerei, das Büro, die Versandabteilung und das Lager. Polizeiwachen wurden aufgestellt. Am gleichen Tag wurden etwa 600 Königreichssäle der Zeugen in ganz Argentinien geschlossen.
Die Freiheit ist vorbei
Seit dem Verbot ist in 38 Städten und Ortschaften die religiöse Unduldsamkeit aufgeflackert, angefangen von den nördlichen Provinzen Misiones, Formosa und Salta bis zu den südlichen Provinzen Río Negro, Chubut und Santa Cruz. Bis jetzt sind über 320 Personen verhaftet worden, unter ihnen viele ältere Männer und Frauen sowie kleine Kinder. Andere sind allein deshalb in Haft gehalten worden, weil sie Verwandte oder Freunde von Zeugen sind.
Steht dieses Vorgehen einer Nation an, die behauptet, für Freiheit einzutreten? Eine mutige Antwort darauf war in einem Leitartikel der in Buenos Aires erscheinenden Zeitung Herald unter der Überschrift „Religiöse Verfolgung“ zu lesen. Darin hieß es: „Diese Berichte [über die Verhaftung von Zeugen Jehovas] lassen vermuten, daß in Argentinien die größte religiöse Verfolgung seit seiner Geschichte als unabhängige Nation ausgebrochen ist. Das ist sehr bedauerlich und wird nicht im geringsten dazu beitragen, den Ruf Argentiniens in der übrigen Welt zu fördern.“
Weiter hieß es in diesem Leitartikel, daß die Maßnahmen der Regierung „der Welt das abscheuliche Schauspiel bieten, wie bewaffnete Polizisten Gebetsversammlungen auflösen, etwas, was man in Sowjetrußland als normal akzeptieren könnte, aber im pluralistischen Argentinien keinen Platz haben sollte“.
Doch dieses „abscheuliche Schauspiel“ hat stattgefunden. Im folgenden werden nur einige der Fälle erzählt, die einem erkennen helfen, wie es sich mit religiöser Verfolgung und Unduldsamkeit in Argentinien wirklich verhält.
Die Tatsachen sprechen für sich
„30 Zeugen gefangengenommen“, so lautete die Schlagzeile eines Zeitungsberichts vom 29. März 1978, der in Andalgalá (Provinz Catamarca) veröffentlicht wurde. Ramón Alvarez, Angehörige seiner Familie und eingeladene Gäste waren nach dem Schlußgebet der jährlichen Abendmahlsfeier verhaftet worden. Sie wurden sechs Tage lang festgehalten. Sowohl Männer als auch Frauen mußten die erste Nacht im Innenhof der Polizeiwache verbringen. Ihre Bibeln und biblischen Schriften wurden beschlagnahmt.
In Mar del Plata, einem beliebten Urlaubszentrum am Meer, studierten gerade 19 Erwachsene und 3 Minderjährige die Bibel, als plötzlich 15 Polizisten in die Wohnung stürmten und allen befahlen, mit erhobenen Händen das Haus zu verlassen. Hector Mariño und andere Erwachsene wurden 45 Stunden lang festgehalten. Als vier andere Zeugen mit Kleidung und Nahrung für ihre Freunde kamen, wurden sie ebenfalls verhaftet. Ein Mann, der kein Zeuge war, erklärte: „Ich bin stolz, daß mein Vater ein Zeuge Jehovas ist.“ Darauf wurde auch er verhaftet.
Ein besonders schlimmer Fall ereignete sich in Puerto Rico (Provinz Misiones). In diesem Ort wurden 16 Erwachsene, die Eltern von Schülern, die wegen der Fahnengrußfrage von der Schule verwiesen worden waren, ins Gefängnis gesperrt. Dort mußten sie 55 Tage in der Gesellschaft aller möglichen Gesetzesbrecher zubringen. Den Vätern unter den Verhafteten wurde dadurch die Möglichkeit genommen, für den Lebensunterhalt ihrer Familie zu arbeiten. Die eingesperrten Mütter waren gezwungen, ihre kleinen Kinder der Obhut anderer christlicher Familien zu überlassen.
In einem weiteren Ort der gleichen Provinz durchsuchten Soldaten die Wohnungen von Zeugen und beschlagnahmten ihre Literatur, darunter auch Bibeln, die nicht von Jehovas Zeugen herausgegeben worden waren. Die Polizei verhaftete 15 Personen, von denen eine gar kein Zeuge war, sondern nur ihre Schriften besaß. Andere Wohnungen in der Nähe wurden von Soldaten aufgesucht. Sie drohten, jeden zu verhaften, der nicht sämtliche Wachtturm-Schriften, die er besaß, verbrannte.
Der Polizeichef von Pirané (Formosa) holte den Zeugen Mosconi aus seiner Wohnung, brachte ihn an den Stadtrand und warnte ihn, er würde ins Gefängnis gesteckt, falls er es wagen sollte, in seine Wohnung zurückzukehren. In der gleichen Provinz drangen bewaffnete Soldaten schlagend und fluchend in die Wohnung einer siebenköpfigen Familie ein, verhafteten alle und hielten sie drei Tage lang in Haft.
In Villa Constitución (Santa Fe) wurde eine Privatwohnung durchsucht. Schriften wurden beschlagnahmt, darunter auch Bibeln, die von anderen Religionsgemeinschaften gedruckt worden waren, und alle Anwesenden wurden aufgefordert, sich auf die Polizeiwache zu begeben. Sie wurden gewarnt, daß sie mit 10 Jahren Gefängnis bestraft werden könnten, wenn man wieder Literatur der Zeugen bei ihnen fände.
In Córdoba wurde ein Zeuge für 13 Tage eingesperrt. Er mußte lange Verhöre über sich ergehen lassen, und oft wurden ihm die Augen verbunden, so daß er diejenigen, die ihn verhörten, nicht erkennen konnte.
Señora Luisa Moretti und eine Begleiterin wurden in Bahía Blanca von der Polizei 10 Tage lang in Haft gehalten. Ihr Verbrechen? Sie hatten sich mit anderen über die Bibel unterhalten.
Ganz im Süden, in Pico Truncado (Santa Cruz), wurde die Wohnung eines Zeugen durchsucht. Seine biblischen Schriften wurden beschlagnahmt. Danach hielt man ihn fünf Tage lang in Einzelhaft.
In Las Catitas (Mendoza) wurde ein Zeuge von seiner Arbeitsstelle abgeführt, um von der Polizei verhört zu werden. Als seine Antworten die Polizei nicht zufriedenstellten, wurde er ins Gesicht geschlagen, bis er blutete.
Keine subversiven Elemente
Welches Beweismaterial fand die Polizei, als sie Privatwohnungen durchsuchte oder das Zweigbüro und die Zusammenkunftsstätten der Zeugen in ganz Argentinien schloß? NICHT EINE EINZIGE WAFFE WURDE GEFUNDEN, NICHT EINE EINZIGE SUBVERSIVE SCHRIFT!
Außerdem leistete keiner der Zeugen Widerstand. Auch bekundeten sie in keiner Weise einen Mangel an Respekt gegenüber der Polizei und anderen Vertretern der Obrigkeit.
Unter den 33 000 aktiven Zeugen Jehovas in Argentinien ist NICHT EIN EINZIGER SUBVERSIVER gefunden worden!
Das ist für Personen, die Jehovas Zeugen kennen, auch gar nicht überraschend. Jehovas Zeugen richten ihr Leben nach den christlichen Grundsätzen aus, die in der Bibel dargelegt sind, ja die Bibel ist das Hauptlehrbuch der Zeugen in allen Ländern der Welt. Nach den Grundsätzen der Bibel zu leben ist gewiß nicht subversiv. Doch in Argentinien wird es jetzt als ein Verbrechen angesehen, dieses heilige Buch zu studieren und mit anderen darüber zu sprechen!
Die Arbeitsstelle verloren
Dutzende von Zeugen haben seit dem Verbot ihre Arbeitsstelle verloren. Schulbehörden wurden angewiesen, sämtliche Lehrer zu entlassen, die nicht an Zeremonien wie dem Fahnengruß teilnehmen.
In der Provinz Buenos Aires wurde Señora Enriqueta Domínguez, eine Aushilfslehrerin, innerhalb von 48 Stunden entlassen. In einer anderen Schule wurde Señora Elsida DaCosta ihrer Stellung als stellvertretender Schulleiter enthoben.
Señora Beatriz Muñoz war Leiterin eines Kindergartens und hatte bereits 24 Jahre lang als Lehrerin in der westlichen Provinz Mendoza gearbeitet. Sie ist eine Witwe und hat zwei kleine Kinder. Sie wurde jedoch auf der Stelle entlassen, als sie in einen patriotischen Eid, den sie unterzeichnete, eine Bedingungsklausel einfügte.
Señora Mercedes D’Alesandro, die bei der staatlichen Telefongesellschaft arbeitet, wurde ebenfalls entlassen. Die Zeugen Román und Fernández verloren ihre Arbeit in der Stadtverwaltung von Buenos Aires. Ernesto Navarro und Jorge Brun, Zivilangestellte in der Provinzstrafanstalt von Tucumán, wurden entlassen, ohne für ihre vielen Jahre des Dienstes entschädigt zu werden. Dieser Liste könnten noch viele weitere Fälle hinzugefügt werden.
Von der Schule verwiesen
Über 300 Kinder sind von der Schule verwiesen worden, oder es ist ihnen die Aufnahme in öffentliche und private Schulen verweigert worden. In einigen Orten haben jedoch Bundesrichter diese notorische Diskriminierung verurteilt und die Wiederaufnahme von Kindern der Zeugen angeordnet. Kürzlich hat das Oberste Bundesgericht den Ausschluß eines Schülers allein aufgrund seiner Religionszugehörigkeit für illegal erklärt.
Unter den rechtlichen Schriftsätzen, die zur Verteidigung von jugendlichen Zeugen Jehovas eingereicht worden sind, befindet sich das folgende sehr interessante Zitat eines bedeutenden argentinischen Sachverständigen für Verfassungsrecht: „Wenn jeder das Recht auf Meinungsäußerung hat, hat er auch das entsprechende [Recht], sich einer Äußerung zu enthalten, die nicht seine Überzeugung oder seine Wünsche widerspiegelt ... Manchmal kann schon die Forderung der Anwesenheit einer Person bei einem Akt eine willkürliche Ausübung von Zwang auf eine Person sein, um sie zu veranlassen, wenn auch nur passiv, an einer Zeremonie oder einer anderen Verrichtung teilzunehmen, mit der sie nicht übereinstimmt; das ist eine Verletzung der Freiheit, sich nicht zu äußern. Die Auferlegung der Pflicht, einen Eid zu leisten, der der religiösen Überzeugung und dem Gewissen einer Person widerspricht, hat die gleiche Folge und ist ein willkürlicher Grundsatz“ (Manual de Derecho Constitutional [Handbuch des Verfassungsrechts], Seite 220/221:355).
Einige Schüler unter Jehovas Zeugen hofften, nach ihrem Ausschluß ihre Abschlußprüfung vor einer besonderen Kommission machen zu können. Doch dieses Recht wurde ihnen ebenfalls verweigert, da die Unterrichtsbehörde der Provinz Misiones erklärt hatte: „Eine solche Prüfung ist nicht gestattet, wenn die Schüler zur Religion der ,Zeugen Jehovas‘ gehören.“
Es ist eine Ironie, daß die öffentlichen Schulen in ganz Argentinien das Motto tragen: „DIOS, PATRIA, Y HOGAR“ („GOTT, VATERLAND UND HEIMAT“). Den Schulkindern unter Jehovas Zeugen wird jedoch die Schulbildung versagt, weil sie Gott tatsächlich an die erste Stelle setzen, wie es in dem Slogan heißt.
Strengere Bestrafung
In den meisten demokratischen Ländern besteht die gesetzliche Möglichkeit, Wehrdienstverweigerer von der militärischen Ausbildung zu befreien.
Doch am 17. Februar 1977 nahm Argentinien einen neuen Artikel in das Militärgesetzbuch auf. Wehrdienstverweigerer erhalten nicht nur die übliche Gefängnisstrafe für die Weigerung, Waffen zu tragen (Jehovas Zeugen bekamen gewöhnlich dreieinhalb Jahre Gefängnis), sondern müssen jetzt auch mit ständigem Berufsverbot, was staatliche und öffentliche Dienste betrifft, sowie mit dem Verlust aller bürgerlichen Rechte rechnen.
Das bedeutet, daß jemand, der sich weigert, das Töten zu lernen, härter bestraft wird als gewöhnliche Verbrecher, die töten, das Eigentum anderer zerstören und andere schändliche Verbrechen begehen!
Das „Vergehen der Apologie“
Im Mai 1977 wurden Charles Eisenhower, Zweigkoordinator der Watch Tower Society, der seit 1948 in Argentinien lebt, und der in Argentinien geborene Lucio Antonuccio, ein Ältester der Zeugen Jehovas, vom Militärrichter Alberto Martínez vorgeladen. Der Richter stellte ihnen Fragen über einen jungen Zeugen, der den Militärdienst verweigert hatte. Später wurden sie von einem Bundesgericht vorgeladen, um Erklärungen über die Glaubensansichten der Zeugen Jehovas abzugeben.
Als Folge dieser Anhörungen wurden sie des „Vergehens der Apologie“ für schuldig befunden und zu drei Monaten bzw. drei Jahren Gefängnis verurteilt. Das Urteil wurde in zweiter Instanz aufrechterhalten.
Was versteht man unter dem „Vergehen der Apologie“? In Webster’s Third New International Dictionary wird „Apologie“ wie folgt definiert: „Etwas, was jemand sagt oder schreibt, um etwas zu verteidigen oder zu rechtfertigen, was anderen als verkehrt erscheint“ (Kursivschrift von uns).
In Argentinien scheint es somit neuerdings ein Verbrechen zu sein, seine biblisch begründeten Glaubensansichten vor Gericht zu verteidigen!
Es muß hier erwähnt werden, daß Charles Eisenhower den erwähnten Wehrdienstverweigerer bis zu dem Tag, an dem er ihm im Militärlager begegnete, noch nie gesehen hatte. Lucio Antonuccio, der Cousin des Häftlings, hatte mit ihm die Bibel studiert, ihm aber nie bezüglich des Militärdienstes Rat gegeben.
Besteht angesichts all dieser Tatsachen irgendein Zweifel daran, daß Jehovas Zeugen in Argentinien das Opfer einer heftigen, boshaften religiösen Unduldsamkeit geworden sind?
Was kann man dagegen tun? Ja, was kannst DU dagegen tun?
[Karte auf Seite 13]
(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)
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Argentinien
ERWÄHNTE STÄDTE (UND PROVINZEN), IN DENEN VERHAFTUNGEN VORGEKOMMEN SIND
1. Salta (Salta)
2. Pirané (Formosa)
3. Puerto Rico (Misiones)
4. Tucumán (Tucumán)
5. Andalgalá (Catamarca)
6. Santiago (Santiago del Estero)
7. Córdoba (Córdoba)
8. Concordia (Entre Ríos)
9. Villaguay (Entre Ríos)
10. Villa Constitución (Santa Fe)
11. Las Catitas (Mendoza)
12. Mar del Plata (Buenos Aires)
13. Bahía Blanca (Buenos Aires)
14. Pico Truncado (Santa Cruz)
15. Buenos Aires, Hauptstadt