Die Müllawine — Werden wir darunter begraben?
ES IST ein merkwürdiges Paradoxon. In unserer Generation ist der Mensch zum Mond und zurück geflogen. Man hat supermoderne Satelliten, die über hochauflösende Kameras verfügen, Milliarden von Kilometern in den Weltraum geschickt, um Nahaufnahmen von fernen Planeten zu erhalten. Der Mensch ist in die Tiefe des Ozeans vorgestoßen, hat versunkene Schiffe aus vergangenen Zeiten geortet und dadurch Schätze einer längst vergessenen Ära zum Vorschein gebracht. Man hat sich das verschwindend kleine Atom nutzbar gemacht — sowohl zum Segen des Menschen als auch, um ganze Städte samt Einwohnern auszuradieren. Auf ein paar winzigen Siliziumchips, nicht größer als ein Fingernagel, kann der Text der gesamten Bibel gespeichert und sofort abgerufen werden. Doch gleichzeitig ist der Mensch mit seiner unermeßlichen Befähigung und Intelligenz nicht imstande, mit seinem eigenen Hausmüll fertig zu werden und so seiner Generation die Angst zu nehmen, lebendig darunter begraben zu werden.
Betrachten wir zunächst das Mülldilemma der Vereinigten Staaten. Wie verlautet, produzieren die Amerikaner täglich über 350 000 Tonnen Müll. Jährlich fallen, Klärschlamm und Bauschutt nicht mitgerechnet, 150 Millionen Tonnen Abfall an — „genug, um auf 1 000 Fußballfeldern 30 Stockwerke hoch Müll aufzuhäufen, genug für einen dichtgedrängten Konvoi von Müllwagen, so lang wie die halbe Strecke zum Mond“, berichtete die Newsweek. Über 90 Prozent des Mülls werden zu Deponien gebracht, bis sich Abfallberge hundert Meter oder mehr über dem Boden erheben.
Die Stadt New York verfügt über die größte städtische Mülldeponie der Welt — 800 Hektar auf der New Yorker Insel Staten Island. Jeden Tag werden 22 000 Tonnen Abfall von etlichen Schiffen rund um die Uhr zu diesem Müllgebirge gebracht. Bis zum Jahr 2000 würde es schätzungsweise „anderthalbmal so hoch sein wie die Freiheitsstatue und mehr Volumen haben als die größte Pyramide Ägyptens“. Man nimmt an, daß die Deponie bei ihrer Schließung innerhalb der nächsten zehn Jahre eine Höhe von 150 Metern erreicht haben wird. Als David Dinkins, der Bürgermeister von New York, sein Amt antrat, wurde er vom Beauftragten für Abfallbeseitigung mit den Worten empfangen: „Willkommen im Rathaus! Übrigens gibt es hier keinen Platz für Abfall.“
„Jede Großstadt der Vereinigten Staaten hat Entsorgungsprobleme“, sagte ein Experte. „Die Deponien Amerikas werden immer voller, und man legt keine neuen an“, hieß es im U.S.News & World Report. „Bis 1995 wird die Hälfte der vorhandenen Müllkippen geschlossen sein. Viele sind nicht umweltgerecht.“
Man schätzt, daß ein Kalifornier im Jahr durchschnittlich 1 100 Kilo Abfall produziert. „Im Kreis Los Angeles häufen wir genug Müll an, um das Dodger-Stadion etwa alle neun Tage damit zu füllen“, sagte ein Umweltexperte. Die Deponien in Los Angeles sollen 1995 erschöpft sein. Was dann? fragen die Bürger. Doch der Tag der Abrechnung kommt vielleicht schneller als erwartet, wie ein kalifornischer Umweltschützer andeutete: „Bei uns fahren Müllwagen jeden Tag um die Stadt herum, ohne einen Platz zum Abladen zu finden.“
Der Stadt Chicago steht die Schließung ihrer 33 Müllgruben in der ersten Hälfte unseres Jahrzehnts bevor. Andere müllgeplagte Großstädte fahren ihren Abfall einfach über die bundesstaatlichen Grenzen zu anderen Deponien. Die Empfänger sind allerdings aufgebracht darüber, den unerwünschten Müll anderer zu erhalten. Rund 25 000 Tonnen Müll werden täglich auf der Suche nach Abladeplätzen über Amerikas Hauptverkehrsstraßen transportiert. New York, New Jersey und Pennsylvanien sollen alljährlich sieben Millionen Tonnen Müll exportieren. Eine kostspielige Entsorgung! „Schlimmer noch ist“, schreibt die Newsweek, „daß einige Lastwagen, die Fleisch und Gemüse nach Osten transportieren, auf der Rückfahrt nach Westen madige Abfälle befördern.“ Der Kongreß erwägt, dies wegen der offensichtlichen Gesundheitsgefahren zu verbieten.
Die Müllkrise beschränkt sich jedoch nicht auf die Vereinigten Staaten. Andere Länder sind ebenfalls von der Müllflut bedroht. Zum Beispiel versucht Japan, gegen dieses Problem anzukämpfen. Man schätzt, daß Tokio und drei Nachbarstädte bis zum Jahr 2005 3 Millionen Tonnen Abfall zuviel haben werden. Auch sie müssen exportieren. „Müll ist ein japanisches Exportgut ohne Nachfrage“, schrieb ein Autor.
Manche Länder leiden zwar nicht unter dem Problem der Hausmüllentsorgung, wissen aber dafür nicht, wohin mit ihren Industrieabfällen. Länder mit riesigen Müllverbrennungsanlagen produzieren Tausende von Tonnen Asche, die zum Teil hochgiftig ist. „Nicht in meiner Nähe!“ protestieren immer mehr Bürger, wenn es um Entsorgung in ihrer Umgebung geht. Wohin mit dem Müll? ist für die Betroffenen eine bestürzende Frage. Schiffe mit Tausenden von Tonnen Giftmüll durchfahren die Meere auf der Suche nach Abladeplätzen an fremden Küsten. Oft werden sie wieder fortgeschickt. Überall heißt es: „Nicht in unserer Nähe!“
In den letzten Jahren sind Entwicklungsländer zur Müllhalde für Tausende von Tonnen unerwünschter Abfälle geworden. Ein Teil wurde einfach skrupellos auf dem offenen Land abgeladen. „In Europa und Amerika hat man erkannt, daß die eigene Umwelt geschützt werden kann, indem man das Land anderer verschmutzt“, hieß es im World Press Review.
In der Welt vom September 1988 wurde berichtet, daß Zürich überschüssigen Müll nach Frankreich exportiert und daß Kanada, die Vereinigten Staaten, Japan und Australien in Osteuropa Abnehmer gefunden haben.
Es ließen sich noch viele Beispiele anführen. „Die Müllkrise unterscheidet sich von allen anderen Krisen“, sagte ein US-Beamter. „Bei einer Dürre drosselt man den Wasserverbrauch. Aber in dieser Krise produzieren wir einfach noch mehr Müll.“
[Herausgestellter Text auf Seite 4]
„Genug für einen dichtgedrängten Konvoi von Müllwagen, so lang wie die halbe Strecke zum Mond“
[Herausgestellter Text auf Seite 5]
„Müll ist ein japanisches Exportgut ohne Nachfrage“